Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Frage des Pelzhändlers

(1929)

Vor mehreren Jahren bin ich von Königsberg nach Berlin in der Gesellschaft eines sibirischen Pelzhändlers gereist, ganz gewiß eines der merkwürdigsten Menschen, mit denen mich der Zufall zusammen führte. Er war von deutschen Eltern in Riga geboren, hatte sein Vaterland vor dem Krieg nie gesehen und – wie er gestand – fast vergessen, obwohl er mit baltischer Geläufigkeit sprach und die deutsche Staatsangehörigkeit nie aufgegeben hatte.

Dieser Mann, der im Bereich der Kalmücken und Tungusen erfahrener als in unsern deutschen Dingen war, stellte mir schließlich eine Frage, die ich ihm nicht zu seiner Befriedigung beantworten konnte. Wie kommt es, fragte er – nicht um zu reden, sondern weil ihn die Frage anging –, daß wir Auslandsdeutschen uns vor dem Krieg so wenig um das Vaterland gekümmert haben, ihm aber jetzt – wenigstens wir in Sibirien – mit Leidenschaft anhängen?

Wie gesagt, ich habe ihm die Frage damals nicht nach Wunsch beantworten können. Nein, sagte er immer wieder kopfschüttelnd, da muß noch etwas anderes sein, das ich nicht sehe und das doch wohl das Entscheidende ist!

Wenn ich nachträglich eine Antwort versuche, bin ich nicht gewiß, ob sie meinem Pelzhändler genügen würde. Wer wie ich nur vorübergehend im Ausland und dann auch nur in der Schweiz, in Frankreich und Italien war, kann einem solchen Mann natürlich nur Vermutungen sagen. Immerhin, da es eine Frage des Volkstums ist, muß ich den Stachel der Antwort los werden.

Daß der versprengte Auslandsdeutsche – nicht der Siedler – sich lascher zu seinem Volkstum verhielt als die Angehörigen der andern Kulturvölker, ist viel bemerkt worden. Wenn aber der Pelzhändler recht hatte mit seiner Meinung, wofür sich leicht Zustimmungen sammeln lassen müßten, so hätte sich durch den Krieg etwas an seiner Verhaltung zum Vaterland gewandelt, was ebensowohl an seiner veränderten Stellung in der Welt wie am Vaterland liegen könnte.

Nun läge es nahe, in der Umwandlung unserer Monarchien zu Republiken als der sichtbarsten Veränderung des Vaterlandes den Grund für die andere Verhaltung zu suchen. Aber dergleichen wies der Pelzhändler spöttisch zurück als die Antwort, die er sich selber hätte geben können, wenn sie stichhaltig wäre. Er war durchaus der Mann, dem man gründlicher kommen mußte, wie ich es nun versuchen will:

Es ist die Lebensfrage eines Volkes, ob seine Natur durch einen Staat, in dem es sich seine Form gibt, gesichert wird oder nicht. Uns Deutschen war diese Sicherheit im Frieden von Münster und Osnabrück zerschlagen worden. Ein Staatengebilde, in dem die einzelnen Fürsten das Recht erlangt hatten, gegen Kaiser und Reich Bündnisse mit fremden Mächten zu schließen, hatte seinen Zusammenhalt verloren. Mit der Reichsherrlichkeit war auch das Volksgefühl in das Flickwerk der Länder zersplittert worden. Seit dem siebzehnten Jahrhundert gab es in Deutschland nur noch Untertanen der einzelnen Fürsten; erst unsere Denker und Dichter gaben uns wieder ein gemeinsames Volksgefühl. Die Befreiungskriege, die Paulskirche und die Kaiserkrönung zu Versailles waren Versuche, die durch sie geweckte Sehnsucht des Volkes von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt nach einer gemeinsamen Form, nach einem Staat zu erfüllen.

Seit Bismarck hatten wir wieder ein Deutsches Reich; aber nur Selbstzufriedenheit konnte sich darüber täuschen, daß es für die Gesamtheit des deutschen Volkes ein Notdach war, das nicht nur die deutschen Österreicher im Schneckenhaus der Habsburger ließ, sondern auch die Reichsdeutschen nicht gleichmäßig deckte. Die preußische Hand hatte zusammen gerafft, was sie vermochte; aber das Bundesgebiet des Bismarckschen Reiches mit seinen zweiundzwanzig monarchischen und drei republikanischen Staaten samt dem Reichsland Elsaß-Lothringen war ein Kompromiß: an der Volksidee des Deutschlandliedes gemessen keine aus der Natur des Volkes gewachsene, sondern eine aus dem Preußentum aufgezwungene Form. Und dies ist unsere politische Schuld, daß wir uns als Volk mit dem Notdach begnügten.

Denn der Gegensatz zwischen Preußen und Österreich, der in der Mainlinie liegen blieb, war im Untergrund der Zwiespalt zwischen dem protestantischen und katholischen Deutschen. Indem der protestantische Preuße im neuen Reich die Vormacht wurde, erbte er den alten Streit zwischen Kaiser und Kirche in der neuen Form des Kulturkampfes; dessen Schreckbild stand für viele über dem kommenden Großdeutschland, das nur sein konnte, wenn das gemeinsame Volkstum stark genug war, dem Zwiespalt die Brücke zu bauen. Dazu konnte kein Blut und Eisen nützen.

Daß ein so urdeutscher Mann wie Wilhelm Raabe sich nicht in die neue Reichsherrlichkeit hinein zu finden vermochte, daß er »im alten Eisen« grollte, deutet vielleicht am vorsichtigsten an, in welcher inneren Stellung sich der Auslandsdeutsche zur deutschen Neuzeit befand. Er hatte keinen im Staat fest beschlossenen Volkskörper verlassen wie der Engländer oder Franzose; er war nicht nur aus wirtschaftlicher Not, sondern auch aus tiefem Verdruß an den Zuständen des Vaterlandes fortgegangen: er lebte draußen sozusagen das Deutschtum der alten Landsmannschaften auf eigene Faust fort. Schließlich hatte es nicht umsonst im Bundesreich Jahrzehnte lang als ein mit Gefängnis bestraftes Verbrechen gegolten, wenn einer sich zum deutschen Vaterland bekannte; und so leicht konnte das Gedächtnis einer zweihundertjährigen Untertanenschaft nicht ausgelöscht werden.

Wenn es schon für die Wilhelm Raabes im Reich schwer war, sich mit der neuen Zeit abzufinden, so gewiß für die draußen, die in andern Sätteln saßen und in allem zunächst nur ein politisches Spiel Bismarcks sahen. Volkstümlich wurde der Eiserne Kanzler erst, als er siegreich aus Versailles heimkehrte; ebenso, wie dann erst die Beliebtheit seines greisen Königs begann. Bis dahin waren sie beide, der preußische Junker und der Kartätschenprinz, verhaßt gewesen. Erst ihr gesegnetes Alter und die Treue, die sie einander hielten, woben den Sagenschatz der Liebe um sie, mit denen das Volk seine Großen belohnt. Ihre menschliche Haltung war so bezwingend, daß der Staat, den sie schufen, auch bei den Auslandsdeutschen volkstümlich zu werden begann.

Noch die Märztage 1890, so erschütternd sie durch die Umstände der Entlassung Bismarcks waren, wirkten im Stil großer Dinge. Seitdem der Kanzler begraben lag, begann der Verfall, der zunächst kein sichtbarer Verfall der politischen Geltung, aber der Volkstümlichkeit war. Das Reich um die Jahrhundertwende hatte keine Gestalt mehr, an die sich Liebe hängen konnte. Es stand machtvoll und scheinbar gesichert da, der Wohlstand fing an, Reichtum zu werden, aber die große Zeit war fühlbar vergangen. Von der Verdrossenheit, die im Reich ihre schleichenden Wege zu suchen begann, konnte wenig Anziehungskraft mehr zu den Auslandsdeutschen hinaus gehen.

Niemand, der den Aufbruch von 1914 mit wachen Augen erlebte, kann den Aufbruch aus der Verdrossenheit darin übersehen haben. Ein Etwas in den Jünglingen und Männern, die zu den Fahnen des Vaterlandes strömten, warf sich hin, ein anderes Dasein als das nun vergehende zu erringen, um so – nach gewaltigen Taten und unsäglichen Leiden – in die deutsche Schicksalsgemeinschaft einzugehen, die nach dem Schmachfrieden von Versailles auch die Auslandsdeutschen umfaßte.

Denn aus dem ehrlichen Krieg der Soldaten war, von England geschürt, ein Krieg der Völker, nicht mehr mit redlichen Waffen entstanden. Der Haß wurde gepeitscht gegen alles, was deutsch war, Hunnen und Feinde der Kultur hießen wir rund um den Erdball. Ob der Auslandsdeutsche an ein paar neutralen Stellen der Welt vor der Verfolgung um seines Volkstums willen gesichert saß, den Haß mußte er überall spüren. Schon lange, bevor der böse Herbst 1918 unser Schicksal besiegelte, waren wir eine Schicksalsgemeinschaft der Verachtung.

Als die Ausgestoßenen der Welt kamen wir in die Stacheldrahtzäune von Versailles, und jeder, der sein deutsches Blut bekannte, machte den Marterweg mit. Selbst den Pelzhändler bei den Tungusen traf es; und als das angemaßte Strafgericht aus war, hatte das Reich mehr als den Krieg verloren: Das Vaterland, nicht nur der Staat, lag am Boden, die Mutter war geschwächt und jeder Deutsche in der Welt mit ihr verachtet.

Wie im Körper die schützenden Säfte den gefährdeten Stellen zuströmen, so geschieht es im Organismus des deutschen Volkes. Der Haß gegen alles Deutsche rief das Blut zur Volksgemeinschaft. Die Natur blieb dem Pelzhändler die Antwort nicht schuldig auf seine Frage.

Und wenn ich noch zweifeln wollte, ob darin nicht doch noch eine Selbsttäuschung sei: der Mann aus Sibirien nahm dem Zweifel auch den letzten Schlupfwinkel, als er sich bitter über den Zwiespalt beklagte, den er nicht draußen, sondern im Mutterland fände. Denn er, nur in den Zwang seines Blutes gestellt, sah die Einfalt des Schicksals, die wir uns bestritten: daß wir als Volk vom Schicksal geschlagen waren, um endlich wieder zur Form gehämmert zu werden. Die Form des deutschen Volkes war das Bismarcksche Reich noch nicht, wie die Verfassung von Weimar im grausamen Zwang des zweiten Versailles nur ein Notdach sein konnte. Das Reich der Deutschen müssen wir nun erst zu bauen beginnen, und Wehe über jeden Tag, da sich die Bauleute streiten!


 << zurück weiter >>