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(1925)
Daß wir Deutschen, und zwar wir Deutschen allein, im siebzehnten Jahrhundert anfingen, das Weihnachtsfest unter einem lichtgeschmückten Tannenbaum zu feiern, galt zunächst für eine aufkommende Unsitte, die mit kirchlichen und polizeilichen Verboten belegt war. Wenn unsere Kinder strahlenden Auges in die Kerzen hinein: »Vom Himmel hoch« singen, so haben sie also ein Erlebnis, das den Kindern Martin Luthers noch unbekannt war, trotzdem er ihnen dieses Christmettelied sang. Noch in meiner Jugend kannten die katholischen Kinder Gerresheims den Weihnachtsbaum nicht.
Es handelt sich, merkwürdig genug, um einen Brauch, der sich erst in den letzten Generationen des deutschen Volkes ausbildete und dessen Herkunft uns deshalb bekannt sein sollte. Eben das ist durchaus nicht der Fall. Die viel zitierte Stelle etwa aus dem »Narrenschiff« verspottet nur die neumodische Sitte, zu Neujahr die Häuser mit Tannenreisig zu schmücken: einen Weihnachtsbaum kannte Sebastian Brant nicht.
Weihnachten selber ist, wie der Name sagt, ein Fest germanischer Herkunft. »Ze wihen Nahten«: zu den geweihten Nächten meint die zwölf innersten Nächte des Winters, mit denen der neue Jahreslauf begann. Sie waren den Mächten geweiht, die der Finsternis die Wiederkehr des Lichtes abrangen. Dieses uralte Fest der Wintersonnenwende ist von der Kirche auf die Geburt des Christ umgedeutet worden, zu deren Lobpreisung nun die Lichter am Tannenbaum brennen. Daß sie ein Jahrtausend lang nicht brannten, zeigt aufs gewisseste an, daß die Kirche sie nicht ansteckte; im Gegenteil hat sie die Kerzen wieder ausblasen wollen, weil sie darin etwas Heidnisches, ihr Feindliches witterte.
Nun ist es eben so gewiß, daß unsere germanischen Vorfahren noch keinen Lichterbaum kannten; woher hätten sie die Kerzen nehmen sollen, die ihnen danach erst die römischen Mönche mitbrachten? Nur das Tannenreisig, mit dem sie zu Weihnachten ihre Häuser schmückten, war ihnen durch seine Immergrünheit gegeben. Was bei ihnen zur Wintersonnenwende brannte, war der Julklotz, mit dem das Herdfeuer für das neue Jahr angesteckt wurde. Als sich sein Feuer nach dem Dreißigjährigen Krieg in das Licht der Kerzen verwandelte und in evangelischen Gegenden Deutschlands die Weihnachtsbäume zu leuchten begannen, galten sie natürlich dem geborenen Christ; dennoch trat damit ein Sinnbild zutage, dessen Sieghaftigkeit nur aus der germanischen Mythologie zu deuten ist.
Wir Deutschen haben nicht das Glück gehabt, unsere Götter wie die Griechen in unsere nationale Bildung hinein nehmen zu können; sie sind uns durch das Christentum ins Höllische abgedrängt worden. Erst die mit den Brüdern Grimm einsetzende deutsche Altertumskunde hat uns aus Bräuchen und Sagen ein ungefähres Bild der germanischen Mythologie rekonstruiert. Dies wäre nicht möglich gewesen, wenn die Götter nicht in zahllosen Gebräuchen ein verhehltes Dasein geführt hätten, freilich auch nicht ohne die überlieferten Bruchstücke germanischer Weltanschauung in der Edda.
In dieser Weltanschauung gibt es nichts Auffälligeres als Ygdrasil, den Welteschenbaum, in dessen Zweigen die Götter und Menschen wohnen. Wenn wir uns diesen Welteschenbaum aus unserer Wirklichkeit vorstellen wollen, kommen wir nicht über die Kindlichkeit der Anschauung fort; aber wir brauchen nur der Deutung Otto Siegfried Reuters zu folgen, um von der Größe seiner Anschauung durchschauert zu werden. Es gibt für unsere Augen nichts Größeres als den Sternenraum, und eben den deutet Reuter als Ygdrasil, in dessen lichterfüllte Krone die Germanen hinauf staunten wie wir. Wenn unserer Anschauung der Stamm fehlt, durch den dieser Raum zum Baum wird, so erinnert uns Reuter an die Achse, um welches sich alles Gestirn dreht: die Achse von den Füßen des Beschauers zum Polarstern, die sich dem im Sternhimmel bewanderten Blick zeigt, welchen Blick die Germanen laut allen Nachrichten im ungewöhnlichen Maß besaßen. In dieser Weltbaumkrone Ygdrasils war allerdings für Götter und Menschen Raum, darin zu wohnen.
Und dies ist das Wunder des Weihnachtsbaums, der mit dem siebzehnten Jahrhundert in deutschen Landen zu leuchten begann, daß er unwiderstehlich an den Sternhimmel erinnert; wie die Sterne draußen im unendlichen Raum stehen die Lichter innen auf den grünen Zweigen. Es ist keine Phantasterei, ihn als Sinnbild des Welteschenbaums anzusprechen, um so weniger, als in einigen Gegenden Deutschlands der Brauch besteht, den Weihnachtsbaum an der Decke aufzuhängen und ihm unten einen Apfel anzustecken: einen Apfel, der, wie der Reichsapfel dartut, das Sinnbild der irdischen Welt ist. Über der runden Winzigkeit der Erde wölbt sich der strahlende Sternenraum.
Wenn die Germanen den Weihnachtsbaum gekannt hatten, wäre sein Sinnbild erklärlicher; so aber finden wir keine Brücke in die germanische Herkunft und stehen vor einem Rätsel der Neuzeit. Es läßt sich nicht anders lösen, als daß der germanische Mythos in der modernen Welt eine Fortsetzung gefunden habe, die zwar in das höchste Fest der Christenheit einmündete, aber unverkennbar eine Folgerichtigkeit germanischer Weltanschauung war, nach einem Weltalter Erscheinung geworden.
Rechnen wir rund zweitausend Jahre, die der Mythos überdauerte, so sind es siebzig Generationen, in denen seine Erscheinung schlummerte, und keine geschichtliche Überlieferung half der deutschen Seele, das Sinnbild auszutragen, bis es sich so siegreich durchsetzte, daß heute kaum ein deutsches Haus Weihnachten ohne den lichtgeschmückten Tannenbaum feiert, ja, daß er aus den vier Wänden der Familie an die Öffentlichkeit getreten ist, wo nun in Dörfern und Städten das Sinnbild deutscher Gläubigkeit unter dem Sternenraum leuchtet.
Mögen ihm Kinderstimmen noch so gläubig »Stille Nacht, heilige Nacht« singen, und mag die Krippe von Bethlehem noch so beglänzt in seinem Kerzenlicht stehen: die Herkunft aus den »Wihen Nahten«, den geweihten Nächten der germanischen Wintersonnenwende, bleibt unverkennbar. Weil die Germanen den Weihnachtsbaum noch nicht kannten, so konnte er nicht wie das Hakenkreuz aus einem politischen Willen zurück gerufen werden, sondern er geschah der deutschen Seele, wie ein Schicksal geschieht. Ganz deutlich ist der Weihnachtsbaum selber ein Sinnbild der Mächte, in deren Waltung auch unsere Tage noch gelegt sind, so selbstherrlich sich der moderne Menschengeist als Schmied seines Schicksals wähnte, nachdem er mit seiner vielgerühmten »Geburt der Persönlichkeit« aus der Gebundenheit des »dunklen« Mittelalters in seine angebliche Freiheit eingetreten war.
Wie dreist haben wir gemeint, die Geschichte der Menschheit würde vom Menschen geschrieben, sei sie die Summe dessen, was sich aus dem Willen der einzelnen im Ganzen von selber ergäbe; und wie mißverständlich haben wir von unserer Willensfreiheit gesprochen, als ob sie eine Willkür sei, tun zu dürfen, was wir möchten! Daß allem Tun ein »Du mußt« gesetzt ist, aus dem wir wollen müssen – kein »Du sollst!« eines Sittengebots, sondern der innerste Ruf des Lebens –, dies hatten wir vergessen, wie wir überhaupt die Waltung der Mächte in unserer Glücksschmiede vergaßen, als glühte das Eisen allein aus der List unseres Blasebalgs und habe nicht das Gesetz seiner Natur.
Ihr dürft nicht wünschen, daß die Dinge nach eurem Willen geschehen, sondern daß sie so geschehen, wie sie geschehen! hatte schon Epiktet gelehrt, der noch Grieche, kein Christ war, und hatte damit die Notwendigkeit alles Geschehens verkündigt, die wir nur dann Schicksal zu nennen pflegen, wenn unsere Ohnmacht die Waltung der Mächte erfährt, die aber in jedem Hauch des Lebens ist.
Es mußte also sein! sagt Dietrich von Bern im Schlußgesang des Nibelungenliedes, und am Ende jeder Tragödie taucht dieses Es riesengroß als die Beschließerin auf. Ob wir Fatum, Moira oder Schicksal sagen, stets ist die unabänderliche Notwendigkeit alles Geschehens gemeint, die wir nicht sehen, solange unser »Ich will!« trotzig gegen das »Du sollst!« aufbegehrt, die aber nicht nur am Kreuz von Golgatha mit ihrem: »Nicht mein, sondern dein Wille geschehe!« der Weisheit letzter Schluß ist.
Freilich: ihr Beschluß, nicht ihr Beginn. Als Trägerin des Lebens sind wir das Schlachtfeld der Mächte. Oer Fatalist mit seinem: »Es kann mir alles und jedes geschehen!« wähnt, sich durch Neinsagen vor dem Leben flüchten zu können; sein Teil ist Hoffnungslosigkeit und dumpfe Verharrung. Der gläubige Jasager weiß: Es kann mir nichts geschehen, weil das Leben mich fordert; sein Teil ist Hoffnung und tapfere Hingabe.
Gläubigkeit kommt nicht aus Religion, aber Religion kommt aus Gläubigkeit, die sich ihre Sinnbilder schafft. Wenn die Germanen die Wintersonnenwende als ihr Weihnachten feierten, war es ein frohes Fest, weil sie den Mächten gläubig vertrauten. In diesen zwölf innersten Nächten des Winters wurde das Schicksal alles Lebens immer aufs neue entschieden, ob es in Finsternis versinken oder wieder zum Licht erwachen würde. So wild die Unholden draußen durch die Dunkelheit stürmten, so leuchtend standen im unendlichen Raum Ygdrasils die Sterne.
Durch die Kirche ist Weihnachten zum höchsten Fest der Christenheit geworden; durch das Sinnbild des lichterfüllten Tannenbaums ist es das Fest der Mächte geblieben. So hell die Kinder in seinen Kerzenglanz singen, es gilt nicht nur der Krippe von Bethlehem; es gilt dem ewigen Trost der Gestirne.