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(1926)
Es muß im Jahre 1890 gewesen sein, daß ich meine zweite Lehrerprüfung machte und, angefüllt mit dem Wissenskram, der von einem Examen untrennbar scheint, in die Fragezangen der Schulräte kam. Der preußischen Prüfungsordnung von damals entsprechend mußte der Examinand nach freier Wahl einen Pädagogen besonders studiert haben; und ich hatte mir dazu, mehr aus praktischen als ideellen Gründen, Harnisch, einen preußischen Schulmann der nachpestalozzianischen Zeit, ausgesucht. Zum ersten war ich gewiß, daß die Examinatoren von der Nebenexistenz dieses wackeren Mannes nicht viel mehr als den Namen wußten; und zum zweiten war er nicht ein so umfangreiches Kapitel wie Pestalozzi oder Comenius. Denn ich wollte mein Examen bestehen.
Es ging denn auch alles wie am Schnürchen: ich schnurrte meine Weisheit herunter, und die gestrengen Herren hinter dem Tisch konnten aus ihrer Unkenntnis nichts anderes tun, als mir mit gesenkten Stirnen zuhören. Weil ihnen das auf die Dauer gegen den Strich gehen mochte, hakte der Vorsitzende ein: ich solle ein paar Sätze meines Pädagogen sagen, die für seine Weltanschauung bezeichnend wären. Im Begriff, aus dem Füllhorn meiner gepaukten Weisheit die gewünschten Lesefrüchte auf den grünen Tisch zu schütten, hatte ich das Mißgeschick, etwas von der Wahrheit in meinem Vorrat zu haben.
Damit gewann der Vorsitzende nach fremden Küsten einen bekannten Hafen: Ob ich das Wort von Lessing wüßte, unter dessen Eindruck Harnisch das seine offensichtlich geschrieben habe? Er meinte natürlich das bekannte: »Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit« usw., und mir gelang es, den Wortlaut ungefähr richtig vorzubringen, denn der Schulrat nickte. Die finstere Miene, mit der er es tat, nahm ich für seine Amtsmaske, und ich war ahnungslos, als er mich fragte: was ich, persönlich vor die selbe Entscheidung gestellt, antworten würde?
Ich würde mich in aller Bescheidenheit Lessing anschließen! gab ich zur Antwort und sah unvermutet eine offene Tür, aus der dicken Examenluft heraus zu kommen, als mich der Schulrat weiter fragte: Warum? Denn ich zählte zweiundzwanzig Jahre und war nun um etwas gefragt, was mich wirklich anging. Es sind ganz gewiß keine welterschütternden Erkenntnisse gewesen, die ich da von mir gab; aber weil es die meinen waren, trug ich sie mit Feuereifer vor. Offensichtlich nicht zur Befriedigung des Schulrats; denn zu meiner Bestürzung begann er den Kopf zu schütteln. Entweder hatte er bessere Gründe oder ich trug die meinen nicht richtig vor. Also setzte ich von neuem an, das Glück des Wahrheitssuchers zu preisen, um wiederum nichts als Kopfschütteln zu ernten, das um so energischer wurde, je verzweifelter ich ausholte. Schließlich zu meinem Schrecken winkte der Gestrenge ab; aus meiner stolzen Fahrt mit der Lessing-Flagge war ich zu einer bösen Entgleisung gekommen.
Nun, wenn ich mir vorstelle, ich müßte heute nach fünf Jahrzehnten harter Bemühung und mancher Erfahrung die Frage des Schulrats beantworten: ich weiß, wie unvollkommen ich dastände; denn es ist die Entscheidung zwischen der müden Blasiertheit des Pontius Pilatus: Was ist Wahrheit? und dem Offenbarungsglauben, die in der Frage lauert und von Lessing so tapfer angefaßt wird. Es mag also sein, daß ich damals der Schwierigkeiten nicht Herr wurde, daß ich zuviel jugendlichen Überschwall hinstrudelte: aber das war es nicht, weswegen der Gestrenge den Kopf schüttelte, weshalb er mir zuletzt das Wort unwillig abschnitt.
Das wäre alles »schön und gut«, was ich da zu sagen versucht hätte! meinte er und verschluckte einen dicken Kloß. Aber den Grundirrtum Lessings zu bemerken, sei ich wohl noch zu überheblich: daß solche Gedanken doch nur einen Sinn und eine Berechtigung hätten, wenn der rechte Ring wirklich, wie der selbe Lessing seinen Nathan erzählen lasse, verloren gegangen wäre, wenn wir keine Offenbarung der Wahrheit hätten!
Über diese Abfertigung meines an Lessing gestärkten jugendlichen Hochmuts war ich so bestürzt, daß ich zunächst kein Wort mehr fand, bis mir eine lauernde Frage des Provinzialschulrats half: Gibt es keine Stelle, wo wir die Wahrheit haben? Da sah ich mich freilich vor ein Tribunal gestellt; aber meine Rolle war weder die von Lessing noch von Galilei; ich war ein Schulamtskandidat, der sein Examen bestehen wollte, und der Schulrat war mein Examinator.
In Jesu Christo! sagte ich nach dem Buchstaben und sah, wie sich das Gesicht des Schulrats in einer mehr als amtsgemäßen Befriedigung erhellte, als er die Feder hob, mir die sauer verdiente Eins hinzuschreiben.