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(1928)
Als der Weimarer Bildhauer Weißer am 13. Oktober 1807 die Maske Goethes nach dem Leben abgoß, haben beide – der sich abgießen ließ und der es tat – der Menschheit ein Geschenk gemacht, das ihnen seitdem Millionen verdankt haben. Denn alle gemalten oder gemeißelten Bildnisse Goethes konnten seine Erscheinung nicht so verewigen wie diese Maske des Achtundfünfzigjährigen, die seitdem hinter allen Werken des Dichters sein großes Angesicht zeigt.
Es ist nicht nur so, daß damit unsere Neugier befriedigt wird, wie Goethe nun eigentlich ausgesehen habe, sondern wir besitzen sein Gesicht selber, zwar nur in der Erstarrung des Gipses, aber doch als Niederschlag, ja Niederschrift seines Lebens, darin wir lesen können wie in seinen Werken.
Den wenigsten mag bewußt werden, was für ein Geheimnis darin verborgen liegt, daß wir plastische Form als Geistiges sehen; denn ein Gesicht spricht auch, wenn die Augen geschlossen sind, ja, es beginnt dann erst seine eigene Sprache, wie uns das Angesicht der Toten lehrt. Die vielgerühmten Augensterne würden vergebens strahlen, wenn sie nicht das vom Gefühl kommandierte Mienenspiel um sich hätten. Liebe und Haß, Angst und Zorn, Bewunderung und Verachtung: alles, was die Augen sagen, wird von den Mienen begleitet; und erst diese Begleitung macht die Musik des Ausdrucks, die wir gemeinhin den Augen zuschreiben.
Seit den »Physiognomischen Fragmenten« Lavaters sind diese Dinge aufs gründlichste untersucht worden, und schon der Spott seiner Zeitgenossen hat weg gewischt, was daran Schwärmerei und Täuschung war. An der Grundtatsache, daß unser Mienenspiel der Anzeiger des Gefühlslebens ist, kann kein Zweifel rühren. Vom Affekt bis zur Beschaulichkeit zeigt jede Gefühlsregung ihren Wetterbericht im Gesicht.
Ist dies aber so, daß Zorn und Schrecken, Hohn und Vertrauen von der bösesten Verzerrung bis zum lieblichsten Lächeln ihren Ausdruck in den Mienen finden, so kann das unausgesetzte Stenogramm nicht ohne dauernde Spuren sein. Sofern es Temperamente gibt, muß es auch ihre Gesichter geben. Der Sanguiniker wie der Melancholiker, der Choleriker wie der Phlegmatiker tragen sich unverhehlt zur Schau. Letzten Endes kann sich keiner verstellen. Ein harter oder weicher, ein wahrer oder verlogener, ein bescheidener oder hochmütiger, ein stolzer oder eitler Charakter: jeder trägt seinen Steckbrief im Gesicht mit sich herum. Und ob der Diplomat seine Mienen in die sprichwörtliche Undurchdringlichkeit hüllt oder ob die Amerikanerin ihre lächelnde Unbekümmertheit darüber legt: es sind nur Larven, das Gesicht zu verbergen; Larven, die umso mehr verraten.
Wer die Totenmasken in dem bekannten Buch von Ernst Benkard, »Das ewige Antlitz«, lesen und an den Leistungen ihrer Träger nachprüfen kann, wird selten überrascht sein, daß die Erscheinungsform der Daseinsform nicht entspräche; und wo er überrascht ist, wird er sein Urteil dort oder hier nachprüfen müssen, weil die »Hülle«, die sich der Geist in seinem Gesicht erwirkt hat, das gewisseste an seiner »geprägten Form« ist, die »lebend sich entwickelte«. Und wer je in einer Versammlung von Prominenten nach einem bedeutenden Kopf gesucht hat, war gewiß nicht nur auf die plastische Form aus. Die unscheinbare Hülle, in die sich ein Großer versteckt, mag in allem gefunden werden, nur nicht im Gesicht: da spricht der Geist, wie der Mangel schweigt.
Wenn aber kein Ornat und Talar, keine Uniform und kein Kittel darüber zu tauschen vermögen, »wes Geistes Kind« der Träger seines Gesichtes ist, so befinden wir uns unvermutet vor einer Gerechtigkeit, die von den Frommen erst im Tod erwartet wird. Der Weise und der Tor, der Dummkopf und der Schlaue, der Eitle und der Bescheidene: alle, die das Gewand ihrer Geltung selbst- oder ungewiß tragen, alle sind durch das entlarvt, was wir Europäer nicht zu bekleiden pflegen, durch das Gesicht.
Wir ständen alle am Pranger, wenn der Gerechtigkeit nicht die Güte beigesellt wäre, daß ein Gesicht wie ein Buch nur für den zu lesen ist, der seinen Inhalt versteht. Goethe las die Gesichter, die in Weimar um ihn waren; aber sie lasen nicht das seine, wie es uns die Maske Weißers aufbewahrt hat.