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Gesang

(1926)

Dieser Tage war ein Komponist mit einer Sängerin bei mir, seine Lieder zu singen; keiner von den Jüngsten, mehr noch in der Gegend von Richard Strauß, aber in der Wahl seiner Texte und ihrer Vertonung ein Mann von modernem Geschmack, wie wir so sagen, wenn wir das Altmodische ausschließen wollen. Die Sängerin war erst kürzlich über seine Lieder gekommen, wie etwa einer in eine Leidenschaft gerät; sie sang sie mit einer glockengroßen Stimme, starkem Gefühl und vollendetem Können. Als Bühnensängerin wußte sie das Dramatische aus den Liedern zu holen, handelte es sich doch um Gesänge, die teilweise für eine Stimme und großes Orchester komponiert waren. Das bestimmte natürlich den Eindruck.

Nun muß ich noch vorbemerken, daß ich in meiner ländlichen Einsamkeit jahraus, jahrein weder eine Oper noch ein Konzert hörend, in der Hauptsache auf meine unzulängliche Hausmusik angewiesen und also kaum noch ein Beurteiler bin. Das heißt, ich kann nicht einmal sagen, ob diese Art, Lieder zu singen, in den Konzertsälen der Stadt überhaupt noch gebräuchlich ist. Ich muß es wohl annehmen, weil, wenn ich Kunstgesang hörte, er immer von dieser Art war, nur daß eben die Stimmen ungleich in der Anlage und Ausbildung sind.

Dies war, wie gesagt, für meine Erfahrung ungewöhnlich, und so hatte ich wirklich einen starken Genuß, der durch die Begleitung des Komponisten noch gesteigert wurde; handelte es sich doch für beide Künstler um tief empfundenes Lebensgut.

Da ich kein König Ludwig bin, mir dergleichen jeden Tag wünschen zu können, da es mir nur selten und »um Gottes willen« widerfährt: mußte ich natürlich der Dankbarkeit voll sein, und ich bin es auch. Was ich gleichwohl dagegen zu sagen habe – denn um ein Dagegen handelt es sich, wie der Leser schon gemerkt haben wird –, ist keine Kritik an der Musik, zu der ich weder berufen noch befähigt bin, sondern ein notgedrungenes Etwas, eine Auflehnung nicht, oder doch, meiner Natur, kurz gesagt, etwas Grundsätzliches, das mir über mein eigenes Erlebnis weit hinaus zu gehen scheint. Ich gebe es preis, weil ich seiner inneren Berechtigung nicht nur für mich gewiß bin.

Wenn ich Kunstgesang sagte, so ist schon angedeutet, was mich bedrängt. Ich meine damit nicht nur, daß einer, im Gegensatz zum einfachen Gesang, die Kunst, zu singen, gelernt hat, sondern daß diese Kunst, zu singen, in einer Weise gültig geworden ist, die mir gleichwohl nicht endgültig scheint. Es wurde in jeder Einzelheit Außerordentliches gewonnen, aber es ging im ganzen etwas Unentbehrliches verloren, das der einfache Volksgesang noch hat, und das letzten Endes doch wohl das Wesen des Gesanges ist.

Nehmen wir an – um an einem Beispiel klarer zu sehen, was ich meine –, es habe sich um eine Komposition der »Eingelegten Ruder«, des bekannten Gedichtes von Conrad Ferdinand Meyer, gehandelt:

»Meine eingelegten Ruder triefen,
Tropfen fallen langsam in die Tiefen.

Nichts, das mich verdroß! Nichts, das mich freute!
Niederrinnt ein schmerzenloses Heute!

Unter mir – ach, aus dem Licht verschwunden –
Träumen schon die schönern meiner Stunden.

Aus der blauen Tiefe ruft das Gestern:
Sind im Licht noch manche meiner Schwestern?«

Soweit dieses Gedicht ein Lied ist, das heißt eine zum Gesang vorbestimmte Wortfolge, gibt es in den beiden ersten Zeilen Anschauung, um darauf in weiteren sechs Zeilen eine Stimmung auszudrücken, die sich im ganzen als Resignation ansprechen läßt. Sangbar, also liedhaft und komponierbar, ist natürlich nur diese Stimmung; die Anschauung der beiden ersten Zeilen kann nur Anlaß zu einer sogenannten Lautmalerei werden, die der Stimmung, wie im Gedicht, so auch in der Musik, die lokale Färbung gibt.

Die Komposition des Liedes – denn ich hörte es tatsächlich singen – entwickelte sich denn auch aus einem Grundthema abklingender Oktaven, das die Klangwirkung der abrinnenden Tropfen fein benutzte. Eigentlich Melodiöses, das heißt Dominierendes der Singstimme, gab es nicht; sie war in den Fluß der Harmonien eingearbeitet, wie wir es seit Wagner kaum noch anders kennen. Da die Singstimme aber notgedrungen die Worte der sechs letzten Zeilen deklamieren mußte, indessen das in den beiden ersten Zeilen gegebene Klangthema sich in der Begleitung weiterspann, wurde das Thema des Dichters ungewöhnlich treffend zum Ausdruck gebracht: die eingelegten Ruder trieften sozusagen in den abklingenden Oktaven der abrinnenden Tropfen unberührt weiter, indessen die Seele des Dichters dazu Worte von verhaltener Leidenschaft fand.

Nun gibt es aber in diesen Worten, sorgfältig betrachtet, nur eine Stelle, wo das Gefühl ausbricht oder ausbrechen will, nämlich da, wo in der ersten Zeile der dritten Strophe die Gedankenstriche stehen: »Unter mir – ach, aus dem Licht verschwunden –« ; nachher geht es schon wieder gelassen weiter: »träumen schon die schönern meiner Stunden«. Eben diese beiden Gedankenstriche umhegen also das, was die verhaltene Leidenschaft des Gedichtes ausmacht: das aus dem Licht Verschwundene gibt den elementaren Unterton, der gegen die Monotonie der fallenden Tropfen anstürmt, um dennoch von ihr überwunden und Resignation zu werden.

Sofern der Komponist nicht nur eine Illustration geben, sondern Musik machen wollte, mußte er natürlich seine Komposition auch auf dieses musikalisch recht ausgiebige Thema stellen, oder vielmehr auf den Widerspruch der beiden Themen, der fallenden Tropfen und der aufwallenden Menschenseele. Daß dem Klavier dabei die Tropfen und der Stimme die Menschenseele zugeteilt wurden, war selbstverständlich; nur durfte diese Zuteilung nicht zur Aufteilung der Liedform geschehen, die schließlich mit oder ohne Begleitung doch nur Melodie ist, das heißt die Führung einer Linie, die wohl den harmonischen Untergrund in jeder Wendung fühlen läßt, ihn aber bis zur anscheinenden Selbstherrlichkeit überwunden hat. Das Gedicht mußte als Lied die Überwindung seiner Gegenthemen in einer Einheit sein, die sie beide gleichwohl, die fallenden Tropfen und die aufwallende Menschenseele, in ihrer einzigen Linie enthielt.

Da der Komponist ein solches Lied nicht geschrieben hatte, sondern ein Musikstück, in dem die menschliche Stimme als Instrument mitspielte, konnte natürlich auch die Sängerin kein Lied singen, sondern nur ihre Kunst in das Ensemble hinein geben. Damit stand nun freilich im Widerspruch, daß der Gesang alle Ausdrucksmittel der Selbstherrlichkeit in Anspruch nahm: vom Seufzer bis zum Aufschrei belegte er die ganze Skala der Ausdrucksmöglichkeiten, und eine raffiniert ausgebildete Technik gab ihm das Recht, alle Herrlichkeiten der Menschenstimme zu entfalten, sodaß der Komponist am Klavier, trotz all seiner Künste, vergessen wurde, bis er am Schluß mit seinen abklingenden Oktaven das letzte Wort behielt, wie er das erste gehabt hatte.

Was war geschehen? Nicht ein Lied war gesungen worden, sondern eine dramatische Sängerin stand auf der Bühne, wie denn das ganze Musikstück eine auf Minuten zusammen gedrängte Oper war. Die fallenden Tropfen der eingelegten Ruder und die Resignation des Dichters dazu wurden Nebensache: gespielt und gesungen wurden – die Gedankenstriche, also die Stelle des Gedichtes, wo das Gefühl in der dritten Strophe seinen Durchbruch versucht. Auf diese Weise wurde aus der durchsichtigen Fläche der Dichtung ein Stück Raum von dramatischem Leben erfüllt; oder, um bei dem bekannten Beispiel des Tropfens zu bleiben, darin sich die Welt spiegelt: der Tropfen kam zur Explosion.

Und das ist es, was ich sagen möchte: Unter all dieser großartigen Entfaltung des Kunstgesanges, die mich überschüttete, saß die Wehmut des einfachen Liedes in meiner Seele verdonnert da, um – man tadle meinen Hochmut nicht – leise zu lächeln aus einer ganz altmodischen Selbstherrlichkeit. Ich hörte irgendwo eine Stimme singen, der alle Künste in den Brunnen der Natur gefallen waren. Und als ich mir selbst mit modernem Spott sagen wollte, daß die Wehmut und Stimme nur die Sentimentalität eines singenden Dorfmädchens sei, stellte ich diesem Spott die sieghafte Melodie des göttlichen Johann Sebastian Bach entgegen: »Mein freudiges Herze, frohlocke, sing, scherze!«

Ich hoffe, soweit verstanden zu werden, daß es sich nicht etwa um den Widerspruch von alter zu neuer Musik, also letzten Endes um Gewohntes gegen Ungewohntes handelt, sondern um die einfache Tatsache, daß die singende Menschenstimme keine reinere und höhere Form hat als das Lied. Um das mögliche Mißverständnis beiseite zu legen, möchte ich ein Beispiel aus dem spanischen Liederbuch von Hugo Wolf zur Hilfe rufen, etwa das ganz dramatische »Herr, was trägt der Boden hier«. Dessen Melodie nämlich, so geflügelt sie auf den ersten Blick gegen die Begleitung gestellt scheint, kann ohne weiteres wie ein Lied gesungen werden ohne diese Begleitung, um sie gleichwohl so zu enthalten, wie das einfache Volkslied die Akkorde seines harmonischen Untergrundes in der Melodie enthält. So ist es mit allen späten Liedern dieses Meisters; und es will mir scheinen, als sei die unerhörte Kühnheit, mit der darin Begleitung und Melodie gegen einander getrieben werden, noch gar nicht modern geworden. Aus dem Grunde etwa, daß unsere Zeit die Kraft verloren hat, die Einheit dieser Musik als vollkommene Liedhaftigkeit zu empfinden.

Als ich jung war und der Naturalismus sich zum Impressionismus wandelte, hörte ich sagen, daß dies das eigentümliche Vermögen der modernen Kunst wäre, aus einer einzigen Szene von Shakespeare ein ganzes Drama zu dichten. Wie mir scheint, sind wir mit unserer dramatischen Dichtkunst über diese angebliche Fähigkeit – die an und für sich nur eine Unfähigkeit ist, Ganzes zu schaffen – noch nicht hinaus gekommen, weil wir die Fähigkeit des Liedes verloren haben und mitten im Kunstgesang stecken, das heißt nicht, in der Kunst, zu singen, sondern im Hochmut, die Schwierigkeiten dieser Kunst, ihr Detail zu überschätzen.

Gewiß liegt die Schönheit des Gedichtes von Conrad Ferdinand Meyer in den Gedankenstrichen; aber eben darin, daß die Gedankenstriche bleiben, daß der Ausbruch des Gefühls in seiner Andeutung beharrt, daß der Tropfen nicht zur Explosion kommt. Die vermeintliche Stärke der modernen Kunst ist aber die Explosion, die Unfähigkeit, sich zu verhalten, der unbezähmbare Drang, aufzuschreien, wo eine einzige Geste würdiger und wirkungsvoller wäre. Ob wir Bilder und Bildwerke sehen, Bücher lesen, Musik oder Schauspieler hören: immer ist es der Aufschrei, der unserer Kunst als vermeintlicher Expressionismus die »moderne Note« gibt.

Im menschlichen Umgang würden wir dergleichen exaltiert heißen; und diese einfache Rückbesinnung sollte uns vor die ewige Reihe der großen Kunst führen, deren oberstes Merkmal Haltung, das heißt Verhaltenheit, Bändigung der Leidenschaft, nicht ihr Ausbruch ist. Um ein einziges Beispiel zu sagen: die Größe der griechischen Kunst hat ihren sichersten Wertmesser in der Verhaltenheit; wo sie sich lockert zur »Ausdruckskunst«, lockert sich auch ihre Größe. Sie bleibt für alle Zeit in der Formel befangen, die ihr Winckelmann gab: Edle Einfalt, stille Größe.

Es ist die Formel auch für den tiefsten Aufschrei des Menschengeistes, die Tragödie. Nur weil die Oper eine Unform ist, hat von da aus der dramatische Gesang das Lied in seine Künste zersprengen können. Aber erst, wenn wir aus dem Detail in die Verhaltenheit des Liedes – nicht zurück gekehrt, sondern – wieder aufgestiegen sind, wenn eine Stimme in einer einzigen Melodie wieder ihren ganzen harmonischen Untergrund zu singen vermag, wenn wir wieder Gesang der großen Fläche haben statt Schrei des Raumes, und zwar in allen Künsten, werden wir aus einer barbarischen Übersteigerung der Einzelheiten zur Ganzheit der großen Kunst durchgedrungen sein. Das aber wird eine andere Menschheit sein als die, an der wir heute leiden.


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