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(1931)
Wo die Massen sind, ist ihre Kirche! hat ein kluger Spötter über das Kino gesagt; aber ich bin auch hier Ketzer geblieben: bis mich gestern in Chur die Lebensgefährlichkeit des Giftes erschreckte, das der naiven Schaulust des Volkes Abend für Abend durch die flimmernde Leinwand eingeflößt wird.
Ich war am Morgen vom Oberalppaß zum Tomasee hinüber gegangen, der unter dem zackigen Badus die Quelle des Vorderrheins in einer Felseneinöde behütet, wo das letzte kümmerliche Gras dem ersten Schnee begegnet; ich hatte am Nachmittag auf Stunden langer Fahrt unter sonnigen Wolken alle die Orte wieder gegrüßt, die von dem armseligen Dörfchen Tschamut bis Tamins im Vorderrheintal liegen, und die breite Schönheit dieser obersten Landschaft unseres Stromes hatte mir Bild für Bild aufgetan: auch ein Kino, so aus dem Wagen gesehen, aber eins von epischer Ruhe, darin sich die Erhabenheit der Berge dem Wohngefühl der Matten und Dörfer gelassen einfügte.
Dieser Gelassenheit war ich abends so voll, daß es mich lockte, sie über das Tal hinaus in die Welt zu weiten; denn in dem einen der beiden Kinos von Chur wurde der angepriesene Völkerverständigungsfilm der Hapag gezeigt, den ihr gewiegte Fachleute mit Unterstützung vieler Regierungen gedreht hatten und dem nach der stolzen Ankündigung Alfons Paquet seine dichterische Mitwirkung nicht versagt haben sollte. Daß die Natur dieses meines Freundes nicht gerade epische Gelassenheit ist, wußte ich wohl, als ich gegen meine Gewohnheit nach einem so reich gefüllten Tag noch ins Kino ging; aber was mir dort widerfuhr, hatte andere Gründe als den Unterschied unserer Temperamente.
Wie die Völker der Erde schlafen und essen, sich waschen und kleiden, wie sie ihre Arbeit, Geschäfte und Vergnügungen haben, wie sie boxen und fußballern, Gott dienen und den Krieg vorbereiten: alles das wurde in einer gleichsam rasend gewordenen Bilderflucht vorgeführt, die mit dem im Weltraum schwebenden Erdball begann und auch so zu Ende kam.
Darin ging mir nun freilich jede Gelassenheit rasch verloren. Schon für die Augen allein war es eine Strapaze und für die atemlos hinter ihnen her keuchende Seele eine Qual, den durcheinander gewirbelten Anschauungsfetzen des Films zu folgen. Die Besinnung am Schluß war ein Trümmerfeld, aus der nur Bruchstücke wie die riesig stöhnende Ankerwinde als grobschlächtige Sinnbilder blieben.
Aber ich sagte mir so: die Erde ist nicht allein dieses Tal, wo der Mensch demütig in die große Bergnatur eingeht; sie ist das vermeintliche Herrschaftsgebiet seiner Zivilisation, wo die Mächte mit seiner Lust und Not ihr Spiel treiben, und er meint, es sei seines. Diese Welt der Menschheit will der Film der Hapag gleichsam in einem einzigen Fiebertraum raffen, den Einzelnen in die Demut vor den Mächten zu führen. Ist nicht unser Leben auch nur solch eine Bilderflucht, ganz ohne Sinn, wenn wir nicht das Spiel der Mächte darin erkennen, wie es dieser Film im anscheinenden Wirrwarr seiner Gleich- und Gegeneinanderstellungen zeigt? Bin ich nicht durch ihn belehrt worden, daß mein Tal nur ein vergessenes Außerhalb der Menschheit ist, überdies der Trug einer Anschauung, unter deren Gelassenheit sich die Wildheit des Lebens doch nur verbirgt?
So sagte ich mir; aber es blieb nicht wahr, was ich mir sagte. Das Leben ist nie und nirgends solch eine Bilderflucht, für den Autofahrer so wenig wie für den Wanderer, für den Arbeiter am Hochofen so wenig wie für den Bauer hinter dem Pflug. Wo ein Auge schaut, sieht es immer die Ganzheit; und im Film ist sie nur deshalb in Fetzen gerissen, weil die Technik des Films danach verlangt. Sein Geflimmer und die Abgehacktheit der Bilder kommen nicht aus der Anschauung, sind keine Natur, sondern Absicht der Hände, die seine Streifen zerschneiden und willkürlich aneinander heften.
Solche Absicht wäre natürlich unsinnig, wenn sie keinen Lebensgrund hätte. Dieser Lebensgrund des Films ist die Straße des Großstädters oder vielmehr der Großstädter selber, der seine Prägung als eine besondere Art Mensch auf dieser Straße erhält, wo alles nur an seinen Augen vorüber flirrt, wo ihn nichts – weder die Menschen, die ihm begegnen, noch die Schaufenster und Lichtreklamen – eigentlich angeht. Auch die Straße ist natürlich eine Ganzheit und kann darum eine Anschauung sein, wie es die Bilder moderner Maler beweisen; nur dem Straßengänger in ihrem Gewirr muß die Ganzheit verloren gehen, der Licht und Schatten, die großen Regler aller Anschauung, in eine Unruhe hinein gerissen sieht, die nicht in den Elementen, den Mächten, sondern in ihm selber ihre Ursache hat und ihm darum in jeder Sekunde der Besinnung, weil er die Ganzheit nicht anschauen kann, als Leerlauf erscheinen muß.
Anschauung ist nur da, wo das Einzelne sich in der Ganzheit gesichert zeigt. Diese Sicherung kann seine Straße dem Großstädter nicht geben. Sein Menschentum, nicht mehr durch Bäume und Wiesen, Wolken und Winde der Natur verbunden, ist von der steinernen Stadt aufgefressen. Solche Aufgefressenheit hat sich den Film ausgedacht als ihre Form, die Welt statt aus der Ruhe aus der Unruhe zu sehen. Wenn das Kino, wie es nun geschieht, auf die Dörfer geht, kommt die Stadt über das Land, die Naturverbundenheit des Menschen in seinen bäuerlichen Schlupfwinkeln zu zerstören, kommt die Stadt, auch das Land aufzufressen.
Immerhin, dieser Hapag-Film ist aus einer redlichen Absicht gedreht; und wenn er den Augen Zeit ließe, die Eindrücke zu überliefern, statt immer den einen mit dem andern zu erschlagen, er hätte den Leuten von Chur – die übrigens spärlicher als in einer ihrer Kirchen dasaßen – ein Bilderbuch von Völkern sein können. Aber trotz der Bemühung so vieler namhaft gemachten Regierungen füllte er keinen Abend; er war nur Vorspeise der eigentlichen Kost, die danach mit endlosen Speisezetteln verabreicht wurde.
Diese Kost hieß »Delikatessen«, und von ihren Verabreichern ist mir nur dies im Gedächtnis geblieben, daß eine deutsche Lichtbild-Verleihanstalt am Vertrieb dieses Machwerks Geld verdient und daß dies gleiche ein Schauspieler namens Liedtke mit seiner mißbrauchten Kunst vorher getan hat. (Sollte sich hinter diesem Namen eine Kinoberühmtheit verbergen, möge man mir meine Unwissenheit auf diesem modernsten Gebiet der religiösen Bemühungen verzeihen.)
Die Helden des Films sind ein halber und ein viertel Lebemann, die am Tag in weißen Kitteln Delikatessen verkaufen und nachts ihre Damenkundschaft anders bedienen. Talmi-Existenzen natürlich, von denen der eine über einen tadellosen Frack und entsprechende Manieren verfügt und nach der schriftlichen Mitteilung seiner »Braut«, die er am Schluß in großer Aufmachung heimführt, ein »Hochstapler«, der andere ein Idiot ist.
Durch diese drei Viertel Lebemänner werden zwei Orgien angerichtet, eine nächtliche im Delikatessenwarenhaus und eine auf der hellen Straße, darin die Lust der Nacht von der Habgier des Tages abgelöst wird: mit der einen mißbraucht der halbe Lebemann das Vertrauen seines Onkels aufs schnödeste, mit der andern überlistet er ihn aufs gemeinste.
Die Kunst ist bekanntlich frei; unter ernsten Leuten gesprochen, folgt sie ihrer eigenen Moral, die nicht die des bürgerlichen Alltags ist. Der Schalk hat die Lacher auf seiner Seite, und den Übertölpelten hetzt die Meute der Spötter. Aber diese Freiheit kann sich die Kunst aus keiner Willkür erlauben, weil sie strenger als sonst eine Lebensform unter dem Gesetz steht; auch sie ist nicht gekommen, das Gesetz und die Propheten aufzulösen, sondern sie zu erfüllen. Wo sie dennoch auflöst, mißbraucht sie ihre Freiheit; vielmehr sie selber wird mißbraucht, indem ihre Mittel angewandt werden, Kunst vorzutäuschen, wo ganz etwas anderes am Werk ist.
Daß ein Film auch ein Kunstwerk sein kann, wurde genügend dargetan; daß dies aber selten ist, dafür zeugen die Photographien, wie sie in den Eingängen zu den Kinos herum hängen. Für ihre und seine Verfertiger handelt es sich in den meisten Fällen um eine Spekulation auf Sentimentalität und Lüsternheit, welche Spekulation immer noch den breitesten Erfolg verspricht. Wenn die Massen im Kino ihre Kirche haben, ist es eine Kirche für den Pöbel, der sich aus der Masse durch die Anmaßung abhebt, durch sein Eintrittsgeld selber bestimmen zu dürfen, was ihm gepredigt wird.
Früher nannte man das, was gewisse Photographien und Filme tun, »an die niederen Instinkte appellieren«. Wenn es seit Nietzsche ein »Jenseits von gut und böse« gibt, so ist dies doch gewiß, daß sich das Kino noch diesseits befindet.
Im Diesseits ringen bis zur Stunde noch die guten und bösen Mächte miteinander: zwar im Einzelnen, aber nicht um ihn, wie er meint, sondern um ihre Macht. Daß wir das Gute im Menschen das Edle und das Böse das Gemeine nennen, sagt deutlich, wie sich der Kampf abspielt. Der beste Zustand eines Volkes – denn die Zustände in den einzelnen Völkern decken sich nicht, darum kann man von einem Zustand der Menschheit kaum reden – ist der, den die Edlen bestimmen; der böseste der, in dem die Massen zum Pöbel werden, weil sie nicht mehr auf die Edlen, sondern auf das Gemeine hören.
Auch im Kino gibt es, wie der Hapag-Film zeigt, »edle« Tendenzen; zum weitaus größten Teil ist er ein Geschäft, das mit dem Kassenerfolg bei den Massen gemacht wird. Daß dies so ist und nicht anders sein kann, wußte ich natürlich vor Chur; aber der Film »Delikatessen« schrieb mir ein anderes Menetekel an seine Flimmerwand.
Er ist nicht etwa das, was man obszön nennt; eine danach forschende Zensur könnte an seinen Bildern keinen Anstoß nehmen; es geht alles so zu, wie es bei Lebemännern zugeht, so lange sie den Frack anhaben. Nur die Gesinnung, aus der gehandelt wird, ist hundsgemein. Wie in der »Dreigroschenoper« wird nicht mehr nur das Gemeine angerufen, das als vorhanden vorausgesetzt werden muß, wenn man Pöbel bedient, sondern es wird Pöbel gemacht, es wird Erziehungsarbeit zum Bösen geleistet. Alles ist Schwindel, was euch gelehrt wurde, wird gepredigt: So ist das Leben! Und »ehrlich währts am längsten«, nämlich das reich Werden und Teil haben an den Genüssen der Welt!
Zwar wird gesungen: »Es muß nicht Hummer sein mit Mayonnaise; man kann auch glücklich sein bei Wurst und Käse!« Aber ich habe mir beim Ausgang die Gesichter der Ladenjünglinge und Mädchen von Chur angesehen, deren Lippen noch die Banalität mitsummten, deren Augen aber die wahre Lehre verstanden hatten: Wer anders denkt, ist doch ein Dummer; man kann nur glücklich sein bei Sekt und Hummer!
Daß ich recht verstanden werde: ich spreche nicht von dem, was wir Bildung und Geschmack heißen. Die haben, wo die Tingeltangelmusik die Frechheit hat, sich mit Beethoven und Wagner anzubiedern, keinen Lebensboden mehr. Von der Banalität dieses Films an die Bemühung der Meister denken zu dürfen, ohne vom Blitzstrahl der Götter getroffen zu werden, ist eine der Unzulänglichkeiten dieser Welt. Ich spreche davon, daß wir ein Volkskörper sind, dem durch die Kanäle der Filmverleihanstalten ein lebensgefährliches Gift eingeflößt wird.
Noch im Kino zu Chur fiel mir der Hirtenknabe ein, den ich am Tag vorher im abgelegenen Val Cristallin getroffen hatte mit seinen Schafen, der Knabe und nachher der Senn: was für Augen, was für Gesichter, was für Gestalten, die da über den Sommer allein in ihrem harten Dienst lebten! Gesund, stark, unverstellt war alles an ihrer Natur, daß mich die Freude der Menschenschönheit überkam. Zwischen ihnen und mir stand nichts; ich konnte Bruder sagen und an Gott denken, indem ich es sagte. Vielmehr, es war so, daß sich eine Scham in mir als verlorener Sohn heimgekehrt fühlte.
Denn nicht »aus Gemeinem ist der Mensch gemacht«, sondern das Gemeine kann Macht über uns gewinnen wie das Edle. Mensch sein, heißt zur Erkenntnis des Guten und Bösen berufen zu sein, die als Mächte des Lebens in uns ringen, nicht um uns, sondern um ihre Macht.
Einen Volkskörper, in dem die guten Mächte überlegen sind, heißen wir gesund, und einen, in dem die bösen zur Herrschaft kamen, krank, weil die guten Mächte lebensbehütend, die bösen lebenszerstörend sind. Daß wir uns mit unserer prahlerischen Zivilisation erkrankt fühlen, wissen wir ebensowohl wie dies, daß wir nicht gesund werden können, ohne den Kampf mit den bösen, zerstörenden Mächten aufzunehmen.
Wenn der Schafhirt aus dem Val Cristallin mich in diesem Film sähe, müßte ich mich schämen. Der noch unverdorbenes Volk, der noch Einfalt ist, würde mich durch seine klaren Augen fragen, warum ich diese Verhöhnung dessen zulasse, was als Sinn des Lebens in meiner Verantwortung wie in seiner Einfalt steht. Seine Einfalt und meine Verantwortung haben die Frage gerufen, die ich über diese Zeilen setzte, und deren Antwort um unser Sein oder Nichtsein geht.