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Stendhal

Es gibt keine tiefere Freude als die einer unverhofften literarischen Entdeckung. Aus Nietzsches Enthusiasmus für Stendhal spricht der Jubel eines Einsamen über eine verwandte Seele. Stendhals Auferstehung wird für Nietzsche eine neue Rechtfertigung der eignen Isolierung.

Wir haben heute zu Stendhal ebenso gut Distanz gewonnen wie zu Nietzsche. Wir sehen gewiß die verschiedenen Elemente in Stendhal schärfer. Nietzsche verehrte in ihm vornehmlich den genialen Amateur und Lebenskünstler, den Dandy mit der Geste des Bourgeoisverächters. Zu uns spricht Stendhal, der große Arbeiter, deutlicher. Ein paar gelehrte Antiquitäten, eine antike Gemme, eine Melodie von Cimarosa, die letzten Liebesgeschichten der Marchesa, eine Loge in der mailänder Scala, das ist der Lebensinhalt des einen Stendhal. Aber der andre Stendhal, das ist der Schriftsteller, der langsam und mit selbstgeschaffener Mühe die Welt sehen lernt und sich dazu eine höchst sparsame und trockene Form schafft, die es ihm ermöglicht, nicht nur das Exterieur sondern auch Blut und Nerven seiner Gestalten festzuhalten. Dieser von seiner Zeit verworfene Autor durfte mit Recht an die Nachwelt appellieren.

Stendhal, vor hundertfünfzig Jahren geboren, durchschneidet drei Epochen und wird zu einem vielfältigen Zeugen. Er erlebt die Schlacht von Marengo, den napoleonischen Siegeszug durch Deutschland und die Katastrophe von Moskau. Er wird ein mißmutiger und zurückhaltender Teilnehmer der traurigen Ära bourbonischer Restauration. Und dann bricht mit dem Bürgerkönigtum die technisch-kommerzielle Zeit aus. Das große Abenteuer wird rar, das Geld tritt seine Herrschaft an. Zwar wirbelt es einzelne dramatische Figuren hoch und wieder in die Tiefe, aber den Millionen reglementiert und egalisiert es die Existenz. Als Stendhal mit sechzig Jahren auf einer prosaischen pariser Straße einem Schlaganfall erliegt, da flammen schon abends die Gaslaternen, rollen Eisenbahnen durchs Land und fängt der Maler Daguerre das menschliche Bild auf einer Glasplatte auf. Stendhal steht also am Beginn jener Entwicklung, die 1914 jäh abstürzte und deren schwere Restbrocken wir vergebens zu liquidieren suchen. Balzac hat in dem Pathos dieser Zeit, in ihren gigantischen Verschlingungen, in ihrem ohrenbetäubenden Getöse geschwelgt. Stendhal ist bis zu ihrem Geist vorgedrungen. Er war als Schriftsteller kein Mann der Glückstreffer, sondern ein bewußter Beobachter von wissenschaftlicher Gründlichkeit, trotz geflissentlich ablehnender Haltung ein Pionier.

Es ist eine Zeit der ungeheuersten Gegensätze und Spannungen. Kein Wunder, daß ihr vor sich selbst graut. Sie flieht in die Romantik und hält ihre eignen Lebensgesetze für Hexerei. So ist um die Männer der Metternichepoche mit ihrem blauen Frack und dem Wachstuchzylinder immer etwas Hoffmannsche Gespensterei und Doppelgängerei. Herr Henri Beyle aus Grenoble ist in seinem Alltag ein angenehmer Gesellschafter, der von Napoleon zu plaudern weiß und von einem vergangenen Italien, wie es im Nachklang des Rokoko zu musizieren und zu lieben wußte. Ein Weltmann, der sogar mit Byron gesprochen hat und gern bereit ist, die Bekanntschaft mit dem neuen Salonlöwen oder einer allzu reservierten Sängerin zu vermitteln. Dieser selbe Herr Beyle hält sich aber auch für ein verkanntes Literaturgenie. Er schreibt langweilige Romane, nennt sich »Stendhal« nach irgend einem deutschen Nest und prophezeit, daß sein Ruhm um 1900 fällig werde.

Noch komischer als diese literarischen Ambitionen sind seine verliebten Eskapaden. Herr Beyle ist mit dieser Zeit, deren Realität auf Zahlungsfähigkeit beruht, nicht sehr zufrieden. Im Grunde gilt seine Sehnsucht einem abenteuernden Kavaliertum. Er träumt sich als Ritter irrender Fürstinnen und heißbegehrter Primadonnen, die er gegen alle Rivalen und eine böse Welt am liebsten mit der Pistole in der Faust verteidigen möchte. Der kleine, runde Mann hat das überreizte Ehrgefühl eines klapperdürren kastilischen Granden; in der Tat, die Begierden Don Juans wüten in der plumpen Tournure Leporellos. Er posiert gern die Indifferenz des Abgebrühten, des Aristokraten alten Schlags. In der Garderobe der umschwärmten Künstlerin nicht minder als in der Schlacht. Mitten in dem grenzenlosen Elend der Tage an der Beresina, mitten in einer zerlumpten und verhungerten Armee präsentiert er sich eines Morgens seinem Chef Daru mit frisch rasiertem Kinn und wird dafür mit einem Lob bedacht, als wäre er ein neuer Bayard.

Er ist in seinem Lebensstil ein Ci-devant. So wie er als Liebhaber die Allüren eines gestorbenen Jahrhunderts zu konservieren trachtet, so ist er auch als napoleonischer Offizier kein Mann der Masse. Im Grunde sucht er nur die individuelle Auszeichnung, er will Ritter sein. Heldentaten begehen für den Kaiser, für eine Dame, das bleibt sein letzter Wunsch. Im Grunde haßt er den Krieg, den rohe und schmutzige Soldaten gegen einander führen. Es ist herrlich, zu Pferd zu sitzen und ins Ungewisse zu reiten aber diese verstümmelten Toten dort am Wege ... Pfui, der Krieg ist abscheulich, der Krieg stinkt! Sinnloses Gemetzel, das schon der alte Voltaire in seinem »Candide« verspottet hat, jener Voltaire, der den romantischen jungen Leuten heute als ein Greuel aus der Zopfzeit erscheint.

Die Früchte vom Baum der Erkenntnis sind noch keinem gut bekommen. Den Einen bringen sie früh ins Grab oder ins Narrenhaus, dem Andern ruinieren sie den körperlichen und geistigen Stoffwechsel. Stendhal, bald der ritterlichen Geste, bald seinem unerbittlichen intellektuellen Verlangen opfernd, läuft zeitlebens mit einem schweren Spleen herum. In seiner Denkweise bleibt er ganz und gar der Sohn des achtzehnten Jahrhunderts. Mitten in einer Epoche idealistischer Verschwärmtheit bewahrt er den massiven Materialismus des Lamettrie oder Helvetius. Die Welt liegt schon wieder schmachtend vor dem Kreuz: er verachtet Religion als Pfaffengewäsch. Die Philosophen spekulieren wieder metaphysisch. Er glaubt: mit dem Tod ist alles aus, und das Leben ist nur zum physischen Genuß da. Aus dieser Summe von Widersprüchen wächst eine historische Leistung: Stendhal wendet im Roman zum ersten Mal die soziale Anatomie an. Seine Gestalten sind keine isolierten Einzelwesen mehr. Sie sind gesellschaftlich genau bestimmt, und weil der Autor weiß, woher sie kommen und was sie essen und trinken, deshalb ist auch ihre Seele kein Gefäß mehr, in dem olympische Parfüme unbekannter Mischung destillieren, sondern ein durchforschbares Land. Wovon lebt eigentlich Wilhelm Meister? Von welchen irdischen Ressourcen nähren sich die ätherischen Helden Chateaubriands? Was tut Childe Harold, wenn er nicht grade im Anblick heroischer Landschaften versinkt? Stendhal hat die Märchenprinzen entthront und für ewig auf die Hintertreppe verwiesen.

Damit war nach 1815 kein Erfolg zu holen. Stendhal blieb allein, seinem Sarg folgten ganze drei Personen. Aber in seinen Wirkungen ist er nicht mehr wegzudenken: er ist der Ahnherr einer ganzen Schreibergilde, er ist der Stammvater des modernen Romans geworden. Heute, wo wir wieder gegen sozusagen idealistische Verlogenheiten und gegen einen verblasenen Mystizismus zu kämpfen haben, heute fällt auch von Stendhal die skurrile Außenseite ab. Zurück bleibt ein geistiger Held, ein harter, strenger Erzieher, dessen Beispiel mahnt, so wie er um den wirklichen Ausdruck der Zeit zu ringen. Der Ruhm, der seinem nachgelassenen Werk so spät zuteil wurde, wird wieder einmal welken. Das kann auch nicht anders sein. Aber vieles von dem, was Stendhal geschrieben hat, die »Karthause von Parma«, »Rot und Schwarz«, Stücke aus »Lucien Leuwen«, die »Äbtissin von Castro«, die Aufzeichnungen über die Liebe, die Studie über Napoleon, das alles wird seine Freunde finden, bis die Menschheit sich wieder entschließen wird, das Glück des absoluten Analphabetentums der gefährlichen Lust am Wissen vorzuziehen.

Die Weltbühne, 31. Januar 1933


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