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Mit vierundzwanzig Stimmen Mehrheit ist der Reichskanzler dem Ansturm seiner Gegner entronnen. Den Ausschlag gaben nicht die biedern Agrarier, denen Brüning mehr gewährt hat als irgend ein deutscher Minister seit Jahrzehnten, sondern die Hicketiere von der Wirtschaftspartei. Es ist noch nicht bekannt, womit diese kleine Gefälligkeit der Budikerpartei erkauft ist, wahrscheinlich wird die Reichsregierung einen anständigen Obolus in die Ladenkasse tun müssen.
Wer indessen glaubt, daß der Reichskanzler nunmehr von seiner Vorliebe für die Rechte kuriert ist, der sollte die Rede, die er am Freitag vor der Schlußabstimmung gehalten hat, nochmals genau nachlesen. In dieser sogenannten Abrechnung, die sich vornehmlich gegen einige allzu plumpe Übergriffe der Schwerindustrie richtete, warb er gradezu um die Gunst der Hitlerpartei. Er dankte nicht nur den Führern der Nationalsozialisten »für die Vornehmheit, wie sie sich meiner Person gegenüber bei aller Kritik eingestellt haben«, sondern beklagte auch am Ende seiner Ausführungen ausdrücklich, daß Hitler nicht vertrauensvoll einige Monate mit ihm gehe. »Vornehmheit?« Entfernte sich nicht das braune Politikantenpack mit knarrenden Stiefeln aus dem Plenarsaal, als der Reichskanzler das Wort nahm? Gewiß, das Gros davon, ist dort, wo es aufs freie Wort ankommt und nicht auf den Knüppel, zu feige oder zu dumm, aber die Geste gegen Brüning, mag sie auch der Verlegenheit entsprungen sein, bedeutete doch öffentlich: Ablehnung und Verachtung. Aber selbst in der Entscheidung noch beschwört der also Behandelte die Idee der nationalen Konzentration, ladet er Hitler ein, sich neben ihn zu setzen. Was mögen wohl die Sozialdemokraten für Gesichter dazu gemacht haben? Der Zeitungsbericht verzeichnet: stürmischer Beifall in der Mitte und bei den Sozialdemokraten.
Wird die Nationale Opposition den Mann, der selbst, wenn er sie züchtigt, nur leicht mit dem Ölzweig streicht, nicht bald etwas freundlicher betrachten? Sie traut ihm nicht, gewiß. Sie fürchtet sein stereotypes Klerikerlächeln und wittert dahinter römische Tücke. Sie fühlt sich ihm unterlegen. Brüning ist nicht der große Staatslenker, für den ihn seine Bewunderer halten. Aber Brüning verglichen mit den Matadoren des Nationalismus wirkt erhaben und gewaltig – ein Ringelwurm unter Käsemaden. Und dennoch hätte er sich diesmal nicht loseisen können, wenn ihm nicht das harzburger Gastspiel des Herrn Hjalmar Schacht eine kaum erwartete Entlastung verschafft hätte. Ohne diesen unfreiwilligen Partisan wäre Brüning verloren gewesen. Die Harzburger haben allzu vorschnell nach der Inflation geschrien, und grade die Angst vor der Inflation steckt den meisten Deutschen, die Herren von der Schwerindustrie natürlich ausgenommen, allzu tief in den Knochen. So warfen Hugenberg und Hitler der Regierung selbst die Gegenparole zu, und das Auftreten des Psychopathen Schacht, dessen traditioneller hoher Stehkragen jetzt endlich gegen die Zwangsjacke ausgewechselt werden sollte, machte die rechten Splitterparteien wieder wankend.
Brüning hat also diesmal noch gesiegt, aber nunmehr, nach beendigter Schlacht, lautet die Frage nicht mehr: gegen wen? sondern: zu was? Der Reichskanzler hat weder Ideen gegeben, die sich entwickeln ließen, noch ein Programm, an das man sich halten könnte. Er hat kräftige Worte für die feste Währung gefunden, jedoch nichts genannt, was sie vor dem Abgleiten bewahren könnte. Er hat unter dem Druck der christlichen Gewerkschaften die dreistesten schwerindustriellen Angriffe gegen den Tarifgedanken zurückgewiesen, aber sich durchaus nicht wie ein rocher de bronce vor die sozialen Rechte der Arbeiterschaft gestellt. »Die Sozialpolitik muß allerdings derartig gestaltet und gehandhabt werden, daß sie sich den finanziellen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten einfügt ... Vor allem gilt dies auch für den Tarifgedanken, der als solcher gesund ist und erhalten werden muß, aber größere Elastizität in der Handhabung bedarf. Die Tarife müssen veränderten Verhältnissen schneller angepaßt werden können.« Wo ist da der Unterschied zwischen Brüning und Doktor Oberfohren, der als Sprecher Hugenbergs gegen die Unabdingbarkeit der Tarifverträge und gegen das Schlichtungswesen grobes Geschütz auffuhr? Die Deutschnationalen wollen die Gewerkschaften niedertrampeln, Brüning will sie in eine Arbeitsgemeinschaft mit den Unternehmern zwängen, in der sie, kräftig unter Druck gesetzt, ihre Rechte selbst stückweis aufgeben. Diese Arbeitsgemeinschaft, die unter dem segenskräftigen Vorsitz Hindenburgs tagen soll, ist überhaupt der Löwengedanke Brünings. Wie das ›Berliner Tageblatt‹ mitteilt, dürften die Gewerkschaften bei diesen Verhandlungen von Herrn Geheimrat Bachem, dem rühmlichst bekannten Arbeiterbankier, vertreten werden. Herr Bachem hat noch von seiner frühern Tätigkeit als königlich preußischer Staatsanwalt her eine hochgradige Abneigung gegen den Sozialismus, die er auch als Mitglied der Sozialdemokratie nicht völlig hat überwinden können. Dieser altbewährte Labourleader wird neben Vögler und Schmitz ganz gewiß nicht allzu oft mit der schwieligen Faust auf den runden Tisch schlagen, er wird schon einsehen, daß der an sich gesunde Tarifgedanke in der Handhabung größerer Elastizität bedarf.
Herr Brüning ist von seiner göttlichen Mission tief durchdrungen, und dieses Gefühl mag gut und nützlich sein für ein Amt, das die bösesten Nervenproben mit sich bringt. Aber was berechtigt ihn zu dem naiven Optimismus, dem er in seiner Rede Ausdruck verlieh? Vor kurzem habe er noch das Bewußtsein gehabt, daß die Situation zu 90 Prozent verloren sei. »Heute jedoch«, fuhr der Reichskanzler fort, »ist sie so, daß ich sagen kann, das Verhältnis von Glück oder Unglück steht schon 50 zu 50.« Was hat sich inzwischen denn so gründlich gebessert? Ist die Lage der Reichskassen um so viel hoffnungsvoller? Hat der Reichskanzler nicht selbst für den Winter sieben Millionen Arbeitslose prophezeit? Hat denn in der Geschäftswelt die Pleite zu wüten aufgehört? Nichts hat in diesen letzten Wochen das Verhältnis von Glück und Unglück verschoben. Daß die Weltkrise inzwischen auch das englische Pfund erschüttert hat, wird doch der Reichskanzler kaum zu den Ereignissen rechnen, die auf der Glücksseite zu verbuchen sind.
Einmal war der Kanzler der Wahrheit sehr nahe, als er auf das wachsende Mißtrauen gegen das privatwirtschaftliche System hinwies, allerdings nur, um sich sofort schützend davorzustellen und selbst für die Banken ein verteidigendes Wort zu finden. Nichts berechtigt zu der Annahme, daß die gegenwärtige Regierung etwas gegen Großagrariertum und Schwerindustrie unternehmen wird. »Es ist kein Grund, etwa zu glauben, daß das System unsrer deutschen Banken an sich von Grund aus irgendwie verkehrt sei. Das muß ich auch ausdehnen auf den weitaus größten Teil unsrer deutschen Wirtschaft.« Das sagt der Kanzler, wo sich immer mehr offenbart, daß eine unvernünftige Kreditpolitik ebenso wie eine blindwütige Rationalisierung dazu beigetragen hat, der international rasenden Wirtschaftskrise in Deutschland ein besonders bösartiges Gesicht zu geben. Ohne Plan, ohne Programm, aufrechterhalten nur von der Hoffnung, daß in ein paar Monaten von außen her Hilfe kommt, so geht die Regierung in den schwersten Winter seit hundert Jahren, und ihr verantwortlicher Führer nennt das ein Verhältnis von 50 zu 50. Die hohlgewordenen Gehäuse des Kapitalismus sinken in sich zusammen, und der Staat verteidigt die Fiktion einer Privatwirtschaft, die doch vornehmlich von seinen Subventionen, also auf Kosten des ganzen Volkes, lebt, anstatt das in Besitz zu nehmen, was von den bisherigen Inhabern kaum mehr verteidigt wird. Sozialisierung von oben oder Kommunismus von unten! Das ist heute die Alternative. Das Volk, noch immer ruhig und geduldig, scheut den russischen Weg und wartet noch immer, daß selbst von dieser Regierung ein Zeichen komme. Hier stehen in der Tat die Dinge noch 50 zu 50, aber die nächste Erschütterung schon kann das Verhältnis ändern.
So überaus dramatisch diese vier Tage Reichstag auch verliefen, ihre Bedeutung liegt nicht in dem Gesagten sondern in dem Ausweichen aller Beteiligten vor dem wirklich Wichtigen. Als der Antrag der Kommunisten, die Youngzahlungen aufzuheben, zur Abstimmung kam, verließen die Nationalsozialisten den Saal. Und unmittelbar nachdem mit einer sozialistisch-kommunistischen Mehrheit die Einstellung des Panzerkreuzerbaues beschlossen wurde, läßt die Regierung als ihre Meinung zirkulieren, daß sie diese Formulierung als eine Entschließung interpretiere, zu deren Innehaltung sie nicht unter allen Umständen verpflichtet sei. Das ist die erste Quittung für die Verlängerung der Tolerierungspolitik. Hitler wird mit Liebenswürdigkeit traktiert, die Sozialdemokratie wird nach getaner Arbeit kalt abgeschüttelt. Sie wird es nicht übelnehmen, sondern das alte Versteckspiel fortsetzen. Chaos oder Ordnung! rufen die republikanischen Kannegießer. Es gibt noch ein drittes: den Marasmus.
Die Weltbühne, 20. Oktober 1931