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Am runden Tisch

Zur Beurteilung der letzten englischen Regierungskrise und ihrer provisorischen Lösung reichen deutsche Maßstäbe nicht aus. Westminster und Republik-Platz, Downing Street und Wilhelm-Straße, da läßt sich keine geistige Linie ziehen, so gern auch unsre Politiker englischen Schnitt tragen möchten. Hier: langgewalzte Krisen, kühle Mißachtung der Verfassung, Diktatur der Bureaukratie. Drüben: schnelle praktische Lösungen, strenge Beachtung der durch Gesetz und Überlieferung geheiligten Formen. Bei uns: Verschweigen von Gefahren, Optimismus erste Bürgerpflicht. Jenseits des Kanals: schonungslose Aufdeckung der politischen und wirtschaftlichen Wahrheit, ja starke Übertreibung, um materielle und geistige Widerstandskräfte zu wecken. Der Labourpremier wendet sich hilfesuchend an den Oppositionsführer, der sich ohne strangulierende Bedingungen zur Mitarbeit bereit findet. Zwar trennt ihn dieser Schritt von seiner eignen Partei. Aber er nennt die Genossen von gestern nicht »schlechte Patrioten«, weil sie ihm nicht mehr zu folgen vermögen, und sie selbst, die ihn der ernstesten Parteigefährdung zeihen, schelten ihn deswegen nicht »Sozialverräter« oder »Renegat«. Eine nüchterne und saubere Abwicklung unter Beachtung oft erprobter Spielregeln. Man gibt der Politik viel, aber nicht mehr als ihr zukommt. Man packt ihr keine Weltanschauung, kein zweifelhaftes Philosophem auf; kein Fanatismus lodert. Auf Anständigkeit der Haltung, die äußerste Anspannung aller Energien nicht zu beeinträchtigen braucht, wird mehr Wert gelegt als auf Prinzipien oder auf das Bewußtsein, der bessere Mensch zu sein. So hat England den Krieg gewonnen, so tritt es in den Kampf gegen den größten Gegner, den seine Macht bisher gefunden hat, gegen die Weltkrise der Wirtschaft.

Nachdem man dies mit dem Neid des Fernwohnenden und an schlechtere politische Formen Gewöhnten gern konstatiert hat, muß man leider zur Sache sagen, daß James Ramsay MacDonald und Philip Snowden einen verhängnisvollen Weg eingeschlagen haben, indem sie in der Kapitulation vor der City und den amerikanischen Bankiers die einzige Rettung sahen. Es wäre verfehlt, ihnen persönlichen Ehrgeiz zu unterschieben, Festhalten an Ministersesseln, die ihnen nicht mehr gehören. Beide haben nicht nur im Krieg, als sie in schärfster Opposition standen und alle Konsequenzen trugen, ihre Makellosigkeit bewiesen. Aber beide teilen mit den meisten sozialdemokratischen Führern von heute den Unglauben in die Bedeutung proletarischer Aktionen. Wo Kapitalismus und Arbeiterschaft im Interessenkampfe zusammenstoßen, da muß die Arbeiterschaft der schwächere Teil sein und nachgeben. Auch die englische Sanierung soll auf Kosten der Arbeiterschaft geschehen, und dabei ist noch gar nicht sicher, ob diese Sanierung mit den Mitteln eines überalterten und nicht mehr schöpfungskräftigen Kapitalismus auch gelingen wird. Das Opfer der Arbeiterschaft dürfte also wahrscheinlich ganz umsonst dargebracht werden.

Dabei ist durchaus zu verstehen, daß MacDonald sich von seinem Amt nur schwer trennen mochte, denn er hätte mehrere gut angefangene Arbeiten liegen lassen müssen. So wenig erfolgreich die Wirtschaftspolitik seines Kabinetts auch gewesen sein mag, so tief hat er sich doch als Außenpolitiker in das Gedächtnis der Welt eingeschrieben. Wir haben die Außenpolitik des Labour-Kabinetts oft scharf kritisiert und Deutschland vor Illusionen darüber gewarnt. Aber unbestreitbar ist auch, daß MacDonald in die Außenpolitik, wo sich ja nicht grade frischeste Jugend zu tummeln pflegt, neues Blut und neue Methoden gebracht hat. Er hat die Außenpolitik wieder aktiv gemacht, er hat die Escarpins der Diplomaten durch solide Straßenschuhe ersetzt, er hat das geheimnisvolle Getue der Routinierten durch direkte Aussprache abgelöst. Und selbst, wo es hart auf hart ging, wie bei dem haager Rededuell zwischen Snowden und Chéron, mußte man sagen, daß es besser ist, sich Gift und Galle von der Seele zu reden, anstatt mit höflicher Miene einen ungelösten häßlichen Rest weiterzuschleppen. Das andre nicht zu Ende geführte Werk ist der Ausgleich mit Indien, der mit der Round-Table-Konferenz begonnen hat. Bei diesem Unternehmen, das zunächst unter schlechten Sternen stand, hat sich MacDonald am besten bewährt, und er mag sich sagen, daß er zur Fortführung geeigneter ist als selbst ein so konzilianter konservativer Premierminister wie Stanley Baldwin. Mit Rücksicht auf die indische Frage ist wohl auch der Lordkanzler Sankey im Kabinett geblieben, der bei den Verhandlungen einen überlegenen Geist bewiesen hat. Dieser unerwartet gute Ausgang der ersten Konferenz mit den indischen Vertretern mag in MacDonald die Vorstellung erweckt haben, daß sich alles am besten am runden Tisch regeln läßt. Auch die Finanzkrise, auch die innere Politik. So spielte er in dem Augenblick, wo nach Menschendenken seine Herrschaft abgelaufen schien, die Karte des Konzentrationskabinetts aus. Und so sieht heute die ganze Welt etwas erstaunt auf eine englische Regierung, in der sämtliche Parteiführer sitzen. Diese Regierung hat ihr eignes Dasein nur kurz befristet. Sie will nur das Budget in Ordnung bringen und dann Neuwahlen ausschreiben. Und dann soll wieder eine Partei die ganze Verantwortung übernehmen.

Für das wirtschaftspolitische Versagen der Labourists kommt mildernd in Betracht, daß sie im Parlament keine absolute Majorität hatten, sondern auf die Unterstützung der Liberalen angewiesen waren. Sie konnten also keine eigne Idee entwickeln, und MacDonald war nicht ganz im Unrecht, als er die Verantwortung für das Defizit von 120 Millionen auch auf die Schultern der andern Parteien legte. Der Bericht der Sparkommission, die alles in Ordnung bringen sollte, hatte ein arges Dilemma geschaffen. Zwei Vorschläge standen sich gegenüber. Der eine forderte eine Kürzung der Arbeitslosenbeiträge, der andre einen zehnprozentigen Zollzuschlag auf alle eingeführten Waren. Gegen den ersten Punkt standen die Gewerkschaften, gegen den zweiten die liberalen Freihändler. So war also eine Einigung nicht zu erzielen, und der Premierminister wagte vor einem unausgeglichenen Budget, mitten in einer internationalen Kapitalkrise keine Neuwahlen zu veranstalten.

Vielleicht wäre trotzdem manches anders gekommen, wenn in diesen kritischen Wochen nicht Lloyd George, der wirklich konstruktive Kopf, auf den Tod krank niedergelegen hätte. Die Sozialisten MacDonald und Snowden haben sich dem Diktat der City bedingungslos unterworfen. Lloyd George, der alte Liberale mit dem echt revolutionären Temperament, dem England seine Sozialpolitik verdankt und der erst kürzlich den Citybankiers ihre Rückständigkeit und Selbstzufriedenheit in härtesten Worten vorgeworfen hat, wäre wohl imstande gewesen, eine Lösung zu finden, die weniger auf Kosten der breiten Massen erfolgt wäre. Denn er hat oft genug die Fähigkeit bewiesen, seinen Willen durchzusetzen. Und grade in den letzten beiden Jahren hat Lloyd George im Parlament wiederholt den stürmischen Beifall der Labourfraktion gefunden, nicht grade zur Freude MacDonalds.

England hat also jetzt seine »nationale Regierung«, eine Tatsache, deren Ausstrahlungen unbestreitbar sind. Auch Hugenberg und Hitler begreifen das, und die ›Deutsche Allgemeine Zeitung‹ dringt schon darauf, das englische Beispiel nachzuahmen. Léon Blum wirft im ›Populaire‹ seinem Genossen MacDonald vor, er habe die Reaktion der ganzen Welt ermuntert und damit unnennbaren Schaden angerichtet. Wir glauben, er hat nicht nur der politischen Reaktion ein Zeichen gegeben, er hat vor allem die Sozialreaktion gestärkt. Indem die mächtige englische Regierung unters Joch der amerikanischen Bankiers ging, die für ihre Kredithilfe die Herabminderung der Arbeitslosenbeiträge verlangten, hat sie dem Dünkel des innerlich so ratlos gewordenen kapitalistischen Systems einen gewaltigen Triumph verschafft. Überall wird jetzt gegen die nirgends überreich dotierte Sozialpolitik Sturm gelaufen werden, als ob diese paar Millionen im Budget für die krisenhafte Hemmung im kapitalistischen Organismus verantwortlich wären.

Es gibt aber noch ein andres weniger niederschlagendes Beispiel, und das ist die feste und affektlose Art, in der Labour Party und Trade Unions die Trennung von ihrem berühmten und schon historisch gewordenen Führer vollziehen. Das ist ein Vorgang ohne gleichen. Man vergleiche das mit Auseinandersetzungen in deutschen Parteien. Es gibt kein Spaltungsgeschrei und nicht mal eine nennenswerte Spaltung. Partei und Gewerkschaften notifizieren Herrn MacDonald ganz einfach, daß sie ihn für einen Staatsmann voll bester Eigenschaften halten, daß sie aber nicht imstande sind, sich mit ihm an den runden Tisch zu setzen, wo Arbeiterinteressen verhandelt werden. Es wäre vergebliches Bemühen, aus den scheidenden Kabinettsministern Radikale zu machen. Clynes und Henderson sind nicht revolutionärer als Leipart oder Wels. Aber sie haben die bescheidene Wahrheit nicht vergessen, daß Arbeitervertreter vor allem Arbeiterinteressen wahrzunehmen haben. Unsre großen sozialdemokratischen Führer dagegen fühlen sich immer »im Dienste der ganzen Nation«. Die englische Arbeiterschaft steht wahrhaftig nicht mit dem Klassenkampf auf du und ist hoffnungslos unmarxistisch, aber sie lehnt es ab, für hochpolitische Extratouren ihrer Vertrauensmänner an ihrem Magen gestraft zu werden. Dann spielt sie eben nicht mehr mit. Diese besondere Seite der letzten englischen Ereignisse sei unsern sozialdemokratischen Mitbürgern zum eingehenden Nachdenken überlassen.

Die Weltbühne, 1. September 1931


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