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Völker ohne Signale

»Fighting Téméraire«

Die Meuterei der britischen Hochseeflotte hat weder in England noch anderswo viele Federn in Bewegung gesetzt. Das ist nicht verwunderlich, denn niemand, der an alten Autoritäten hängt, kann in diesem Ereignis etwas andres als ein furchtbares Menetekel erblicken. Diese Blaujacken streikten nicht mit dem fegenden Furor der Leute vom »Potemkin«, sondern eher mit der saubern Präzision der bengalischen Wollweber, Gandhis waffenlosen Streitscharen. Der Witz daran war, daß die Matrosen selbst nicht ahnten, wie überaus revolutionär sie handelten. Sie kämpften weder für ein Ideal noch für eine großartige Realität, sie protestierten nur gegen eine Soldkürzung, und sie führten das mit den guten Nerven von Arbeiterjungen durch, die ihre Schulung von der gediegensten Gewerkschafts-Bureaukratie der ganzen Welt erhalten haben. Auch den jüngern Offizieren schien die Sache Spaß zu machen; sie hielten großenteils mit. Die Regierung gab bleich und still nach. Die selbe Regierung, deren Schatzkanzler noch ein paar Tage vorher seine patriotische Budgetrede mit der »Stimme Nelsons« geschlossen hatte. Durch den Mund Horatio Nelsons, ließ Swinburne, vor dreißig Jahren der poeta laureatus, verkünden, daß »England stehen wird«. Nun, in der Admiralität, wo Austen Chamberlain regiert, war von Nelsons Stimme nichts zu hören, und England stand nicht, sondern gab klein bei.

In diesen Tagen ist in deutscher Sprache das ungewöhnlich aufschlußreiche Buch des berühmten französischen Soziologen André Siegfried über das heutige England erschienen. (Die englische Krise, S. Fischer Verlag.) Das ist eine erschütternde Untersuchung über Größe und Verfall eines Reiches und einer Wirtschaft, ihr Wert liegt in den Zustandsschilderungen, die turmhoch über den engen manchester-liberalen Schlußfolgerungen des Verfassers stehen. André Siegfried behandelt eingehend den von Gewerkschaften und Unternehmern geführten Streit um das Lohnniveau. Dazu schreibt er die sehr bezeichnenden Sätze: »Doch in diesem Streit ist, wir täuschen uns hierin nicht, die öffentliche Meinung auf Seiten des Arbeiters; was übrigens in einem Lande von Arbeitern nicht weiter erstaunlich ist. Kein Politiker, selbst ein konservativer, würde es wagen, diese etwas unklare, doch nicht zu erschütternde Anschauung direkt anzugreifen. Dem Refrain vom standard of living begegnet man unfehlbar in den Reden der Konservativen ebenso wie in den Reden der Arbeiterparteiler. Es geht hier um die englische Würde, heißt es.«

»In einem Lande von Arbeitern ...«! Man beachte das! Denn hier sagt der französische Liberale klipp und klar, daß die Arbeiterschaft die Mehrheit bildet. Dieses Wissen hat er der englischen Arbeiterschaft voraus, die wie jede andre, über dem Ringen um die parlamentarische Majorität ihr zahlenmäßiges Übergewicht als Klasse vergißt. Der Kampf um Parlamentssitze spaltet in Parteien, der Kampf um die Sammlung der Klasse muß beinahe automatisch zur Eroberung der Macht führen und den Zwiespalt zwischen Gesellschaft und Staat beenden. Die meuternden Matrosen wissen selbst nicht, über was für furchtbare Waffen sie verfügen. Sie glaubten, nur eine Lohnbewegung zu führen, und der ganze Staat kam dabei ins Wackeln. Die Matrosen von Invergordon, die ihre Lohnbewegung mit einem aus rauhen, ehrlichen Kehlen strömenden »God save the King!« beendigten, waren um nichts rebellischer als die Filmmatrosen der »Schlacht von Bademünde«, die einer Schürze halber einen Privatkrieg gegen die Landstreitkräfte eröffnen. Der britische Matrose hat wie ein junger, täppischer Riese gespielt, der den kleinen Staat da unten mal in die Hand nimmt, um sich das komische Gewimmel näher anzusehen. Wie sie nervös durcheinanderlaufen, die würdigen alten Herren, wie die Zöpfe wackeln! Aber Gulliver macht das Spaß, er denkt gar nicht daran, die Regierung von Liliput zu laidieren, er setzt sie behutsam wieder auf den Boden. Jedoch gesetzt, es stäche ihn in diesem Augenblick eine Mücke, so ließe er das Ding fallen und es wäre in tausend Stücke zerbrochen. Gegen eine organisierte Masse gibt es keine Macht; wo ein organisierter Volkskörper sich erhebt, da klappt die bestens organisierte staatliche Autorität zusammen wie ein Gebilde aus Pappmache.

So weit ist es noch nicht, noch kämpft England, und weil es redlich und ohne Großsprecherei in einen Kampf trat, der die Dämmerstunde der alten britischen Größe einleitet, so hat es Sympathie und guten Wunsch auf seiner Seite. Es wirkt jetzt ein wenig wie der »Fighting Téméraire« auf dem berühmten Bilde von Turner in der Tate-Gallery. Da wird der »Téméraire«, das alte Admiralschiff aus der Nelsonzeit, zum letzten Male durch den Hafen gezogen. Durch den grauen und braunen Nebel fällt ein Abschiedsschimmer von Purpur und Gold auf ein rührendes hölzernes Gespenst im verschlissenen Paraderock. Ein letztes Mal reckt es die morschen Masten, ein letztes Mal greift der Wind an die müden Rahen. Doch vor ihm, in schwarzem Rauch, schneidet ein kleiner Schleppdampfer scharfe, sichere Furchen. Er hat den tapferen alten Invaliden fest an der Kette und holt ihn ins Dock, wo er für immer abgewrackt wird.

Der »Fighting Téméraire« im Abendrot, das ist Britannia, das ist die ganze kapitalistische Welt. Aber wo ist die Ablösung? Wo ist der Bote der neuen Zeit?

Um Seydewitz

Der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei hat sich jetzt endgültig entschlossen, mit der Opposition aufzuräumen. Die acht Abgeordneten: Max Seydewitz, Kurt Rosenfeld, Heinrich Ströbel, August Siemsen, Walter Oettinghaus, Paul Bergmann, Andreas Portune und Hans Ziegler sind in diesem Augenblick so gut wie vor die Tür gesetzt. Eine Unterwerfung würde nur ihr politisches Ansehen zerstören, aber kaum die Bewegung beenden, die hinter ihnen steht. Ihre Anhängerschaft ist schwer zu übersehen. Daß sie, wie in der sozialistischen Parteipresse behauptet wird, die Organisationen in ihren eignen Wahlkreisen nicht hinter sich haben, besagt wenig. Opposition rührt sich in der ganzen Sozialdemokratischen Partei; keine Sektion ist frei davon. Es kommt nicht darauf an, in welcher Kopfstärke die Revolteure heute abziehen, sondern was die Partei morgen und übermorgen tun wird, um ihren Bestand zu erhalten. Eines aber ist sicher: wenn Seydewitz und sein Anhang auch diesmal nicht zur Tat kommen, so flutet die Unzufriedenheit der Arbeitermassen auch über sie hinweg, und die Kommunisten werden die einzigen Erben sein.

Herr Rudolf Hilferding soll seit einiger Zeit die Meinung vertreten, eine zweite, um einige Tongrade schärfere sozialistische Partei wäre notwendig, um nicht alle Genossen, die für Aufgabe der Tolerierungspolitik sind, an die Kommunistische Partei abzutreten. Man brauche eine Zwischenpartei, mit der man sich später wieder vertragen könne. Herr Hilferding, vor zwanzig Jahren ein rüstiger Kritiker des Finanzkapitals, hat sich in diesen letzten Jahren als einer der größten Dummköpfe erwiesen, die in der ohnehin nicht gut beratenen Sozialdemokratie ihr Wesen treiben. Was für eine Albernheit anzunehmen, man könnte eine Spaltung arrangieren und sich die Opposition, die man in der Partei nicht dulden will, außerhalb des Hauses gleichsam à la suite halten! Weiß dieser austro-marxistische Abfall, der übrigens in Deutschland sehr weich gefallen ist, nicht, daß die Dinge ihre eigne Logik haben und namentlich in dieser Zeit einer rapiden Entwicklung die Sezession nicht bald in ganz andre Richtung getrieben werden kann? Otto Wels ist der richtige Hausknecht, sein strammer Zugriff kann imponieren. Unerträglich ist nur der diplomatisch gebildete Hausknecht, der sein Opfer übers Geländer wirft und ihm dabei noch ins Ohr flüstert, warum dies Verfahren das Beste für ihn sei. Eine neue Partei, die von vornherein im Verdacht steht, Partnerin in einem Spiel mit verteilten Rollen zu sein, wird natürlich niemals wirksam werden, wird auch den bescheidenen Zweck verfehlen, den ihr Hilferdings akkumulierte geistige Unzulänglichkeit zugesteht.

Eine Opposition, außerhalb der Tore künstlich gehalten, das ist die Idee eines Macchiavells von der Hintertreppe. Was der Sozialdemokratie not tut, das ist eine funktionierende und ideologisch gut fundierte Opposition innerhalb des Parteihauses. Diese Möglichkeit hat der Parteivorstand nicht ausreifen lassen. Man hat Seydewitz und die andern Wortführer der Linken stets wie eine Ansammlung lästiger Krakehler behandelt, man hat sie auf den Parteitagen schikaniert und verhöhnt, man ist ihnen wie Schulbuben ins Wort gefahren. Auf dem leipziger Parteitag vor einigen Monaten war das Auftreten der Opposition in nichts mehr von einem ganz ordinären Spießrutenlaufen unterschieden. Dieselben Leute, die in ihren Volksversammlungen die Demokratie als Universalmittel empfehlen, haben zu Haus die einfachsten Rechte von Meinungsfreiheit suspendiert. Sie fanden dafür die seltsame Form, sogenannte Gruppenbildungen zu verbieten, das Zusammentun von Gleichgesinnten von vornherein als Sonderbündelei zu brandmarken.

Es ist wohl selbstverständlich, daß keine Millionenpartei ohne Flügelgruppen existieren kann. Wir wollen ganz von den besondern englischen Verhältnissen absehen, wo die stärksten Impulse immer von Korporationen Gleichgesinnter ausgingen, die ganz offen erklärten, sie wollten Einfluß auf die Labour Party gewinnen. A propos, kann sich jemand die Entwicklung dieser Partei vom Handwerkerverein zur akkreditierten Regierungspartei ohne die geistige Formung durch die Männer der Fabian Society vorstellen? In Deutschland wäre es ohne Zweifel verpönt, sich mit zweifelhaften Intellektuellen wie Shaw und Wells zusammenzusetzen. Die französische Sozialistenpartei kennt die beiden Flügelmänner Zieromski und Paul-Boncour und steht sich gut dabei. Die deutsche Sozialdemokratie aber verkündet die Diktatur der Strohköpfe, und das in einer Zeit, wo alle Dinge in Fluß sind, wie seit langem nicht, und eine verständig geleitete Partei alle ihre Nuancen liebevoll pflegen müßte, denn niemand weiß, welche sie morgen schon einzusetzen hat.

Die alte Sozialdemokratie der Vorkriegszeit ist groß geworden im Kampfe von zwei leidenschaftlich um die Macht streitenden Gruppen. Radikale und Reformisten haben erbittert um die Herrschaft gerungen, es hat der Partei nichts geschadet. Sie blieb schlagkräftig. Ohne Eduard Bernstein und Georg von Vollmar rechts und Rosa Luxemburg und Georg Ledebour links läßt sich das historische Bild der Partei nicht mehr vorstellen. Ja, wenn wir von der alten Sozialdemokratie sprechen, so denken wir vornehmlich an diese Extreme, am wenigsten an die brave Mitte, an die Scheidemänner, die den radikalen Zungenschlag übrigens auch gut weghatten. Noch heute existiert aus dieser Zeit das Organ der Revisionisten, die ›Sozialistischen Monatshefte‹, und wenn dies einst von Eduard Bernstein ins Leben gerufene Blatt auch schon lange über seine Vergangenheit hinausgewachsen ist, so erfüllt es doch mit seinem scharf abgegrenzten Mitarbeiterkreis, mit seiner von der Partei sonst nicht goutierten Kontinentalpolitik und mit seinem alljährlichen Sozialistenball, zu dem selbst Kommunisten Zutritt haben, falls sie die Examination durch Frau Bloch lebendig überstehen, offensichtlich die juristischen Merkmale einer Gruppe. Ich möchte beileibe keine weitern Tschekainstinkte aufkitzeln, aber die Linke um Seydewitz bildet nicht die einzige »Gruppe« in der Partei. Weiter hat der hochmögende Vorstand die Mitgliedschaft in der Deutschen Friedensgesellschaft verboten. Selbst die Kommunisten, denen doch niemand überströmende Duldsamkeit nachsagen kann, suchen in den von Münzenberg geschaffenen Organisationen sogenannte Sympathisierende zu sammeln. Und wenn die dort Zugelassenen auch oft genug über eine wechselvolle Behandlung zu klagen haben, wenn ihnen der Eine noch gönnerhaft den Kopf kraut, während sie der Andre schon in den Hintern tritt, so liegt doch in dieser Heranziehung von Bürgerlichen die deutliche Anerkennung der Tatsache, daß es eine Außenwelt gibt, daß der Parteikral nicht alles ist. Wenn aber die Sozialdemokratie sich schon zur Autarkie bekennen will, warum pfeift sie dann nicht die Genossen zurück, die noch immer in betont nichtsozialistischen Vereinigungen sitzen, zum Beispiel, in den Schuldlügeverbänden? Und wenn es Sozialdemokraten verwehrt sein soll, bei Kommunisten und Pazifisten zu hospitieren, warum verbietet sie nicht den organisierten Parteigenossen redaktionelle Tätigkeit in bürgerlichen Blättern? Man braucht doch nur irgend ein Scharfmacherorgan auszuklopfen und es fällt ein sozialdemokratischer Schriftleiter heraus. Und selbst in der politischen Redaktion des ehemals liberalen und heute schwerindustriell infizierten ›Berliner Börsen-Couriers‹, wo ständig die Herabsetzung der Löhne als Allheilmittel verkündet wird, wirkt ein Mitglied der Sozialdemokratie mit, die Gattin des Roggenorganisators Baade. Die Partei denkt aber gar nicht daran, alle diese – sagen wir – weit vorgeschobenen Außenposten einzuziehen, sie wendet sich nur gegen links.

Die Sozialdemokratie kann es sich heute nicht mehr erlauben, Meinungsverschiedenheiten nach dem Hausknechtskomment zu regeln. Nachdem eine zum Teil durchaus gefühlsmäßige Unzufriedenheit sich bis in die Fundamente der Partei hineingefressen hat, kann jetzt sehr leicht alles ins Rutschen kommen. Gewiß sind die Aussichten einer Sezession heute unbestimmt, die Gefahr für die Gesamtpartei liegt darin, daß die Genossen, die bisher hilflos mit den Fäusten gegen die Wände gehämmert haben, plötzlich einen Ausgang sehen und hinausströmen. Im Varieté kann man gelegentlich den Mann bewundern, der sich selbst hinauswirft. Das heißt, es nimmt sich einer selbst am Kragen und zieht sich aus Leibeskräften durch einen engen Türspalt. Die Sozialdemokratie ist auf dem besten Wege, sich selbst hinauszuschmeißen. Vielleicht wird Herr Brüning in einem Anfall von Großmut den um Braun und Severing verbleibenden Rest durch eine Notverordnung zum Naturschutzpark erklären, damit die heranwachsende Generation sieht, wie zwischen 1920 und 1930 regiert wurde.

Humor der Woche

»Brauchen wir noch eine Lehre aus dieser neuen Erfahrung zu ziehen? Die kapitalistische Weltordnung ist wirklich reif zum Abbruch geworden! Die große historische Aufgabe unsrer Zeit ist, die Kräfte der Arbeiterschaft zu sammeln, um durch den siegreichen Vormarsch der geeinten Arbeiterklasse die neue Weltordnung durchzusetzen. Proletarier aller Länder und eines jeden Landes vereinigt euch – in diesem Zeichen muß und wird der Sozialismus siegen!« (›Vorwärts‹, 22. September 1931.)

Brüning und Hugenberg

Rätselhaft bleibt, warum der Sozialdemokratische Parteivorstand grade jetzt die Gegner der Tolerierungspolitik zu exmittieren beginnt, wo nach menschlichem Ermessen diese selbst in ihre letzte Stunde tritt. Warum die Einheit der Partei durch einen Putsch von oben gefährden, wo die Ereignisse selbst doch morgen schon eine Situation schaffen können, in der nichts mehr davon zur Debatte steht, was die Flügelbildung innerhalb der Partei in diesen letzten Jahren veranlaßte? Danach muß die Frage erlaubt sein, ob die Sozialdemokratie bereit ist, Brünings Winterprogramm, mag es ausfallen, wie es wolle, zu stützen – Lohnabbau und Sondergerichte, alles, alles. Und es muß weiter gefragt werden, ob sie sich also dazu entschlossen hat, nicht nur Brüning, sondern auch ein Kabinett Hugenberg-Brüning zu tolerieren, und ob die Hinauswurfzeremonie bereits als Vorbereitung dazu zu betrachten ist.

Auf dem deutschnationalen Parteitag in Stettin hat der alte Geheimrat Hugenberg mit einer verblüffenden Sicherheit gesprochen. Danach schien alles in Ordnung zu sein, und das national konzentrierte Kabinett Hugenberg unmittelbar bevorzustehen. Sogar für den welschen Erbfeind fiel ein freundliches Wort ab. Die teutoburger Moraste sollen ihn nicht mehr verschlingen, er soll in Frieden leben. Diese unerwartete Friedfertigkeit des alten Hammergottes hat einiges Erstaunen hervorgerufen. In der Tat gehen schon seit einiger Zeit Gerüchte, wonach die französische Regierung nur gegen Garantien für das Wohlverhalten der nationalistischen Opposition zur Hilfe für Deutschland bereit sei. Das hieße also, daß Frankreich eine offene Rechtsregierung einer fragilen demokratischen Regierung vorzieht, deren Bereich an Macht und Wirkung doch durch die rechte Opposition eng begrenzt wird. Solche Tendenzen mögen in Kreisen der französischen Schwerindustrie verbreitet sein, auch Herr François-Poncet mag ähnliches vorhaben. Hat doch auch Adolphus Rex, der Herr der braunen Heerscharen, seinen Mannen Demonstrationen gegen Laval und Briand untersagt. Gewiß, er kleidet das in Verachtung, aber daß er sich überhaupt zu einem solchen Verbot aufschwingt, läßt doch bei ihm zum erstenmal Ansätze von Politik ahnen.

Nun hat es mit dieser deutsch-französischen Verständigung aus dem Geiste der beiden Schwerindustrien seine eigne Bewandtnis. Die Beiden haben jahrelang nicht an Kosten gespart, den nationalistischen Hetzapparat auszubauen. Soll Hugenberg seinen Hussong anweisen, jetzt Liebesgeständnisse an Frankreich zu dichten? Industrie und Finanz möchten selbstverständlich lieber heute als morgen ihren Separatfrieden mit Paris machen. Aber der von ihnen gestaltete und genährte Nationalismus kann nicht so leicht ummontiert werden, er hat ein Eigenleben gewonnen, er hat die Volksseele durch und durch vergiftet. Die Herrschaften ersticken unter dem Gewichte der Hetzpresse und der Pamphlete, die sie selbst bezahlt haben.

So siegesgewiß Hugenberg auch in Stettin gesprochen hat, so unfreundlich war das Echo in der Zentrumspresse. Namentlich die ›Germania‹, das Blatt des Kanzlers, reagierte mit einer fast forciert wirkenden Schärfe. So rückt die Verbrüderung wieder einmal in die Ferne, und Brüning behauptet noch weiter als Alleinherrscher seinen Platz. Dort wird ihn weder die Betriebsamkeit Dingeldeys stören, noch die komische Anstrengung der bürgerlichen Parteikadaver, eine Einheitspartei der Mitte zu schaffen. Diese Parteien sind erledigt, sie sind schon nicht mehr als Etiketten. Die einzige gefährliche Bedrohung Brünings kann nur durch neue Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse kommen. Wenn eine neue Katastrophenwelle durchs Land rast, wenn Hungerrevolten ausbrechen und die Drohung der Massen sich nicht mehr gegen den französischen Erbfeind richtet sondern direkt gegen die Regierung, dann kann der Zentrumspartei die Alleinverantwortung zu gefährlich werden, dann kann sie es doch vorziehen, die Verantwortung mit der Rechten zu teilen oder sie ganz an diese abzutreten. Das Gleiche kann eintreten, wenn die Sozialdemokratie zerbröckelt, die Gewerkschaften ihre Leute nicht mehr bei der Stange halten können.

Was die Diktatur Brüning von der Diktatur Hugenberg unterscheidet, ist lediglich die schwächere Sprache. Mindestens bereitet der gegenwärtige Diktator die Formen, in die der rabiatere Nachfolger mühelos einsteigen kann. Die Notverordnungen sind zunächst einmal da – was läßt sich nicht alles mit ihnen anfangen? Die meisten Grundrechte der Verfassung sind aufgehoben. Die Sondergerichte, die jetzt eingeführt werden sollen, können, sobald die Zustände es erfordern, Standgerichte werden. Jedenfalls ist für Herrn Hugenbergs Regime gründlich vorgearbeitet worden. Er braucht sich nicht mehr mit groben Arbeiten die Finger schmutzig zu machen, er braucht nur noch zu unterschreiben.

*

»Das letzte Gefecht«

Eine Zitadelle des Kapitalismus nach der andern bricht zusammen. Machtpositionen und Doktrine wanken. Niemand stürmt von außen, alte Konstruktionsfehler rächen sich, und der Bau fällt in sich zusammen. Das englische Pfund, durch ein Jahrhundert ein venerabler Begriff, gibt sich selbst preis und sinkt in die monetarische Halbwelt. Andre Währungen können morgen folgen, gewaltige Banken und Trusts wie Zunder auseinanderfallen, strotzende nationale Wirtschaftskörper plötzlich bresthaft werden. Wie lange der Kapitalismus noch leben wird, mag Herr Ferdinand Fried ausrechnen, der ja auch herausgerechnet hat, daß wir uns jetzt im achtzehnten Jahr der Revolution befinden, wobei er wahrscheinlich mit 1913 beginnt, denn 1918 zählt als Revolutionsjahr kaum mit. Und trotzdem scheint ein solches Rechenkunststück noch realer zu sein als das in den großen Handelsredaktionen betriebene Gesellschaftsspiel, eine Wirtschaft zu analysieren, die es nicht mehr gibt, sich über Papiere zu verbreiten, die morgen kaum ihren Materialwert haben werden, und sich über einen Markt eingehend zu äußern, der mangels Beteiligung aufgehört hat, einer zu sein und in tiefstem Frieden daliegt. Alles hat sich grotesk ins Gegenteil verkehrt. Der Kapitalismus hat aufgehört, seinen bisherigen Favoriten Spaß zu machen. Er ist zu einer schweren Last für seine Träger geworden. Und wenn die reichen Leute früher in gelegentlichen Anwandlungen von moralischem Snobismus gern behauptet haben, daß sie unter dem Kapitalismus eigentlich furchtbar litten, so hat auch das heute seine Wahrheit erhalten. Allerdings ist auch gar nichts mehr da. Unternehmer verfluchen ihre Selbständigkeit, Bankiers warten auf die Sozialisierung wie früher auf die Dividenden. Diese Generation von Kapitalisten ist wirklich eine Lazarusschicht, sie büßt für die Sünden der Vorangegangenen.

Die ganz Schlauen hoffen auf eine kleine Inflation. Sie werden sich täuschen. Der Glaube ans Geld ist erschüttert, die Freude daran verlorengegangen, der Ärger an der Wirtschaft ist geblieben. Geleugnet werden kann natürlich nicht, daß Deutschland für eine neue Inflation seelisch aufs trefflichste vorbereitet ist. Die Korruptionsskandale wachsen, die letzten Begriffe von Scham und Anstand gehen vor die Hunde, und die deutsche Frau, die eben noch in nationaler Politik dem Mann gleichtat und allem welschen Wesen mit der Feuerzange zu Leibe ging, hat die Fahne verlassen und sich definitiv auf spanischen Unterricht zurückgezogen.

Eine Zeit ist um, aber wo sind die Erben? Niemand meldet sich. Sowjetrußland selbst, der Hort der Revolution, muß fürchten, seine Kunden zu verlieren, und hat alles Interesse, seine kommerziellen Verbindungen von dem zweifelhaften Abenteuer eines antikapitalistischen Aufruhrs fernzuhalten. Die Menschen torkeln zwischen Trümmern eines Systems, ratlos, kopflos. Ein paar Generationen haben die Hymne gesungen von den »Signalen«, auf die die Völker hören sollen, und dann den Vers vom »letzten Gefecht«. Es ist wohl kein Zweifel, daß wir heute mitten in diesem letzten Gefecht stehen. Aber die Signale sind verstummt. Fast scheint es, als ob der Weltbankrott die Teilhaber der einzelnen Nationalpleiten eher beruhigt als revolutioniert. Aber vielleicht ist das nur die Ermüdung des Augenblicks, und morgen kann der Menschheit schon die Schlachtmusik der Zukunft in die Ohren dröhnen.

Die Weltbühne, 29. September 1931


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