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Zehrer und Fried

Das Chaos ist des Deutschen Himmelreich. Das lateinische Genie mag in heller Mittagshöhe blühen, der deutsche Geist entfaltet sich am reichsten, wenn durch graue Nebelschwaden schon rot die Katastrophe leuchtet. Der wankende soziale Boden unter ihm ist gleichsam der ideale Exerzierplatz seiner Spekulationen. Neben Otto Straßer und Ernst Jünger repräsentiert der Mitarbeiterkreis der ›Tat‹ heute am deutlichsten die Verwirrung liberalistischer Bürger, die sich vor dem drohenden ökonomischen Weltuntergang laut schreiend und mit ekstatischen Gebärden dem Rechtsradikalismus in die Arme werfen.

Jahrelang haben die Ullsteinredakteure Hans Zehrer und Friedrich Zimmermann in der Kochstraße gewirkt, ohne eine seherische Begabung merkbar werden zu lassen. Aber als die große Krise hereinbrach, als die Kurse stürzten, die Märkte verkrachten und das ganze Bankiergewerbe suspekt zu werden begann, da wurde den beiden apokalyptisch zu Mute. Sie hatten Gesichte und redeten in Zungen, spitze, blaue Sankt-Elms-Flämmchen über der Stirn. So zogen sie in das bekömmliche Seelenklima der Diederichsschen ›Tat‹ ein, wo Zehrer eine aus reaktionären und sozialistischen Elementen gemischte romantische Staatslehre entwickelte, während Zimmermann, der sich nunmehr Ferdinand Fried nannte, die Autarkie proklamierte und sich in tiefgreifenden Wirtschaftsanalysen sachkundig über das Alter der Aufsichtsräte äußerte. Hier wurde also mit vereinten Kräften das Chaos angesagt, hier wurde Hitler überhitlert und der Nationalsozialismus in eine moderne Bildungssprache übertragen, ohne aber in dieser Verkleidung etwas von seinem natürlichen Charme einzubüßen.

In der letzten Zeit kann man nun bei den Aposteln des Chaos, das, wohlgemerkt, immer höchst gesittet ist und so, daß der deutsche Bürger sich darin am Sonntag wohlfühlt, einen offensichtlichen Umschwung wahrnehmen. Das prophetische Feuerwerk prasselt nicht mehr so dicht, eine gewisse Orientierung an politischen Fakten wird angestrebt. Die Herrschaften verfügen jetzt in der ›Täglichen Rundschau‹ auch über ein in Berlin erscheinendes Journal. Vielleicht nicht ohne Rücksicht auf dessen hohe Gönnerschaften, über die sich die ›Weltbühne‹ schon wiederholt geäußert hat, ist die »totale Revolution« einstweilen zurückgestellt worden. Dagegen wurde der enge Anschluß an das autoritäre Regime oder wenigstens an dessen militärische Teilhaber perfekt; nur Herr v. Papen wird, als der Gemeinde der Erleuchteten nicht würdig, abgelehnt. Zehrer propagiert jetzt den präsidialen Absolutismus: »Solange sich der Volkswille noch nicht formiert hat und solange er noch keine Einheit, Geschlossenheit und Zielsetzung besitzt, hat die Koalition zwischen auctoritas und potestas die Möglichkeit, den Volkswillen zu repräsentieren.« Nicht in die Geheimlehre der ›Tat‹ Eingeweihte werden damit nicht mehr anfangen können, als wenn dort statt »auctoritas« und »potestas« »Wilmersdorf« und »Friedenau« stünde. Aber Zehrer belehrt uns, daß Hindenburg die »auctoritas« verkörpert und die Reichswehr die »potestas« und daß er diese Einsichten dem namhaften Staatsrechtler Carl Schmitt verdankt, der vor etwa zehn Jahren, als er sich noch Schmitt-Dorotič nannte, ein interessantes Buch über »Politische Romantik« geschrieben hat. Adolf Hitler, gestern noch der Hausgott der ›Tat‹, wird von Zehrer kühl in die Reserve verwiesen. »Es würde eine Verkennung seiner Aufgabe sein, wollte er sich und seinen Mythos heute durch die Übernahme eines Amtes gefährden.« Ordnung muß sein: der Mythos gehört in den Glasschrank.

Die »neutrale Staatsgewalt« der ›Tat‹ soll aus Reichspräsident, Armee und Bureaukratie bestehen. Denn der Volkswille hat sich noch nicht kristallisiert und kann deshalb nicht berücksichtigt werden. Sollte er sich aber doch mausig machen, so gibt Zehrer für alle Fälle wertvolle Winke zu seiner Eskamotierung. Muß erst lange bewiesen werden, daß diese »Neutralität« des Staates eine Fiktion ist? Noch jede Staatsgewalt, die der Volksvertretung Rechte abringen wollte, hat sich bisher überparteilich getarnt, hat sich neutral genannt. Es ist ganz unmöglich, daß in revolutionären Phasen, wo alle sozialen Schichten zu rotieren beginnen, der Staat allein von der allgemeinen Dynamik nicht ergriffen werden sollte. Der absolute und fest in sich ruhende Staat, der einen erhabenen Bogen über das kleine Menschengewimmel wölbt, ist eine Philosophenfabel aus der Metternichzeit. Die Herren von der ›Tat‹ aber packen ihrer »neutralen Staatsgewalt« die Zentnergewichte eines antikapitalistischen Reformprogramms auf: sie soll Kohle und Eisen nationalisieren, ganze Industrien in Monopole des Reichs verwandeln und überhaupt die Ablösung der Erwerbswirtschaft durch Gemeinwirtschaft vorbereiten. Nun haben die großen Sozialisten des vorigen Jahrhunderts der Arbeiterklasse den Sozialismus als historische Aufgabe gestellt, ihn damit also unabhängig gemacht von dem guten Willen der jeweils Regierenden. Ob das eine befriedigende Antwort ist oder nicht, der Sozialismus ist damit aus der Utopie in die Wissenschaft gerückt, niemand hat bisher eine bessere Antwort gegeben. Wenn Zehrer und Fried die neue Gesellschaft lieber von Hindenburg und Schleicher dekretiert wissen möchten, so braucht man nicht erst Karl Marx zu beschwören: es ist eine durchaus vormarxistische Erfahrung, daß die Weltgeschichte keine Göttergeschenke macht. Auch der Sozialismus fällt nicht wie eine goldene Herbstfrucht vom Baum, er muß mühsam erkämpft werden.

Es ist doch eine etwas naive Vorstellung, eine aus kapitalistischen, militaristischen und agrarfeudalistischen Elementen zusammengewürfelte Staatsmacht könnte jemals bereit sein, ihre eignen gesellschaftlichen Fundamente zu zerstören. Glaubt Herr Zehrer wirklich, Hindenburgs Unterschrift genügte, um den Sozialismus durch das legale Hauptportal einzulassen? Gewiß, was dem Reichspräsidenten heute von einem byzantinischen Tellerleckertum an Machtfülle zugesprochen wird, dafür gibt es überhaupt keine profane Analogie. Das erinnert an die katholische Lehre vom Gnadenschatz der Kirche, über den nur der Papst die Schlüsselgewalt besitzt, oder gleich an den Dalai Lama. Wenn aber Herr von Hindenburg wirklich den Schlüssel gebrauchen wollte, um das staatssozialistische Himmelreich zu öffnen, so würde das höchst dramatische Folgen nach sich ziehen. Dieselbe Korona serviler Juristen, die sich in Leipzig eben noch um die Statuierung präsidialer Allmacht bemühte, würde mit der gleichen Beredsamkeit das Recht der Auflehnung gegen eine schlechte Obrigkeit begründen. »Professoren und Huren kann man immer haben«, sagte der selige König von Hannover. Er hatte gewiß nicht viel Geist, aber er sprach aus der Erfahrung der Macht.

Es tut nichts zur Sache, daß Herr v. Schleicher mit den Vorstellungen des ›Tat‹-Kreises lebhaft sympathisiert und zu den führenden Herren die angenehmsten Beziehungen unterhält. Zehrer und Fried mögen sich nicht wenig geschmeichelt fühlen, daß der Reichswehrminister sich von ihnen theoretisch versorgen läßt wie Cesare Borgia von Macchiavelli, aber es spricht gegen ihre praktische Lebenserfahrung, daß sie sich dadurch zu Illusionen verleiten lassen. Es ist das Kennzeichen von Salonpolitikern und Amateuren aller Grade, der Menschheit dadurch auf die Strümpfe helfen zu wollen, daß sie für ihre Originalidee einen Millionär oder Minister zu gewinnen trachten. Jeder von uns ist schon einmal dem freundlichen Dilettanten begegnet, der nur noch die hunderttausend Mark von Rothschild braucht, um die Armut für immer aus der Welt zu schaffen. Mögen sich Staatsmänner noch so autoritär und absolut gebärden, sie vertreten niemals nur einen Einzelwillen sondern den Geist einer Klasse, der ihr Vollbringen und Gewähren abmißt und bindet. Bertha v. Suttner wollte den Weltfrieden auf den Zaren von Rußland gründen. Adolf Stöcker, der doch auch antikapitalistische Reformpläne wälzte, glaubte, auf Wilhelm II. bauen zu können, der sich damals grade als »Arbeiterkaiser« aufmachte. Coudenhove-Kalergi wirbt für sein Paneuropa jene rosigen Exzellenzen genfer Provenienz, die vor allem schuld sind, daß Europa so aussieht. Und Hans Zehrer hat sich da so etwas wie Sozialismus zurecht konstruiert und appelliert nun an Hindenburg und Schleicher, die Machtträger, als die Berufenen. Die brauchen nur ja zu sagen, und dann klappt die größte Veränderung seit tausend Jahren. Darwin hat einmal gesagt: »Wenn jemand zu mir kommt und behauptet, die Bohnen wachsen schneller, wenn er Violine spiele, so antworte ich nur: Well, machen Sie das vor!« Diese Chance hat auch Herr Zehrer noch für sich. Well, machen Sie das vor!

Was Herr Zehrer an Gründen für seinen Optimismus anführt, ist herzlich dünn: »Die deutsche Staatsgewalt hat heute diese große Chance. Sie ist einmal neutral, das heißt, den Gegensätzen der Organisationen nicht verhaftet und insofern keinem Interesse verpflichtet, und sie ist am Zuge, während die Organisationen unfähig sind, eine handlungsfähige Gewalt zustande zu bringen.« Herr Zehrer spricht, mit Verlaub, aus einem hohlen Faß. Wo wäre die gegenwärtige Regierungsgewalt einheitlich und »den Gegensätzen der Organisationen nicht verhaftet«? Falls Herr Zehrer es inzwischen nicht aus der Zeitung erfahren hat, dürfte die potestas es ihm wohl persönlich zugeflüstert haben, daß in dieser Regierung sich agrarische und industrielle Interessen scharf wie Sensenklingen kreuzen und daß diese autoritäre Regierung so sehr wie keine andre unter dem Diktat mächtiger Wirtschaftsgruppen steht. Übrigens ist es noch ein wahrer Segen, daß die Einflußsphäre der ›Tat‹ sich auf die Bendlerstraße beschränkt und sich nicht auf das Finanzministerium oder gar auf die Reichsbank erstreckt. Ferdinand Fried, der Ökonomist, rührt an gefährliche Bezirke, wenn er die Behauptung aufstellt, daß es in Deutschland nicht an Kapital fehlt, wohl aber an Geldumlaufsmitteln und daraus unerbittlich folgert: »Es muß Geld geschaffen werden!« Damit wären wir wieder bei der Inflation angekommen, die ja zum eisernen Bestand aller von rechts stammenden sozialen Umbauprojekte gehört. Fried trommelt zwar in gewohnter Weise sehr heftig für die Verstaatlichung des Kredits, aber der vernünftige Gedanke wird durch Vermengung mit inflationistischen Tendenzen nur diskreditiert. Die Auffassung, wonach »die Währung unangetastet« bleiben soll, bezeichnet Fried wegwerfend als »liberal-kapitalistisch«. In dem ausführlichen Sozialisierungsprogramm, das er im gleichen Zusammenhange veröffentlicht, vermissen wir den Großgrundbesitz. Der ist wohl allein nicht bresthaft sondern blühend und gesund. Oder will man das der auctoritas nicht zumuten?

Nach dem Fanfarengeschmetter, mit dem der ›Tat‹-Sozialismus vor ein paar Jahren ins Leben trat, ist das Ergebnis kümmerlich. Die Autarkie, an die Fried zunächst sein beträchtliches publizistisches Temperament setzte, ist beileibe nicht seine Erfindung sondern ein schon recht bemooster agrarischer Herzenswunsch. So bleiben also nur Zehrers Apologie der absoluten Präsidialgewalt und Frieds Begeisterung für ein bißchen Inflation. Das nennt man ein Fazit. Dennoch sei gern zugestanden, daß sich der ›Tat‹-Kreis seine Sache nicht leicht gemacht hat, daß er zu diesen Resultaten, die andern am hellen Tag zugeflogen sind, nur durch viele Ekstasen und Visionen gelangen konnte. Jetzt aber sind die Seher aus dem Hochschlaf erwacht, sie reiben sich die Augen und sind ganz zufrieden. Zehrer konstatiert, daß die 1918 begonnene Bewegung endlich zum Stillstand kommt. Wahrscheinlich hat die ›Tat‹ schon genug der Taten getan. Wir machen jetzt grade »die Wende« durch: »Heute ist die Revolution des Stimmzettels beendet, die Fronten der Parteien sind abgesteckt, eine Verschiebung ist nicht mehr zu erwarten. Die Fronten erstarren jetzt langsam, Wahlen vermögen sie nicht mehr zu erschüttern.« Das ist für so wortreiche Revolteure, für so heiße Agitatorenköpfe, die sich nicht beruhigen wollten, ohne die »Totalität« durchzusetzen, ein allzu bequemer Rückzug ins Privatleben. Die Herren wollen grade jetzt nach Hause gehen, wo es anfängt, interessant zu werden. Mögen die politischen Fronten auch in den letzten Monaten geronnen sein, wir wissen nicht, wie lange sie es bleiben werden. Und, was viel wichtiger ist, die sozialen Fronten sind es nicht. Die sind, im Gegenteil, wieder höchst flüssig geworden. Es ist nicht ohne Humor, daß Zehrer, der den großen Kladderadatsch unermüdlich an die Wand gemalt hat, heute, wo ein eigner Wille der Arbeiterschaft wieder manifest wird, wo diese sich zum erstenmal seit der unseligen Tolerierungsperiode wieder in sicher durchgeführten Streiks der Sozialreaktion erwehrt, die Kräfteverschiebung in Deutschland für beendet erklärt und hinter Präsidialgewalt und Reichswehr Deckung bezieht.

Das ist zwar ein wenig komisch, aber es ist nicht absonderlich. Mit dem Nachlassen der Depression im Klassenkampf verschwinden auch die eilfertig etablierten Zwischengruppen; die besonders aufgeregt tuenden intellektuellen Schrittmacher der Hitlerei erklären ihren Helden zum Mythos und suchen wieder solide Positionen im Schatten der reaktionären Staatsmacht. Das bedeutet durchaus nicht Verzicht auf radikalistische Phraseologie; dadurch entwickelt sich eine Phase voll ideologischen Durcheinanders, und davon profitieren auch Zehrer und Fried. Ihr Programm hat mit Sozialismus nicht das mindeste zu tun. Die Quintessenz ihrer Staatsidee ist eine Art nationalistischer Kollektivismus: die Armee dominiert, ihr Interesse steht obenan, und zu ihrer besseren Versorgung gehen ein paar Industrien in die öffentliche Hand über. Ein Militärstaat, ein Mameluckenstaat; der ganze Staat ein einziges Kriegsarsenal. Handel und Wandel reglementiert, nur die Herren Agrarier erfreuen sich einer unangetasteten peitschenknallenden Individualität. Eine sehr preußische Vision, also keine schöne. Seit Clausewitz gibt es so etwas wie eine borussische Kasinophilosophie, die dem Militarismus eine besondere volksbeglückende Mission zuspricht. Und dennoch sind die Sorgen der ›Deutschen Allgemeinen Zeitung‹ vor einem »feldgrauen Sozialismus«, wie sie die Richtung Zehrer-Fried nennt, nicht am Platze. Wenn wirklich ein General daran denken sollte, Banken und Schwerindustrie zu nationalisieren, so wird sich schon ein zweiter finden, dem seine Theoretiker nachweisen, daß es sich auch hier um köstliche Erbgüter der deutschen Seele handele, die nicht von dem rohen Materialismus des Staates verschluckt werden dürfen. Und ein General kann immer von einem andern geschlagen werden, das ist das einzige wirkliche militärische Geheimnis auf der Welt. Damit eröffnen sich für die deutsche Zukunft zwar nicht die heitersten Aspekte, aber solche bolivianischen Konsequenzen sind überall da unvermeidlich, wo die natürlichen sozialen Tendenzen unter militärisches Patronat geraten.

Die Weltbühne, 22. November 1932


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