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Breitscheid als Marxist

»Sehr geehrte Redaktion! Sie veröffentlichten in der Nr. 24 Ihrer Zeitschrift ein Gedicht von Peter Scher, in dem behauptet wird, daß auf dem leipziger Parteitag der Sozialdemokratie aus meinem Mund das Wort vom ›dreckigen Lumpenproletariat‹ gefallen sei. Ich stelle fest und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diese Feststellung auch Ihren Lesern zur Kenntnis geben wollten, daß ich das Wort ›dreckiger‹ Lumpenproletarier weder in meinem Referat noch in meinem Schlußwort gebraucht habe. Ich habe allerdings in meinem Referat davon gesprochen, daß sich in der Gefolgschaft des Fascismus Lumpenproletarier befinden. Ich brauchte dabei keinen Augenblick darüber im Zweifel zu sein, daß meine Zuhörerschaft den Sinn dieser Bezeichnung richtig auffasse. Das Wort stammt nämlich von Karl Marx, der es vor allem im Zusammenhang mit der Schilderung des Bonapartismus verwendet. Er versteht darunter diejenige Schicht des Proletariats, die aus diesem oder jenem Grunde noch nicht zum Bewußtsein ihrer Klassenzugehörigkeit gelangt ist und infolgedessen die Beute aller politischen Abenteurer wird. Wenn sich also Herr Peter Scher oder die ›Weltbühne‹ an dem Worte ›Lumpenproletarier‹ stoßen, so müssen sie die Schärfe ihrer prosaischen oder poetischen Polemik nicht gegen mich, sondern gegen Karl Marx richten. Hochachtungsvoll gez.: Rud. Breitscheid.«

Dieses Schreiben ging mir am 20. Juni zu. Es war selbstverständlich, daß ich den Abdruck sofort zusagte. Da ein authentisches Protokoll noch nicht vorliegt, hatte Peter Scher sich an die Lesart der Zeitungen halten müssen, wofür weder ihn noch die ›Weltbühne‹ ein Tadel treffen kann. Wer aber beschreibt meine Freude, als ich nach meiner Zusage an Herrn Breitscheid im ›Vorwärts‹ vom gleichen Tage seinen Brief bereits abgedruckt fand, nebst einem zweiten an Peter Scher. Und das Ganze unter der von der Vorwärts-Redaktion kreierten Überschrift: »Blamierte Weltbühnen-Proletarier. Eine verdiente Abstrafung.« So hat das Herr Breitscheid gewiß nicht gemeint. Er sieht in seinem Schreiben wohl mehr eine Erläuterung als eine Berichtigung im Sinne des Pressegesetzes, und er beruft sich auch gar nicht darauf. Vielleicht empfiehlt es sich für ihn, in künftigen Fällen für sein Zentralorgan, dessen Manierenlosigkeit notorisch ist, eine Gebrauchsanweisung beizulegen.

Übrigens gehört dieser Ausfall des ›Vorwärts‹ gegen die ›Weltbühne‹ in die Reihe jener Gehässigkeiten, mit denen er die Vertreter liberaler Blätter wegen ihrer objektiven Berichterstattung über den leipziger Parteitag bedacht hat. Er schreckte nicht davor zurück, eine höchst törichte Karikatur zu bringen, deren unverkennbarer antisemitischer Charakter wahrscheinlich die Leser des damals grade verbotenen ›Angriffs‹ über ihren Schmerz hinwegtrösten sollte.

Trotz dieser vom ›Vorwärts‹ verursachten und von Herrn Breitscheid sicher nicht gewünschten Geräuschkulisse nehme ich gern die Gelegenheit wahr, dem freundlichen Briefschreiber zu bezeugen, daß er der Öffentlichkeit eine frohe Überraschung bereitet: er debütiert hier als Marxist. Wir kennen alle Herrn Breitscheids Vielseitigkeit, aber seine Rolle als Marx-Interpret und als Fechter für den Marx-Buchstaben, die ist noch neu. Das muß gebührend gefeiert werden.

Zunächst zur Beruhigung: der marxistische Begriff des Lumpenproletariats ist uns wohl bekannt. Aber da wir nicht so Marx-orthodox sind wie Herr Breitscheid, können wir ihm auch nicht so unbedingt Reverenz erweisen. Dem Gedächtnis des Revolutionärs Marx hatte sich der Aufstieg des französischen Dezember-Imperiums, gestützt auf eine Gruppe von Deklassierten, unauslöschlich eingeprägt. Und viel später noch schrieb Friedrich Engels, daß der Arbeiterführer, der mit dem Lumpenproletariat paktiere, den Strick verdiene.

Marx und Engels lebten am Beginn einer Entwicklung, in deren vielleicht vorletzter Phase wir heute treiben. Mindestens für den praktischen Politiker, der die marxistischen Lehren nicht so schwärmerisch und unkritisch nachbetet wie Herr Breitscheid, sollte es aber fraglich sein, ob es sich heute empfiehlt, an der Terminologie der Vergangenheit zu kleben. Wenn Herr Breitscheid meint, unter Lumpenproletariat verstehe Marx »diejenige Schicht des Proletariats, die aus diesem oder jenem Grunde noch nicht zum Bewußtsein ihrer Klassenzugehörigkeit gelangt ist«, so muß ihm dringendst geraten werden, eine höflichere Bezeichnung für jene ungezählten Millionen zu suchen, auf die das wortwörtlich zutrifft und auf die seine Partei trotzdem nicht verzichten möchte. Oder doch? Ein Andres galt für die Zeit, wo der Kapitalismus Menschen in den Arbeitsprozeß zog und in Nahrung setzte, als für heute, wo er sie von Schaffen und Verzehr gleichermaßen ausschließt. Bei dem neuen Proletariat, das seine Klassenzugehörigkeit noch nicht erkannt hat, handelt es sich nicht mehr um ein paar Hunderttausend, sondern um eine gigantische Armee, die, einheitlich geführt und auf den Generalnenner einer Idee gebracht, die beiden sozialistischen Parteien mühelos vom Erdboden fegen könnte.

Es ist gelegentlich ganz nützlich, den von der frühern Generation übernommenen Wortschatz zu überprüfen. Das ist um so notwendiger, da von dem Geist so wie so nicht mehr viel übrig blieb. Die Sozialdemokratie ist heute wohl die einzige Partei, in deren Presse und Agitationsschriften sich noch Ausdrücke wie »Lumpenproletariat« und »Pöbel« breitmachen. Wer soll damit angelockt werden? Der junge Arbeitersohn, der noch niemals hat arbeiten dürfen und der vom bescheidensten Lebensgenuß ausgeschlossen ist –? Der graugewordene Bürger, der über Nacht ins soziale Nichts gestürzt ist und der Gesellschaft, die ihn sinken ließ, zunächst einmal mit einem ungeheuern Ressentiment gegenübersteht, das sich schnell in Gewalttaten Luft machen kann –?

Ein beträchtlicher Teil des Kampfes, den Rosa Luxemburg gegen die Gewerkschafts-Bureaukratie führte, richtete sich gegen deren Überschätzung der Organisierten. Die bilden gewiß in der Zeit der Konjunktur eine Großmacht, aber die Stärke endet auch mit der Konjunktur. Die Sozialdemokratie, in Theorie und Praxis gleich ratlos, findet für die Millionenkolonnen des Elends nur noch eine Geste hochmütiger Ablehnung. Sie spricht zu ihnen wie Cicero zu Catilina, und es wirkt etwas tragikomisch, daß sie sich grade zur Begründung dieser Haltung auf Marx beruft, von dem sie sich in allen andern Stücken recht gründlich emanzipiert hat. So gründlich, daß eine bescheidene marxistische Floskel im Munde ihres Führers nahezu wie eine Sensation wirkt.

Die Weltbühne, 30. Juni 1931


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