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Der Verrat an Kürten

In Regensburg hat der bayrische Henker für den Versicherungsmörder Tetzner die Guillotine aufgerichtet, in Magdeburg schärft der einstweilen aus der Praxis gesetzte Herr Gröpler das Beil für Peter Kürten, den düsseldorfer Mörder. Bis jetzt liegt allerdings kein Grund zur Annahme vor, daß der preußische Justizminister das Todesurteil vollstrecken lassen wird, obgleich starke Kräfte am Werke sind, ihn dazu zu bewegen und die reaktionäre Presse die Gegner der Todesstrafe so ziemlich auf die gleiche Stufe mit Kürten stellt. Jedenfalls sieht die Reaktion hier wieder eine günstige Einbruchsstelle, denn weder Kürten noch Tetzner sind geeignet, die Gefühlssphäre in Wallung zu bringen.

Dennoch wird der Gegner der Todesstrafe auch vor dem Fall Kürten nicht seine Meinung ändern, denn sie zeigt sich auch hier als ein herzlich untaugliches Mittel. Und sie darf schon aus dem Grunde nicht angewendet werden, weil der Fall Kürten noch immer einen ungelösten Rest enthält und der düsseldorfer Prozeß nicht die ganze Wahrheit bloßgelegt hat. Das hat hier vor acht Tagen schon unser Mitarbeiter Hans Hyan ausgesprochen, und im ›Berliner Tageblatt‹ schildert Rudolf Olden nochmals aufs eindringlichste die unglaublichen Mängel dieses Verfahrens. Nicht einmal Kürtens Frau, der er als erster das Mordgeständnis gemacht hat, ist vernommen worden, und Kürten selbst hat zu allem Überfluß noch drei Mordtaten gestanden, die nachweislich geschehen sind, während er im Gefängnis saß. Olden gibt auch die Versicherung des Verteidigers Wehner wieder, es werde Kürten, falls es ihm einfiele, vor dem Urteil sein Geständnis zu widerrufen, kein einziger Fall wirklich nachgewiesen werden können. Hinzu kommt noch die himmelschreiende Unzulänglichkeit der psychiatrischen Sachverständigen, denen Gott nur die Sache ausgeliefert hat und nicht den Verstand dazu. Diese gelehrten Herren brachten es fertig, Kürten für normal zu erklären, worauf sich alle Normalmenschen, die ja in der Rechtsprechung immer einen besonders geschätzten Rang einnehmen, etwas einbilden können. Alles in allem, dieser Prozeß Kürten war eine feierlich aufgezogene Haupt- und Staatsaktion, die das wirkliche Thema kaum berührte, das Versagen der Polizei sorgfältig verhüllte und überhaupt nur möglich war, weil sich der Angeklagte reibungslos in die Pläne der Regie einfügte. Was ist da vorgegangen?

Es ist bekannt, daß Kürten im Gefängnis fromm gemacht worden ist und die traurige Miene einer ehrlich zerknirschten Seele während der ganzen Verhandlung mit unheimlicher Sicherheit beibehalten hat. Augenzeugen schildern den bizarren Anblick, wie Kürten mit fromm gefalteten Händen in seinem erhöhten Verschlage stand, das Haupt ergeben zur Seite geneigt, den Blick schief nach oben gerichtet – einer jener wunderlichen steifen Heiligen des Greco. Seinen Bekehrern hat der Mann keine Unehre gemacht. Es ist schon in Düsseldorf von Eingeweihten in die Kulissengeschichte des Prozesses der durch wichtige Momente fast bis zur Gewißheit gesteigerte Verdacht geäußert worden, man habe Kürten Begnadigung versprochen, wenn er sich in die ihm zugewiesene Rolle füge, sich streng an die bisherigen Geständnisse halte und in jeder Phase der grade noch rechtzeitig zum wahren Christenglauben bekehrte Sünder bliebe. So haben ihm wohl auch die schwarzröckigen Souffleure die bizarre Schlußrede eingeblasen, in der er betonte, daß Wolf und Kienle noch viel mehr Leben gemordet hätten als er. Aus sich heraus dürfte er dieses Argument wohl kaum haben. Es ist auch ziemlich unwahrscheinlich, daß sich ein geständiger Lustmörder unmittelbar vor seinem Prozeß grade mit schwerwiegenden bevölkerungspolitischen Fragen befaßt. Übrigens benutzen klerikale Blätter, über deren Geschmack sich nicht streiten läßt, den reuigen Sünder bereits zu Propagandazwecken gegen den verruchten Kulturbolschewismus. »Dasselbe Publikum«, so schreibt zum Beispiel ›Das Neue Reich‹, »das sich wochenlang nicht genug tun konnte, Kürten als Scheusal zu titulieren, muß sich von diesem Lustmörder und Sadisten sagen lassen: Ihr selbst seid Mörder, unter euch selbst geht Mord um, ungestraft, gefeiert und als fortschrittlich gepriesen; Tausende von Kinderseelen klagen euch an; Ihr richtet mich, aber sehet zu, daß Ihr nicht selbst gerichtet werdet.« Wir können diese frommen Katholiken zu diesem neuen Gladiator des Glaubens nur aufrichtig beglückwünschen. Er scheint ihnen ja wertvoll genug zu sein, um ihm noch Absolution für einige weitere aufgeschlitzte Leiber zu erteilen. Nach alledem aber entlarvt sich dieser düsseldorfer Prozeß immer mehr als eine glatte Justizkomödie in Idealkonkurrenz mit einer klerikalen Machination.

Die Frage ist doch naheliegend: wäre gegen den Angehörigen einer andern Gesellschaftsschicht in der gleichen Weise wie gegen Kürten verhandelt worden? Mit so sorgfältiger Vermeidung des wirklichen Themas? Mit einem solchen Verteidiger, der sich gleichfalls widerspruchslos ans Regiebuch hielt und mit keinem Wort in das Dunkel des Untersuchungsverfahrens eindrang? Und mit solchen Sachverständigen, die es mit ihrer Wissenschaft zu vereinbaren wagten, sich auf das imbezille Verdikt »normal« festzulegen? Es ist nämlich in Düsseldorf zunächst die Meinung verbreitet gewesen, der Missetäter sei ein entarteter Lüstling aus höchsten Kreisen. Diese Anschauung verstärkte sich, als man die Leiche der kleinen Albermann an der Gartenmauer des Hauses eines Herrn von Haniel fand. Und sofort trug es Fama, die Gewissenlose, die Lügenzunge, in ganz Düsseldorf herum, daß der Täter in diesem Hause zu suchen sei. Die Frage, die sich daraus ergibt, ist nicht schön, aber notwendig: wie würde dieser Prozeß ausgesehen haben, wenn auf der Anklagebank ein Herr von Haniel gesessen hätte und nicht ein armseliger Berufsverbrecher? Dann wäre diese ganze gedämpfte Inszenierung unmöglich gewesen, und dann hätten auch Sachverständige gesprochen, die ihre Wissenschaft über das gemeinsame Ruhebedürfnis von Justiz und Polizei gestellt hätten.

Die Anhänger der Todesstrafe schreien nach dem Beil für Kürten, und es nimmt sich komisch genug aus, wenn sie diesen selbst als Kronzeugen für das Gesetz des Talion beanspruchen. Kürten selbst verlange ja nichts sehnlicher als die Sühne auf dem Richtblock. Diese Anhänger der Vergeltungstheorie, diese publizistischen Racheengel aus der klerikalen und nationalen Kaffernprovinz sollten doch dem verurteilten Mörder nicht die Lösung überlassen, die ihm selbst als die mildere erscheint. Wo bleibt denn da die kostbare Theorie? Wenn wir uns gegen die Vollstreckung der Todesstrafe an Kürten wenden, so hat das nichts mit Humanitätsduselei zu tun, sondern geschieht deshalb, weil die Art der Durchführung dieses Prozesses einen zu großen ungelösten Rest hinterlassen hat. Wenn jemand für neun Mordfälle verurteilt wird, und dieses Urteil auf nichts basiert als auf dem Geständnis eines Verbrechers, der sich in Einzelfällen bereits als phantastischer Lügner offenbart hat, so kann nichts die Zweifel beschwichtigen, die auch nach dem formalen Abschluß noch rege sind. »Kein klarer Fall!« schreibt Rudolf Olden, und jeder Einsichtige muß ihm beipflichten. Wie nun, wenn Kürten in seiner krankhaften Wichtigtuerei auch noch einige Morde auf sein Konto genommen hat, die er gar nicht begangen hat? Das hieße doch, daß sich unter der breiten, schreckensvollen Couvertüre »der düsseldorfer Mörder« noch andre Täter verborgen hätten, die noch heute frei herumlaufen und deren pervertiertes Triebleben sie gewiß später wieder zu ähnlichen Taten zwingen muß. Das hieße aber auch, daß das traurige Aktenstück der düsseldorfer Morde noch nicht abgelegt werden darf, weil mindestens ein Teil davon noch immer nach Klärung verlangt. Diese Frage ist nicht unwichtig, denn mit der Hinrichtung Kürtens wird sie so glatt abgeschnitten sein wie sein Kopf. Es ist also schon ein Gebot der Vernunft, dafür zu sorgen, daß die Untersuchung nicht aufhört und die Polizei nicht wieder in ihre alte Lethargie zurückfällt.

In seiner Zelle aber sitzt der verurteilte Mörder Peter Kürten, dem man eingetrichtert hat, wenn er keine dummen Szenen mache, sondern aufrichtige Reue bekunde, dann werde wohl über Gnade zu reden sein. Heute schreit alles nach dem Henker, der ernste, humane Justizminister wird von allen Seiten bestürmt, diese Bestie in Menschengestalt nicht der Gnade teilhaftig werden zu lassen – und verraten in der Zelle der zum Tode verurteilten Mörder hockt der unselige Mensch, der immer wieder mit einer fast mechanischen Devotion versichert hat, daß er nur den Tod verlange und nichts mehr. Er hat sich in der Schlinge einer Komödie verfangen, in der er selbst die schrecklichste und aberwitzigste Rolle gespielt hat. Im Sinne eines grausamen, alle Schändlichkeiten mit gleicher Münze lohnenden Schicksals mag das eine wohl geeignete Sühne sein. Aber die irdische Justiz dient nicht dem Schicksal, sondern der Wahrheit. Und zu allerletzt hat sie wohl auch an eine Ableitung des Falles Kürten ins Metaphysische gedacht. Sie wollte nichts andres als jede Behörde will: automatischen Ablauf ihres Geschäftsganges ohne störenden Sonderfall. Das ist ihr auf Kosten der juridischen und kriminologischen Wahrheit vorzüglich gelungen.

Die Weltbühne, 5. Mai 1931


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