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In einer Zeit besonderer Not kommt alles auf den Finanzminister an. Als Frankreich von der Inflation bedroht wurde, setzte Poincaré Autorität und Ruf zu ihrer Bändigung ein. Hans Luther hat sich Dreiundzwanzig im Finanzressort bewährt, und Schachts schnell verwirtschaftetes Ansehen stammt aus seiner prähistorischen Epoche als Währungskommissar, wo ihn die Banken noch nicht so gut leiden mochten. Österreichs Sozialdemokratie ist vor allem berühmt durch Breitner, den Säckelmeister der Stadt Wien. Lloyd George, der Schatzkanzler, ist durch den spätern Weltpolitiker nicht übertroffen worden. Herr Hermann Dietrich, der Erste Lord unsres Schatzamtes, bringt für seine schwere Aufgabe vor allem eine heftige süddeutsch gefärbte Beredsamkeit mit und jene temperamentvolle Beschränktheit, die im deutschen Bürgertum unglücklicherweise für bismärckisch gehalten wird. Wir sehen ihn noch, wie er als Matador des Wahlkampfes ans Rednerpult tritt, das starke Antlitz glühend, den Blick starr und angriffsbereit auf die Reihen der Hörer gerichtet, als formierten sich dort unübersehbare Batterien von Bordeauxflaschen. Doch mit dem ersten Wort löst sich die Starre, die Augen rollen wild, die Fäuste hämmern auf den Pultdeckel, durch den weiten Saal dröhnt, beifallumrast, die mannhafte Forderung: »Wir müsse unsre Finanze in Ordnung bringe«, und mit rotierenden Augäpfeln verfolgt der Redner den Herrn, der grade durch den Mittelgang verschwindet, wie einen fliehenden Feind. In seiner engern Heimat hat Herr Dietrich den Vorteil, Zwischenrufer mit Namen anreden zu können. Wie soll ein Minister nicht volkstümlich sein, der ganz Baden persönlich kennt?
Herr Dietrich glänzte, so lange er gegen die Interessenhaufen poltern konnte, die trotzdem nicht kleiner geworden sind. Der eigentliche Finanzminister ist aber Herr Brüning selbst. Die Referenten des Finanzministeriums halten sich in wichtigen Dingen lieber gleich an den Kabinettschef. Wenn Herr Dietrich jetzt in einer Versammlung seiner Partei in Stuttgart erklärte, das Arkanum zur Überwindung der Wirtschaftsnot gefunden zu haben, so darf man deshalb aus guten Gründen an seiner Autorschaft zweifeln. Wahrscheinlich hat Kanzler Brüning den ungemütlichen Empfang jener Vorschläge vorausgesehen und erst mal den Ressortminister als enfant perdu ins Feuer geschickt, seiner Methode getreu, daß der Generalissimus im Graben selbst nichts verloren hat. Trotzdem dürfte der Finanzminister mit seiner robusten Konstitution die Kanonade besser überstehen als Herr Curtius die Attacken, die ihn nach seiner Rückkehr von Genf erwarten.
Dennoch wird man das Schlagwort »Lohngeld statt Stempelgeld« auch diesmal als Dietrichs eigne Mache betrachten können. Dieser alte Stabstrompeter der Vaterlandspartei versteht sich gut auf agitatorische Blechmusik. Wenn auch noch alles über das neue Rettungsprojekt bisher Gesagte im Nebel verschwimmt, so ist doch die Grundidee schon deutlich. Man will an bestimmte Industriezweige, die Arbeitereinstellungen vornehmen, Lohnzuschüsse geben; so soll die Arbeitslosigkeit vermindert werden. Da Herr Dietrich sich über die Durchführung dieses Vorschlags nicht bestimmt genug ausgedrückt hat, so ist er überall, auch in der Industrie selbst auf unwirsche Ablehnung gestoßen, und sein Staatssekretär, Herr Schäffer, soll sogar mit seinem Rücktritt gedroht haben. Wahrscheinlich handelt es sich nur darum, den Gebietern der Eisenindustrie, die an dem überhohen Niveau der Eisenpreise festhalten, eine Preissenkung abzukaufen, nachdem sich alle andern Überredungsmittel erschöpft haben. Doch darüber hinaus wird auch hier wieder ein neues Attentat auf die Arbeitslosenversicherung vorbereitet. Da ein Frontalangriff noch nicht angebracht erscheint, soll einstweilen eine neue Abknappung versucht werden, die zudem noch als große wirtschaftliche Rettungsaktion maskiert in die Debatte geworfen wird.
Dietrich hat keinen Zweifel gelassen, daß er die Institution der Arbeitslosenversicherung zum Teufel wünscht. In seiner stuttgarter Rede, wo so vieles vage blieb, wurden doch wenigstens seine Anschauungen darüber klar. Er meinte unter anderm: »daß durch die Arbeitslosenversicherung der Verantwortungssinn der Familienangehörigen gelockert sei und eine Unmenge Not auf diesem System beruhe.« Welche Not durch dieses System herbeigeführt wird, hat der Redner verschwiegen. Wir müssen es also als gegeben annehmen, daß der Herr Reichsfinanzminister eine Institution, durch die Millionen vor dem Hungertod gerettet werden, für ein Übel hält, und was gar den Verantwortungssinn der Familienangehörigen angeht, so mag er sich lieber an die Bezieher von Aufsichtsratstantiemen wenden, bei denen ja auch manchmal ein gelockertes Familienleben vorkommen soll. Die Nazis treiben mit dem Worte »plutokratisch« einen groben Mißbrauch, weil es für die Ohren ihrer schwerindustriellen Auftraggeber doch unverbindlicher klingt als »kapitalistisch«. Aber wenn es irgendwo zutrifft, dann auf Herrn Dietrich, den eine von Unternehmerseite rührende Denkschrift als »der Industrie nahestehend« bezeichnet hat. Man sieht daraus mit Genugtuung, daß er nicht nur ganz Baden persönlich kennt.
Die Industrie ist aber diesmal mit dem ihr nahestehenden Herrn gar nicht zufrieden. Sie findet die Vorschläge reichlich konfus. Der Reichsverband will festeres haben als ein paar ungekämmte Ministerworte. Mit Recht fragen sich Arbeitgeberverbände, die sich gegen staatliche Zuschüsse sonst nicht grundsätzlich feindlich verhalten, wer nun bekommen soll, und wann, und warum. Auf welche Gruppen soll der Segen fallen, und wer wird durch die Röhre pfeifen? Und mit gutem Grund wird die Frage aufgeworfen, ob ein solches System überhaupt kontrollierbar bleibt und nicht zur völligen Anarchie führt. Der Minister übersieht auch die besondere Art der gegenwärtigen Wirtschaftskrise. Was sollen Maßnahmen zur Produktionssteigerung, wo doch alle Welt unter dem Mangel an Absatzmöglichkeit leidet? Nicht Produktionssteigerung, sondern Produktionsregelung, das ist die Aufgabe. Für das bisherige wilde Drauflosfabrizieren ist kein Bedarf mehr vorhanden. Es sei denn, daß ein neuer Columbus einen neuen Kontinent mit einigen zwanzig Millionen von völlig unbekleideten Einwohnern entdeckte, auf die sich der Gewerbefleiß der industrialisierten Welt mit frischer Vehemenz stürzen könnte. Wo soll aber sonst eine Konjunktur herkommen?
Die Regierung Brüning wird von bürgerlichen Kräften getragen, die ständig über die angebliche Rentensucht der Arbeiterschaft zetern und die Arbeitslosenversicherung als subventionistisch ablehnen. So wäre die Regierung also so weit, daß sie keinen andern Ausweg mehr weiß als die Subventionierung von Unternehmergruppen, was doch auch nur eine Verlagerung der Subventionen von der Arbeitnehmer- auf die Arbeitgeberseite bedeuten würde. Auch innerhalb der Spannweite kapitalistischen Denkens müßte ein solches Unterfangen allzu primitiv erscheinen, als ein Augenblicksmittelchen ohne Verständnis für ökonomische Zirkulationsgesetze. Was Brüning durch seinen Finanzminister als Lösung verkünden läßt, ist im Grunde nicht mehr als die Übertragung des Systems der Ruhrgelder aus dem Politischen ins Wirtschaftliche.
Die Gewerkschaften haben vor einiger Zeit unter heroischer Resignation einen Plan zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vorgelegt.
Auch die vierzigstündige Arbeitswoche ist nur eine Zwischenlösung, ein Behelf, aber weit diskutabler als alles, was die Regierung bisher produziert hat. Deshalb haben sich auch die Regierungsstellen recht frostig verhalten, und das Gewerkschaftsprojekt keiner eingehenden Würdigung wert befunden. Heute brennt es den Gewerkschaften unter den Nägeln, und es ist fraglich, ob sie noch lange eine Plattform vertreten wollen, die für die Arbeiterschaft neue Entsagung bedeutet. Die rote Opposition im Ruhrgebiet hat augenfällig gemacht, daß die überlieferte Disziplin der Arbeiter desperaten Stimmungen zu weichen beginnt. Lohnabbau durch ein Hindenburgdekret – wenn das Brauch werden soll, so dürfte sich die Radikalisierung der Lohnempfänger nicht mehr aufhalten lassen, und aus wilden unorganisierten Wirtschaftskämpfen wird revolutionäre Politik. Die Gewerkschaften können also nicht lange mehr Entgegenkommen zeigen, ohne die eigne Existenz zu gefährden. Die Pläne der Reichsregierung dürften wohl schließlich nicht so roh serviert werden, wie Dietrich andeutete, aber an der Tendenz der Rettungsaktion, ein staatlich ausgehaltenes Unternehmertum zu schaffen, wird kaum viel geändert werden. Herr Dietrich, der sich gern Liberaler nennt, entwirft den vergoldeten Grabstein der freien Wirtschaft.
Die Weltbühne, 13. Januar 1931