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Der dicke Chesterton hat einmal in bezug auf den Rundfunk den herrlichen Satz geschrieben, daß Herr Soundso, wenn er vom Nordpol her spricht, nicht weniger trivial wirkt, als wenn man ihn aus dem Nebenzimmer hört. Da die höchst entwickelte Technik sich vornehmlich darauf beschränkt, uns gesprochene, gedudelte oder gesungene Idiotismen zu vermitteln, so ist es also nur in der Ordnung, daß der Geist den alten Weg über das Druckpapier nehmen und ein Genie wie Leo Trotzki sich in einer schmächtigen Groschenbroschüre, fernab von den Bütten- und Halbfranz-Snobs des Weihnachtsmarkts, verständlich machen muß. Diese Broschüre von einem Druckbogen ist die wichtigste und aktuellste Schrift dieser Tage. (Leo Trotzki: »Soll der Fascismus wirklich siegen?« zu beziehen durch A. Grylewicz, Berlin-Neukölln, Brusendorfer Straße 23.)
Der Verbannte von Prinkipo hat auch heute, wo ihm keine Suite von Politikern und Militärs, kein Panzerzug mehr zur Verfügung steht, seine alte Sprungkraft nicht eingebüßt. Dieser Stil blitzt, wettert, reißt Wolkendecken ein, fährt zitternd Ungeduld über eine aufgepeitschte Welt, um mit pamphletistischem Elan irgendwo krachend niederzusausen. Trotzki wollte eine knappe, skizzenhafte Instruktion für seine engern Anhänger in aller Welt schreiben – es ist ein kleines Weltgericht daraus geworden.
In zwanzig kurzen thesenhaften Abschnitten mustert Trotzki die politische Weltlage. Nirgends findet er die Arbeiterschaft ihrer historischen Aufgabe entsprechend gerüstet. Der morbide Kapitalismus rafft sich im Fascismus noch einmal zu einer letzten blutigen Abwehr auf. Es steht nicht gut um die Sache des Kommunismus. Da ist Spanien, das Land der jüngsten Revolution, aber die Kommunistische Partei ist machtlos und bezieht in allen Grundfragen falsche Position. »Die bürgerliche Revolution wird mehr, als sie gegeben hat, nicht geben können. In bezug auf die proletarische Revolution hingegen kann die gegenwärtige innere Lage in Spanien vorrevolutionär genannt werden, aber nicht mehr als das.« Dann eine glänzende Auseinandersetzung mit England, dessen politischer Überbau hinter den Veränderungen der ökonomischen Basis zurückbleibt, das bis jetzt weder eine revolutionäre noch eine fascistische Partei kennt, und mit Frankreich, dem »konservativsten Lande nicht nur Europas, sondern wohl der ganzen Welt«. Die verhältnismäßige Beständigkeit des französischen Kapitalismus erklärt Trotzki aus dessen Rückständigkeit, aber: »Der Widerspruch zwischen Frankreichs zweitrangiger Rolle in der Weltwirtschaft und seinen ungeheuerlichen Vorrechten und Ansprüchen in der Weltpolitik wird sich mit jedem Monat immer deutlicher offenbaren.« Doch für den Kommunismus sieht Trotzki einstweilen keine Chancen, ebensowenig wie in den Vereinigten Staaten. China befindet sich in einem langen Umwandlungsprozeß, und nur Japan kann durch sein mandschurisches Abenteuer in eine Revolution gerissen werden. Die Ereignisse im Fernen Osten binden Japan, sichern die Sowjetunion vor akuten Gefahren.
Die konkreten Voraussetzungen für große Umwälzungen findet Trotzki nur in Europa. Vor allem in Deutschland liegt der Schlüssel zur internationalen Lage. »Die ökonomischen und politischen Widersprüche haben hier eine unerhörte Schärfe erreicht. Die Lösung rückt heran. Es nähert sich der Moment, wo die vorrevolutionäre Situation umschlagen muß in die revolutionäre oder – die konterrevolutionäre.« Von dem Ausgang wird das Schicksal Europas, ja der ganzen Welt abhängen. Der Fascismus hat seinen Kulminationspunkt noch nicht erreicht; er ist ein Produkt der sozialen Krise und der revolutionären Schwäche des Proletariats, die sich aus zwei Elementen zusammensetzt: »Aus der besondern historischen Rolle der Sozialdemokratie, dieser allmächtigen kapitalistischen Agentur in den Reihen des Proletariats und aus der Unfähigkeit der zentristischen Leitung der Kommunistischen Partei, die Arbeiter unter dem Banner der Revolution zu vereinigen.« Nun beginnt ein polemisches Ungewitter.
Auf die KPD. und die Komintern, ihre Patronin, fallen dabei die Hiebe hageldicht. Die KPD. hat mit dem Chauvinismus gespielt, den echten Fascismus zum Zwecke marktschreierischer Konkurrenz nachgeahmt. »Die Kominternführung hat weder etwas vorauszusehen noch zu hindern vermocht. Sie reguliert bloß die Niederlagen. Ihre Resolutionen und übrigen Dokumente sind, leider, nur Photographien des Hinterteils des geschichtlichen Prozesses.« Welche Stellung gedenkt die Komintern angesichts der heranrückenden Entscheidung einzunehmen? Gar keine. Sie will erst abwarten. Denn Konterrevolution ist bekanntlich nicht das, »was den Weltimperialismus befestigt, sondern das, was die Verdauung der kommunistischen Beamten stört«. So kommt man mit Warten und Aufschieben allgemach der Kapitulation näher. Schon jetzt wird die Formel vorbereitet: »Rechtzeitig zurückweichen, die revolutionären Truppen aus der Gefechtzone herausführen, dem Fascismus eine Falle stellen, in Form ... der Staatsmacht.« Und jetzt folgen diese gewaltigen Sätze, wie mit schrecklich spitzen Nägeln in das Gewissen der russischen Diktatoren getrieben: »Würde diese Theorie sich in der Deutschen Kommunistischen Partei befestigen, ihren Kurs in den nächsten Monaten bestimmen, so bedeutete dies seitens der Komintern einen Verrat nicht geringern historischen Ausmaßes als der Verrat der Sozialdemokratie vom 4. August 1914, dabei mit schrecklichem Folgen.« Moskau wäre das größte Opfer.
Denn der Sieg des Fascismus in Deutschland bedeutet den Krieg gegen die Sowjetunion. Die Niederringung des Proletariats wird dem Fascismus außenpolitisch die Hände binden, er wird an der französischen Reaktion Halt suchen müssen. »Hitler wird Pilsudski ebenso brauchen wie Pilsudski Hitler.« Und der deutsche Bürgerkrieg selbst? Neben dem deutschen würde sich der italienische Fascismus »wahrscheinlich als blasses und humanes Experiment ausnehmen«. Deshalb darf es kein Zurückweichen geben. »Führer und Institutionen können zurückweichen. Einzelne Personen können sich verbergen. Aber die Arbeiterklasse wird angesichts des Fascismus nirgends zurückweichen und nirgends sich verbergen können.«
Noch ist Widerstand möglich. Noch hat der Fascismus nicht die Macht, noch hat sich ihm der Weg zur Macht nicht geöffnet. Deshalb sind alle, die das »strategische Zurückweichen« predigen, »unbewußte Agenten des Feindes in den Reihen des Proletariats«. Was hat der Fascismus hinter sich? »Das kleine Handwerks- und Handelsvolk der Stadt, Beamten, Angestellte und technisches Personal. Intelligenz und heruntergekommene Bauern.« Doch Trotzki warnt vor der Überschätzung des Stimmzettels, denn: »Auf der Wage des revolutionären Kampfes stellen tausend Arbeiter eines Großunternehmens eine hundertmal größere Kraft dar als tausend Beamte, Kanzlisten, ihre Frauen und Schwiegermütter. Die Hauptmasse der Fascisten besteht aus menschlichem Staub.« Hitler versteht sich gewiß aufs Prahlen. »Aber seine Aufschneiderei wird zu einem militärischen Faktor erst im Moment, wo die Kommunisten ihm Glauben schenken. Mehr als alles ist augenblicklich eine reale Kräfteberechnung notwendig. Worüber verfügen die Nationalsozialisten in den Betrieben, bei den Eisenbahnen, in der Armee, über wieviel organisierte und bewaffnete Offiziere? Eine klare soziale Analyse des Bestandes beider Lager, ständiges und wachsames Überrechnen der Kräfte – das sind die unfehlbaren Quellen des revolutionären Optimismus.« Also auch in der innern Politik gibt es das potentiel de guerre.
So zeichnet Trotzki mit schneidendster Schärfe die Situation vor dem Entscheidungskampf mit dem Fascismus. So spricht er dem Proletariat und seinen Parteien Mut ein. Und an Moskau selbst richtet er zum Schluß die stärkste Beschwörung, daß es bei einer Machtergreifung des Nationalsozialismus keine Neutralität geben kann: »Für den proletarischen Staat wird es hier im direktesten und mittelbarsten Sinn um die revolutionäre Selbstverteidigung gehen. Deutschland ist nicht bloß Deutschland. Es ist das Herz Europas. Hitler ist nicht bloß Hitler ... Aber auch die Rote Armee ist nicht bloß die Rote Armee. Sie ist – die Waffe der proletarischen Weltrevolution.«
Die Sprache Leo Trotzkis ist hart und klar, seine Forderungen sind unerbittlich. Dieser alte Theoretiker und Techniker sozialistischer Machtpolitik bringt für nahende Entscheidungen gradezu den sechsten Sinn mit. Dabei ist es leicht genug, das Bild von der Komintern und ihren Leuten, das die Haßliebe dieses Verstoßenen ins Maßlose verzerrt, zu korrigieren. Es wäre nicht weniger leicht, die Tatsache, daß Rußland heute durch seinen industriellen Aufbau weltpolitisch gehemmt ist, als Gegenargument ins Treffen zu führen. Es soll nicht versucht werden. Wer Leo Trotzki heißt und diese historische Leistung hinter sich hat, der hat auch das Recht zu hassen. Und es wäre auch lächerlich, in diese brennende Leidenschaft, die zur Tat aufruft, wo alles zur Waffenstreckung ziemlich bereit ist, einen Fingerhut kalten Wassers gießen zu wollen. Die deutschen Sozialisten leben in der Panik. Die Einen haben sich im Opportunismus verrannt, die Andern in der Radikalität. Die Stimme aus Prinkipo weist ihnen den Weg in die Handlungsfreiheit. Gewiß ist dieser Prophet nicht bequem, seine böse kritische Veranlagung bei dem politischen Kindervergnügen, das unsre Parteihäuptlinge aufführen, nicht erwünscht. Seine Polemik ist schrecklich, aber sie kommt von sehr hoch. Diese Hiebe sind die Schnabelhiebe eines zornigen Adlers.
Die Weltbühne, 22. Dezember 1931