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MacDonalds trauriger Sieg über seine eigne Partei sollte trotz seinem unerhörten Umfang den Blick für die wirkliche Bedeutung der Geschehnisse nicht verdunkeln. Der Engländer beschwert sich in der Politik nicht mit Prinzipien, er verheiratet sich nicht mit einer Partei, er erwartet von ihr keine Stillung metaphysischer Sehnsucht sondern nur die Lösung einiger besonders dringlicher Fragen. Übrigens sind die englischen Tories nicht unsrer deutschen Reaktion gleichzustellen. Neben unsern staatsparteilichen Nachtlichtern nimmt sich der bornierteste Ulsterjunker noch immer wie ein rotleuchtendes Fanal der Demokratie aus. So dürfte die innere Wandlung, die England jetzt erfahren wird, kaum erheblich sein. Desto lebendiger aber wird seine Außenpolitik werden, desto intensiver seine Wirtschaftspolitik in Form von Zöllen und Kampf gegen den Export andrer Industrieländer.
Es erübrigt sich, die Frage aufzuwerfen, wie wir dagegen gerüstet sind. Unsre Wirtschaft ist nicht viel mehr als eine redselige Desorganisation, die den Säckel des Staates für sich beansprucht und ihre Pleiten auf die Gesamtheit abwälzt. Und unsre Außenpolitik? Zur Zeit ruht sie bei dem Reichskanzler höchstselbst, der sich hier plötzlich auf ein Terrain versetzt sieht, wo es keine Notverordnungen gibt.
Der Ausgang der washingtoner Besprechungen zwischen Hoover und Laval hat selbst unsern ärgsten Schwärmern für außenpolitische Aktivität für einen Moment den Atem stocken lassen. Frankreich hat nicht weniger umfassend gesiegt als die englischen Tories. Es würde Herbert Hoover gewiß nicht mißfallen, so schrieb Jules Sauerwein beim Beginn der Besprechungen, »von seinem Sinai des Weißen Hauses ein neues Evangelium der Abrüstung oder der Reparationen zu offenbaren.« Hatte Hoover solches vor, so sind die Tafeln noch vor der Verkündung zerbrochen. Frankreich hat von seinem Verlangen nach Sicherheit nichts preisgegeben. Frankreich hat durchgesetzt, daß vor Februar nächsten Jahres nicht über die Abrüstung diskutiert wird. Und Frankreich, das über das starke Druckmittel der kurzfristigen Kredite verfügt, wird auf diese Weise sogar der ausschlaggebende Drahtzieher der amerikanischen Finanzpolitik.
Deutschland steht mit Frankreich allein, das ist die Moral von der Geschichte. Das ist die dürre Realität, die jetzt bald auch die Dümmsten begreifen sollten. Das finanzielle und machtpolitische Übergewicht Frankreichs kann nicht mehr bezweifelt werden. Aber auch Frankreich betrachtet seine neue Präponderanz nicht ohne Nachdenklichkeit. Sauerwein, noch immer der zuverlässigste Offiziosus, schreibt in dem obenerwähnten Artikel: »Da aber Frankreich stark ist, muß es auch vernünftig sein. Es weiß nicht, was nach einigen Monaten geschehen kann. Was ist die moralische, militärische und finanzielle Macht, wenn man sie in der heutigen Epoche dahinschmelzen sieht, wie man in den letzten Tagen den Abstieg des Sterlings oder die Lahmlegung der englischen Flotte durch eine Meuterei gesehen hat. Das sind Ereignisse, die zur Lehre dienen können.«
Da aber Deutschland schwach ist, hat es noch mehr Grund, vernünftig zu sein. Vernunft heißt in diesem Falle: freiwilliger Verzicht auf das, was auch nicht mit Gewalt wiedergeholt werden kann. Der Reichskanzler Brüning hat zweimal in diesem Jahre dem französischen Ministerpräsidenten gegenüber erklärt, daß eine Garantie für Deutschlands Haltung in den nächsten Jahren nicht übernommen werden könnte. Ob Frankreich nicht in absehbarer Zeit einmal in direkter Aussprache über die Revision der Friedensverträge mit sich reden lassen wird, steht dahin. Aber eines ist gewiß: niemals wird Frankreich das unter dem Druck des deutschen Nationalismus tun, niemals unter der Vormundschaft eines Dritten.
Die deutschen Nationalisten haben es als einen Erfolg bejubelt, daß der bissige alte Borah dem französischen Gast ein paar Unliebenswürdigkeiten ins Gesicht sagte und für eine Revision der deutschen Ostgrenzen eintrat. Der Senator von Idaho ist ein erprobter alter Faustkämpfer, doch diesmal hat er nicht den Gegner getroffen sondern nur das eigne Porzellan. Ohne das Intermezzo mit Borah wären die Besprechungen wahrscheinlich ergebnisvoller ausgefallen. Der amerikanische Kapitalismus, an der französischen Leine vergeblich zerrend, versucht, die territorialen Streitigkeiten Europas auf seine Weise auszunutzen. Wir sollten es in den zwölf Jahren seit 1919 endlich erfahren haben, daß die schönen Worte für das deutsche Recht, von den jeweiligen Gegnern Frankreichs gebraucht, nicht mehr bedeuten als Spekulation auf deutsche Landsknechtsdienste. Auch Mussolini schreit wieder nach Revision der Verträge. Warum beginnt er nicht in Südtirol zu revidieren? Warum hat Italien vor allen andern und am heftigsten der Zollunion widersprochen? Borah gibt den polnischen Korridor zurück, englische Politiker versprechen Kolonien als Belohnung für deutsche Gefälligkeiten. Timeo danaos et dona ferentes!
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In dieser Schicksalsstunde ist Herr Staatssekretär v. Bülow der Leiter des Auswärtigen Amtes. Herr v. Bülow hat es durchgesetzt, daß Herr Ministerialdirektor Ritter, der Vater der Zollunion, zum Generalsekretär der deutsch-französischen Wirtschaftsverhandlungen ernannt worden ist, durch diese Personenwahl schon seine Sympathie für die Vertreter von aktivistischen Improvisationen unterstreichend. Herr v. Bülow hat als Dirigent der Völkerbundsabteilung im Auswärtigen Amt vor neun Jahren ein dickes, kompilatorisches Buch über den Völkerbund geschrieben, das in seinen hauptsächlichen Pointen sich als ein einziges Pamphlet gegen den Völkerbund darstellt. (B.W. v. Bülow: Der Versailler Völkerbund. W. Kohlhammer, Stuttgart 1923.) Dieser Betreuer unsrer genfer Angelegenheiten von damals konstatierte, daß es keinen größern Widersinn gäbe, »als wenn das unglückliche, betrogene und vergewaltigte Deutschland seine Haltung zum Völkerbund von Traumgesichten und verschwommenen Idealen bestimmen ließe«, deshalb warnt er auch vor der Mitgliedschaft in einem so suspekten Verein:
»Der Versailler Völkerbund hat vielleicht eine große Zukunft. Möglicherweise steht er aber auch an der Schwelle seines letzten Lebensjahres. Solange er lebt, sieht sich Deutschland dauernd vor der Frage, ob und wann es eintreten soll. Ist es Mitglied geworden, so steht es wieder vor der Frage, ob es dies bleiben oder austreten soll. Ständig muß man sich deshalb darüber klar sein, was der Völkerbund wirklich ist und was er zu leisten vermag. Wir müssen bereit sein, bei unserm Eintritt dieselben Opfer an Unabhängigkeit und Souveränität zu bringen, wie die andern Staaten auch – aber nicht mehr. Niemals dürfen wir als Preis der Aufnahme auf irgend eine Möglichkeit verzichten, unsre Freiheit wieder zu erlangen und den Versailler Vertrag mit friedlichen Mitteln zu revidieren. Wir müssen unser Eintrittsgeld so bemessen, daß wir seinen Verlust – wenn der Erfolg ausbleibt – verschmerzen können. Denn schließlich ist dieser Völkerbund nur ein Versuch.«
Man möchte auch fragen, ob der heutige Staatssekretär, in dessen Händen das künftige Schicksal der deutsch-französischen Beziehungen liegt, seine damalige Meinung über Frankreich noch immer aufrechterhält:
»Die Lehren der Geschichte scheinen ganz vergessen. Auch die Versammlung in Genf wußte nicht mehr, welches die Traditionen Frankreichs von jeher gewesen sind. Sie hat noch nicht erkannt, daß wir jetzt eine Wiederkehr der Zeiten Ludwigs XIV. und der beiden Napoleon erleben. Jahrelang ist der Welt der Popanz des deutschen Militarismus vorgehalten worden, so daß sie ihn noch heute fürchtet. Gewiß war die Politik Bismarcks hart, und die Wilhelms II. unbeständig und lärmend. Deutschland hat aber, solange es stark war, den französischen Imperialismus niedergehalten. In dem Menschenalter nach dem Frankfurter Frieden lebte es sich in Europa ganz gut und friedlich. Seitdem die Welt vom ›deutschen Drucke‹ befreit wurde, ist sie dem Terror des französischen Militarismus ausgesetzt. Der Tag ist nicht mehr allzu fern, an dem Europa einsehen wird, daß es einen schlimmen Tausch gemacht hat. Ein der Deutschfreundlichkeit ganz unverdächtiger berliner Diplomat faßte 1922 diese Erkenntnis in die Worte zusammen: Les Français, ce sont les boches de demain.«
Gut, nehmen wir an, das wären alles vergangene Dinge, und Herr v. Bülow hätte am Tag von Locarno oder am Tag der Rheinlandräumung mit sich gerungen, ob es nicht besser sei, dies überholte Buch einstampfen zu lassen, und er hätte sich damals entschlossen, es nur als Beleg dafür zu erhalten, was für Verwüstung zeitliche Wirren in einem sonst gut aufgeräumten Kopfe anrichten können, nehmen wir das zugunsten des Herrn Verfassers an – ein Grundstoff bleibt doch, der den Wandel der Zeitläufte überdauert und aus dem jede neue Meinung sich bildet. Das ist in diesem Fall die erhabene Anschauung, die Herr v. Bülow von dem diplomatischen Beruf bekundet:
»Sollte übrigens einmal Deutschland in dieser Versammlung vertreten sein, so wird es gut tun, einen Vertreter zu entsenden, der ein Kenner der Feindbundpsychologie und tüchtiger Phrasenschmied ist. Sonst würde er unliebsam auffallen. Seit der Glanzzeit der Kriegspropaganda gehört der Heiligenschein zu den Requisiten der auswärtigen Politik. Der Diplomat würde in Genf ebensowenig daran denken, ihn abzulegen, wie seinen Kragen oder seine Beinkleider auszuziehen.«
Herr v. Bülow mag ruhig die Beinkleider anbehalten, man kann mit dem Gesicht ähnliche Wirkungen erzielen. Aber begreift man vor diesem Bekenntnis eines deutschen Diplomaten nicht endlich, warum unsre Außenpolitik, selbst wenn sie, mit Feindbundpsychologie und Phrasen reichlich ausgestattet, hinausgezogen ist, um moralische Eroberungen zu machen, jedesmal zerbeult und zerschunden zurückgeschleppt werden mußte?
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Ob die außenpolitische Verständigung bei Herrn v. Bülow in besten Händen ist, bleibe dahingestellt, aber die innenpolitische Verständigung macht rapide Fortschritte. Es gibt jetzt ein Chequers nach dem andern. Am Tage vor Harzburg erhält Adolf Hitler Audienz beim Reichspräsidenten, und nun stellt es sich heraus, daß der nationalsozialistische Führer inzwischen auch den General von Schleicher zweimal besucht hat. Herr von Schleicher ist der großmächtige Mann im Reichswehrministerium, wahrscheinlich auch bald im Reichsinnenministerium, falls Herr Gröner auch weiterhin dessen Ressortpolitik auf die Standortältesten stützen sollte. Das Reichswehrministerium erklärt mit der ihm eignen militärischen Gradheit, es habe sich bei der Zusammenkunft nur um dienstliche Gespräche gehandelt. Hitler sei gefragt worden, ob seit dem ulmer Prozeß noch irgendwelche Versuche zur politischen Beeinflussung der Reichswehr gemacht worden sind. Das habe Hitler verneint und zugleich betont, er würde niemanden in seiner Organisation und Partei dulden, der sich irgendwie illegal betätige. Es war, wie gesagt, nur eine angenehme Unterhaltung beim Frühstück, deshalb verbot Herrn von Schleicher, dem Gastgeber, die Höflichkeit, stärker pointiert zu fragen oder etwa das Gespräch auf die bewußten Köpfe zu bringen, die doch gewiß etwas aus der Legalität rollen. Ein so erfahrener Politikus wie der Herr General weiß auch, daß Hitler keine gültigen Legalitätsbeteuerungen abgeben kann, denn Hitler selbst ist doch die verkörperte Illegalität, nämlich ein Ausländer, der sich politisch betätigt. Was ist sonst ein Nichtnaturalisierter, der sich aktiv und geräuschvoll in die Geschicke des Landes mengt, das ihm Gastfreundschaft gewährt? Ein Objekt der Fremdenpolizei, mehr nicht. Herr von Schleicher ist ein viel zu liebenswürdiger Wirt, um den notablen Ausländer, der bei ihm speiste, darauf aufmerksam zu machen, und man kann ihn nicht einmal tadeln, denn andre haben es auch nicht getan. Sollten aber die Besuche Hitlers bei Herrn von Schleicher nur die bessere Urteilsbildung durch persönliche Bekanntschaft ermöglichen, denn, wie behauptet wird, hat auch Severing davon gewußt, wobei allerdings verschwiegen wird, ob durch direkte Mitteilung oder durch die Politische Polizei, dann muß auch gefragt werden, wann endlich der Besuch von Heinz Neumann fällig wird. Denn auch Herr Neumann hat noch von seiner chinesischen Tätigkeit her die beste Übung im Umgang mit politisierenden Generalen, und außerdem ist er, im Gegensatz zu Hitler, einwandfreier Reichsdeutscher.
Bei Goebbels im ›Angriff‹ macht man sich natürlich über harmlose Deutungsversuche der Besprechungen zwischen Hitler und Schleicher lustig. »Überall muß man sich mit der unumstößlichen Tatsache nahe bevorstehenden Veränderungen vertraut machen.« Die ›Deutsche Allgemeine Zeitung‹ ist davon weniger entzückt, sie wittert eine Intrige zur Zersetzung des Bündnisses Hugenberg-Hitler, aber auch sie meint, daß beim Zentrum starke Bedürfnisse mitwirken, den »realpolitischen Tatsachen der Rechtsentwicklung im Volke in einer noch zu bestimmenden Form Rechnung zu tragen.« Daß Brüning das Zusammengehen mit Hitler wünscht, hat er im Reichstag offen zugestanden. Daß er aber die diplomatische Vorbereitung des kommenden Bündnisses den Reichswehrgeneralen überläßt, ist eine selbstzerstörerische Torheit, die uns kalt ließe, wenn es sich dabei nur um Brüning handelte.
So nimmt das Geschick seinen Lauf, so frühstücken sich die bisher feindlichen Parteien immer näher heran. Bald wird ganz Deutschland, zum Tranchieren fertig, vor ihnen liegen. Die armen Sozialdemokraten, deren Zentralorgan der unerbittliche Gröner jetzt gerichtlich verfolgen läßt, sehen der Entwicklung beunruhigt aber tolerant zu. Der gebildete Doktor Breitscheid könnte jetzt Shakespeare zitieren: »Juckend sagt mein Daumen mir, etwas Böses naht sich hier ...«
Die Weltbühne, 3. November 1931