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Lytton Strachey

Aus London kommt die Nachricht, daß Giles Lytton Strachey gestorben ist. Am 1. März wäre er zweiundfünfzig Jahre alt geworden. Sein Ruhmestitel beruht auf den drei seit 1918 erschienenen Büchern »Eminent Victorians«, »Queen Victoria«, »Elizabeth and Essex«. Was die offizielle Wissenschaft von ihm denkt, ob sie ihn seriös nimmt oder als »Belletristen« verwirft, soll uns hier nicht kümmern. Die Wahrheit ist, daß er durch seine Darstellungskunst, seine Sprachkraft und seine originelle Art, eine Menschenexistenz zu sehen, unzähligen Lesern eine ebenso angenehme wie noble Unterhaltung bereitet hat.

Harold Nicolson hat vor ein paar Jahren in einem Vortrag, wenn ich mich nicht irre, in Frankfurt, behauptet, die englische Nachkriegsliteratur wäre die bedeutendste in ganz Europa. Vielleicht ist das eine Übertreibung, aber gewiß ist die englische Literatur die überraschendste. Sie hat die Zimperlichkeit der Väter überwunden und sich fessellos einer nicht mehr bürgerlich durchtränkten Gegenwart überlassen. Neben ihren interessanten Romanciers steht gleichwertig Lytton Strachey, der Historiker. In seinem Äußern ein hagerer, leidend aussehender Mann mit Bart und Brille, eine saloppe Mischung von Oberlehrer und Bohémien. In seinem Werk der Kurzweiligste seines durchweg recht trostlosen Faches, aber durchaus kein Anekdotenerzähler sondern ein feinnerviger Gestalter, manchmal ein Psychologe mit dem sechsten Sinn, immer ein höflicher Skeptiker, und das vor allem gegen die Möglichkeiten der eignen Wissenschaft. Wo soll man Anker werfen in dieser Welt schnell dahingleitender Erscheinungen? »Wenig kann das Glück uns geben: denn ein Traum ist alles Leben, und die Träume selbst ein Traum«, so dichtete Calderon seine Resignation in einer faulenden morschen Feudalzeit, und diese Verse stehen wie ein unsichtbares Motto über allem, was Giles Lytton Strachey geschrieben hat, dessen Ausgang mit dem Sinken einer Weltmacht, mit der Auflösung eines traditionellen Lebensstils zusammenfällt.

Ein so denkender Schriftsteller kann nicht einem bestimmten System verfallen, kann nicht dickleibige Bände schreiben, um eine Spekulation zu erhärten. Lytton Strachey ist ein Meister der Monographie geworden, der Studie, des Essays. Eine Einzelfigur, eine knappe Phase der Entwicklung mit allem nur denkbaren Leben erfüllen, das konnte er. Hier entstanden auf ihre Art vollendete Schöpfungen, denen niemand das Ringen um Material, Nachtwachen und Transpiration anmerkt. Lytton Strachey beherrschte seine Quellen, auf welche die Fachkritik den entscheidenden Wert legt, gewiß glänzend, aber seine Wirkung rührt von einigen allgemeinen Einsichten her, die viel stärker sind als Analyse auf idealistisch oder materialistisch. Lytton Strachey glaubte an die Unveränderlichkeit des Menschen: die Kleider wechseln, nicht ihr Inhalt an Fleisch und Geist. Es gibt Schriftsteller, die sich höchst aktuell vorkommen und deren Gegenwartsbild aus Ritterromanen plagiiert scheint, und es gibt Schilderer der Vergangenheit, deren Menschen sich so bewegen, als hätten sie alle spätern Kommentare über sich gelesen. Bei Lytton Strachey agieren wir selbst, um Jahrzehnte oder Jahrhunderte zurückgeschoben, ohne Telephon und Auto, ohne einige naturwissenschaftliche Erkenntnisse; manche Dinge, die uns quälen, werden nicht in der Sprechstunde des Individualpsychologen gelassen, der Henker schlägt mit dem Kopf das Geheimnis herunter. Vieles ist primitiver, aber wir erkennen uns selbst in den fremden Kleidern. So gelingen Lytton Strachey am besten die schwierigen, die vergrillten Charaktere, die etwas wurmstichigen Seelen, nicht weil man früher komplizierter war als heute oder umgekehrt, sondern weil der »Normalmensch« immer ein Phantasieprodukt gewesen ist. Wenn Lytton Strachey zum Beispiel das anständige bürgerliche Mittelmaß der viktorianischen Gesellschaft zeichnet, so erhält dieses Bild einen ironischen Schnörkel, indem der Historiker das, was diese Zeit nicht sehen wollte, leger und gar nicht anklagend, gleichsam in einem Appendix niederlegt.

Lytton Strachey hinterläßt nur ein paar Bücher, aber es ist eine Reihe unvergeßlicher Gesichter darin. Der lange, qualvolle Todeskampf Philipps II., ein erhabenes und närrisches Grecobild; der undurchsichtige und gefährliche Francis Bacon; der junge Essex in das Ankleidezimmer seiner Königin eindringend; die zu ewiger Virginität verurteilte Elisabeth selbst; die Queen Victoria mit ihren Ministern; der große Carlyle als moralischer Poltron entlarvt, der einige private Peinlichkeiten hinterläßt; und endlich der General Gordon, diese Fahne des britischen Imperialismus, im Zelt von Khartum zwischen Bibel und Schnaps phantasierend – das bedeutet allein eine Galerie von Menschen und Szenen, um die jeder Dichter von heute diesen Historiker beneiden kann. Diese Bücher sind durch die ganze Welt gegangen, sie werden wohl auch in Deutschland, wo sie Hans Reisigers Übersetzungskunst eingeführt hat, noch lange ihre Leser finden.

Die Weltbühne, 26. Januar 1932


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