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Theodor Plivier, der starke Chronist der Matrosenrevolte von 1917, macht einen interessanten Versuch, eine Geschichte der deutschen Revolution zu schreiben. Der erste Band liegt vor: »Der Kaiser ging – die Generäle blieben.« (Malik-Verlag.) Er beginnt mit der Oktoberwende, mit dem Abschied Ludendorffs, und endet am 9. November mit dem Pakt Ebert-Groener, die Revolution niederzuhalten, in dem das ganze spätere Schicksal der Republik enthalten ist.
Der Verfasser nennt seine Arbeit einen Roman, was keine durchaus zutreffende Bezeichnung ist. Gewiß, es fehlt nicht an novellistischen Zügen, es sind ein paar durchaus wegdenkbare erfundene Figuren eingefügt, und es werden auch die historischen Figuren in ihrer verborgenen seelischen Existenz, in Traum und Selbstgespräch, bloßgelegt. Aber Plivier hat nicht nur gründliche Quellenstudien gemacht, er hat auch Mitspieler von damals eingehend befragt. Gespräche mit Arbeitern, Matrosen, Soldaten, Offizieren, Parteimännern, Ministern, zweiundneunzig an der Zahl, hat er geführt und verwendet. Nein, es ist kein Roman geworden, denn der Roman ist eine ganz andre und viel strengere Kunstform, wohl aber eine hinreißende politisch-historische Reportage, in deren besten Partien sich Exaktheit und Intuition glücklich gefunden haben. So ist das Resultat nicht einheitlich, aber höchst liebenswert. Und es soll Plivier die Anständigkeit hoch angerechnet werden, mit der er das behandelt, was von den Konflikten der sozialistischen Parteien von Achtzehn heute noch unverjährt ist und weiterbrennt. Er sagt manchmal Grobheiten, aber er streut kein Salz in die Wunden.
Es galt niemals als besonders fein, an den 9. November zu erinnern; heute ist es lebensgefährlicher als je. Desto größer ist Pliviers Verdienst, denn er gibt einer totgeschwiegenen oder besudelten Epoche ihre Ehrenrechte wieder. Bei Michelet und Krapotkin oder andern bedeutenden Darstellern der Französischen Revolution haben wir die heroische Rolle der kleinen Leute aus den Vorstädten kennengelernt, ihr Elan stößt und treibt die Revolution, neben ihnen wird die Gloriole der berühmten Tribunen und demagogischen Rhetoren blasser und dünner. Plivier hat diese namenlosen deutschen Novembermänner, die vergessen und versunken schienen, für die Geschichte gerettet. Es sind in seinem Werke viele Episoden, die nicht leicht in der Erinnerung verwehen wie der in Fieber phantasierende Reichskanzler Max von Baden, wie die kieler Matrosendemonstration oder Otto Wels in der Alexander-Kaserne die Truppen zum Übertritt auffordernd. Aber nichts ätzt sich dem Gedächtnis so tief ein wie die Gestalten der Revolutionären Obleute, so hieß dieses Gremium, das ohne schriftliches Mandat aus dem schöpferischen Geist des duldenden und schweigenden Volkes gewachsen zu sein schien. Damit kehren auch Namen wieder, die mit der Vorbereitung und Durchführung der Revolution aufs engste verknüpft sind, so wie Laukant oder Richard Müller, der dann später der »Leichen-Müller« wurde und übrigens eine als Material wichtige Darstellung dieser Zeit geschrieben hat. Lebendig wird wieder der Maschinist Sult, der die Turbogeneratoren im Kraftwerk Rummelsburg zum Stillstand bringt und damit den ganzen berliner Osten dunkellegt. Das ist Sult, der später im Polizeigefängnis »auf der Flucht« erschossen wurde, ebenso wie Dorrenbach. Unter diesen proletarischen Verschworenen gab es echtes revolutionäres Spartanertum und eine Unterdrückung natürlicher Gefühle, die in ihrer Wertlosigkeit manchmal antike Größe annahm. So schildert Plivier, wie Emil Barth, der Bürgerschreck mit der roten Revolutionstolle, der von der Polizei verfolgt wurde und tagelang nicht zu Hause war, am Abend des 5. November in die Nähe seiner Wohnung kommt:
»Als er von der Straßenbahn abstieg, erblickte er seinen dreijährigen Jungen, der auf ihn zulief, gleich danach sah er seine Frau aus der offenen Tür eines Sarggeschäfts herauskommen.
Barth erriet sofort die Zusammenhänge.
Als er drei Tage vorher von Hause weggegangen war, lag sein ältester Sohn grippekrank und mit Fieber im Bett.
Er folgte seiner Frau in den Hausflur.
›Montag Nacht ist er gestorben, um sechs wird er eingesargt, du kommst grade zurecht ...‹
Barth blickte auf seine vergrämte Frau und den an ihr Kleid geschmiegten Jungen. Über ihre Schultern weg sah er ein Kind mit rachitischen Beinen über den Hof laufen. ›Auch wenn Vater und Mutter, wenn Bruder und Schwester auf dem Totenbett liegen ...‹, hatte er vor kurzem in einer seiner pathetischen Ansprachen vor den Obleuten ausgeführt.
Er machte sich von seiner Frau los:
›Nein, es geht nicht – ich kann nicht mit nach oben. Geh schnell und bring mir den andern Anzug, den braunen – ich muß gleich wieder weg.‹«
Die Republik hat den Menschen dieser Zeit kein Cenotaph gesetzt. Jetzt hat ein Schriftsteller, selber ein oppositioneller Mann und in der Revolutionsära verwurzelt, diese Ehrenpflicht nachgeholt. Wie weit weg liegt das alles, wie prähistorisch wirkt das. Aber auch die Generale werden einmal abreisen.
Die Weltbühne, 5. Juli 1932