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Wir haben wieder einen Nationalfeiertag bekommen, von dem die Republik nichts weiß. Die Verfassungsfeiern wickeln sich Jahr für Jahr in dürrer Schematik ab, der 9. November ist für die Patrioten ein Tag der Schande. Jetzt haben die Offiziellen endlich etwas gefunden, das ihre Hemdbrüste wogen läßt: den 18. Januar, den Tag, an dem Bismarck als Verwirklicher der kleindeutschen Pläne für die preußische Dynastie von Deutschland Besitz ergriff. Ein strammer Borusse, der Fürstenanwalt Everling, beklagt in einem Zeitungsartikel, daß Preußen am Reiche zerbrochen sei. Nun, so schlimm wars nicht. Vielmehr hätten diejenigen, welche vorgeben, die großdeutsche Idee zu vertreten, Veranlassung, am 18. Januar auf Halbmast zu flaggen. Denn damals wurde das Werk von Sadowa vollendet, der preußische Raubstaat triumphierte über Deutschland, damals wurde die deutsche Nation für immer zerrissen. Im ersten Versailles, nicht im zweiten von 1919, sind einige jener Minoritätenfragen entstanden, derentwillen deutsche Nationalisten von Heute Europa am liebsten mit Krieg überziehen möchten.
Unmittelbar nach dem Zusammenbruch schrieb jener alldeutsche Pamphletist, der sich Junius alter nennt, eine Broschüre mit dem Titel: »Das deutsche Reich – eine historische Episode?« Zieht man das Fragezeichen ab, so hat der Mann ganz und gar recht: Bismarcks Reich ist wirklich nur eine historische Episode gewesen. Zurückgeblieben ist ein ins Elend geworfenes Volk, dem der schnell vorübergerauschte Glanz und Schall des Kaisertums den Verstand verwirrt hat, das nicht mehr weiß, was es will und dem nur ziemlich klar ist, daß es mit der demokratischen Republik nichts anfangen kann. Stünde die Vernunft höher im Preis, so müßte man wenigstens zugeben, daß die Republik von Weimar, so unzulänglich ihre Praxis auch gewesen sein mag, doch einen Willen zur Form aufweist, während Bismarcks Fürstenbund eine welthistorische Monstrosität war, ein staatsrechtliches Kuriosum, das sich nur durch Diktatur im Innern und durch eine geniale Außenpolitik helfen konnte. Die Epoche Bismarcks war die der Industrialisierung, des ökonomischen Aufschwungs. Statt der politischen Freiheit, für die der Bürger noch zwanzig Jahre vorher auf die Barrikade gegangen war, bekam er die geschäftliche Prosperität.
Vielleicht ist das der Grund, weshalb das Bürgertum heute so inbrünstig die Reichsgründung feiert. Denn das war sein Reich; wenn ihm auch der Staat eine Kröte nach der andern zu schlucken gab, so verdiente er doch sein gutes Geld dabei, so regierte er zwar nicht im Lande, wohl aber im Geschäft, in der Fabrik, in der Familie. Kein kulturelles Band verknüpft uns mehr mit 1870 oder 1880. In dieser Zeit des höchsten politischen Glanzes waren Geist und Künste in die faulsten und fettesten Niederungen versunken. Was diese Jahre überdauert hat und noch zu uns spricht, hielt wenig von Bismarck und seinem Reich. Anton von Werners naturgetreue Uniformlitzen, die abscheulichen Klapperverse hochgemuter Poeten, der bunte Trompeter von Säckingen auf der Barttasse – das sind so die Reliquien aus dieser glorreichen Zeit. Am Beginn des zweiten deutschen Kaiserreiches steht der furchtbar schneidende Protest von Nietzsches »Unzeitgemäßen Betrachtungen«, an seinem Ende Heinrich Manns »Untertan«.
Heute ist das Bürgertum wirtschaftlich ruiniert. Der selbstbewußte Besitzer von einst wankt verzweifelnd zwischen leerem Tresor und Gashahn. Das Geschäft ist überschuldet, und da, wo er zu herrschen gewohnt war, in der Familie, ist er quantité néligeable. Die Söhne verdienen – so weit sie verdienen – ohne sich um antiquierte Vorurteile zu kümmern; die Töchter bringen ihre Liebhaber mit nach Haus. So ist es wohl begreiflich, warum die Altern sich nach Zeitläuften zurücksehnen, wo sie noch etwas bedeuteten, wo sie Herren- und Besitzergefühlen nachgehen durften, Zucht und Sitte die Untergebenen, zu denen auch Frau und Kind zählten, in Unmündigkeit hielt. Warum aber die junge Generation, warum die Jahrgänge 1900 bis 1910 diesen Kult der Vergangenheit mitmachen, das mag der Teufel wissen. Kein junger Mensch von Heute wäre mehr imstande, sich mit dem alten Obrigkeitsstaat und mit seiner in die privatesten Dinge reichenden Autorität ohne den leidenschaftlichsten Widerstand abzufinden. Den patriotischen Verehrern der Kasernenpflicht sei es gesagt: – wenn heute Zwanzigjährige wie früher alten Drillunteroffizieren ausgeliefert werden sollten, sie würden am ersten Tage alles in Klump schlagen. Gegen schikanöse Finanzämter auf dem flachen Lande werden von aufgeregten Bauern Bombenanschläge unternommen – sagen wir ruhig: unter der schadenfrohen Genugtuung von mindestens 80 Prozent aller Deutschen. Vergleiche man das mit der politischen Kirchhofsruhe vor ein paar Jahrzehnten. Deutschland hat sich in höherm Maße republikanisiert, als die Freunde der Vergangenheit wissen, als den Republikanern selbst angenehm ist. Deren untilgbare Schuld lag in ihrer Zagheit, in ihrem Mangel an Führung im ersten republikanischen Jahrzehnt. Sie glaubten, die neue Zeit immer nur in vorsichtiger Dosierung verabfolgen zu können, sie zogen die Trennungsstriche nicht scharf genug und anstatt sich als die Bahnbrecher einer andern Ära, als die Stürzer des Bismarckschen Reichs zu rühmen, gaben sie vor, dessen Ablösung, dessen Vollendung zu sein. So stehen sie in traurigem Zwielicht da, nicht hierhin, nicht dorthin gehörig. Aus alten Legenden und neuem Unsinn bereitete sich Deutschland eine neue verrückte Mixtur. Bismarck war trotz alledem eine Jahrhundertgestalt, Wilhelm II. – nun, ein nicht unbegabter Jahrmarktkünstler – wer aber ist Adolf Hitler? Wie groß muß die geistige Versumpfung eines Volkes sein, das in diesem albernen Poltron einen Führer sieht, also eine Persönlichkeit, der nachzueifern wäre! Wie groß muß die psychologische Unfähigkeit dieses Volkes sein, sein mangelnder Instinkt für Echtheit und Falsifikate! Nun, Hitler wird niemals das Dritte Reich verkünden, Hitler wird untergehen, aber mit ihm jene erste republikanische Generation, die ihn mit ihren Fehlern und Unterlassungssünden, mit ihrem beduselten Optimismus gradezu gezüchtet hat.
Zu den vielen Unfaßbarkeiten des republikanischen Regimes gehört die offizielle Begehung eines nicht mehr als dynastischen Vorfalls, wie es die Reichsgründung gewesen ist. Am 18. Januar 1871 soll die deutsche Einheit vollendet worden sein? An diesem Tage ist sie durch die Begründung des kleindeutschen Kaisertums der Hohenzollern für immer gesprengt worden. Als Wilhelm Liebknecht 1870 die Kriegskredite ablehnte und später das Bismarcksche Reich bekämpfte, da war diese Haltung weniger aus sozialistischer Doktrin zu erklären, denn aus großdeutscher und schwarzrotgoldener Erinnerung, aus der Tradition eines kombattanten Achtundvierzigers. Wer heute beklagt, daß so viele Deutsche außerhalb des Reichs leben, der mag die gefräßige und engherzige Hauspolitik der Hohenzollern dafür schuldig sprechen. Niemals wieder wird es eine einheitliche deutsche Nation geben. Wenn einmal der große Schlußkampf zwischen Kapital und Arbeit ausgefochten wird, dann werden zwar die Grenzsteine wieder wanken, aber dann werden Klassen gegeneinanderstehen, und nicht mehr Nationen.
Sie mögen ihr Reich feiern, die Fragmente der ehemaligen Herrenkaste, die Militärs, die hohe Bureaukratie, die Besitzer von Geld, Land und Menschen. Die Republik hat damit nichts zu tun. Die Republik nennt diese amtliche Feierei Verrat an ihrem Geist, unverzeihliche Konzession an ihre monarchistischen und fascistischen Feinde. Denn die Republik ist geschaffen und gehalten worden von jenen, auf die das Kaiserreich seine Gendarmen und sein Sozialistengesetz hetzte. Solange die Reste dieser Epoche nicht getilgt sind, begeht der neue Staat ein Verbrechen an seiner Existenz, das anzubeten, was noch nicht verbrannt ist. Erst vor der Aschenurne des zweiten deutschen Kaiserreichs mögen alte Leute ihre Trauerzeremonien abhalten, junge Menschen in Pietät den Hut lüften. Noch läuft zu viel von dem Unwesen der Kaiserzeit lebendig herum, als daß es erlaubt wäre, sie als verehrungswürdige Vergangenheit zu behandeln. Streng genommen fällt diese ganze Festivität unter das Republikschutzgesetz, diese Republik müßte sich beim Vierten Strafsenat selbst denunzieren.
Die Weltbühne, 20. Januar 1931