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1931

969

Nach Ostland

Ein Heer von Ministerialbeamten zieht nach Lauenburg in Pommern, wo erste Rast gemacht wird. Dann geht es übern Korridor nach Königsberg, dann weiter, bis nach Oberschlesien hinunter. Der Reichskanzler und ein paar Minister kommen als Weise aus dem Abendland, um dem bedrohten Osten Mut zuzusprechen, auch weiterhin die aus dem allgemeinen Reichselend gezogenen Millionen in den Kassen der Rechtsparteien gut anzulegen, soweit sie nicht notleidenden Großgrundbesitzern zugeflossen sind. Offiziell wird diese Reise als Studienfahrt bezeichnet. Was, in Gottes Namen, soll in diesen zehn Tagen studiert werden? Der Sachbestand deutscher Osten liegt dem Kabinett in Zahlen vor, die ja auch ihre Sprache reden, die persönliche Besichtigung der subventionierten Gebiete geht in napoleonischem Tempo vor sich. Denn daß Brüning oder Treviranus sich in grüner Joppe und Wachstuchmütze unters Volk mischen, um auf die Art des verkleideten Kalifen zu erfahren, wie ihm ums Herz ist und wie es von seiner Regierung denkt, das ist kaum anzunehmen.

Handelte es sich bei dieser Fahrt nach Ostland nur um eines der in bestimmten Zwischenräumen fälligen bureaukratischen Schaustücke, reiste man nur deshalb nach Königsberg, weil in Mainz auch welche gewesen sind, man könnte schnell darüber hinweggehen. Wir wissen, daß die sogenannte Rettung des Ostens durch Hineinstopfung von Riesensummen die besondere Idee des Reichspräsidenten ist, dem die adligen Grundherren von östlich der Oder ständig mit ihrem Gejammer in den Ohren liegen. Das Ostprogramm hält Herrn Schiele noch, der im übrigen selbst bei seinen eignen Leuten nicht mehr viel gilt. Kommissar für die Osthilfe ist Herr Treviranus, der andre Triarier, der jetzt über ein Scheckbuch verfügt, seitdem sich sein rheinisches Portefeuille durch französische Erfüllungspolitik erledigt hat; ein Wechsel, der seine Wichtigkeit nicht vermindert hat. Aber diese Kavalkade, bis zum 14. Januar mit Marschgeld und Verpflegung versehen, hat sich schließlich nicht in Trab gesetzt, um in Masuren die Republik populär zu machen. Diese Reise ist ganz und gar außenpolitisch, sie ist eine Demonstration gegen Warschau, ein Auftakt zur genfer Polendebatte, deren Ausgang noch in den Sternen geschrieben steht, deren praktischer Effekt jedoch schon jetzt irdisch greifbar ist: Null Komma Null. Ist der deutschen Minderheit in Polen mit solchen Manifestationen gedient? Niemand glaubt es, das Auswärtige Amt zu allerletzt. Dennoch beugt es sich dem Verlangen nach »außenpolitischer Aktivität«, anstatt redlich zu erklären, daß dieses Schlagwort stets unsre ärgsten diplomatischen Niederlagen herbeigeführt hat. Herr Curtius verzichtet sogar auf den Vorsitz in Genf. Das ist nur folgerichtig, denn der deutsche Vertreter auf dem Präsidentenstuhl würde das ganze nationale Melodrama von dem geknechteten Deutschland zerstören, das nirgendwo Gehör findet und das jetzt zu ernstern Mitteln greifen muß, weil man mit ihm nicht als Gleicher unter Gleichen verkehren will.

Vor dem Völkerbund sollen nur deutsche Beschwerden gegen Polen verhandelt werden, aber unsre Öffentlichkeit ist inzwischen so gründlich präpariert worden, daß sie eine allgemeine Revisionsdebatte erwartet. Das vaterländische Demonstrantentum wird auf keinen Fall zufrieden sein; und wenn Herr Curtius auch ein paar Tage lang noch so sehr die Erinnerung an seinen bedeutenden Vorgänger zu verdrängen sucht, um den Schreihälsen wenigstens halbwegs Genüge zu leisten, er wird reif zum Schnitt zurückkehren, und die für den Völkerbund eingelernte Entrüstung wird ihm ebenso wenig nützen wie seine Preisgabe des Remarque-Films und des Kriegsschuld-Films. Vernunft steht augenblicklich nicht hoch im Kurs, sonst müßte doch bemerkt werden, daß es lichterloher Wahnsinn ist, Youngrevision und territoriale Revisionen zugleich aufs Tapet zu bringen. Es wird sich dabei nicht viel mehr ergeben als neuer Anlaß zum Protestieren, aber auch das gilt ja in Deutschland mit seinem hochentwickelten Berufspatriotentum als Erfolg. Von der genfer Niederlage werden noch viele vaterländisch gerichtete Männer nebst Familie leben.

Curtius wird es nicht leicht haben – ebenso wenig wie Graf Zaleski, der polnische Außenminister. Der polnische Hauptdelegierte wird keine wohlgeneigten Hörer finden. Denn Polen ist nicht mehr das verwöhnte Hätschelkind der Siegerstaaten. Das heutige Polen wird von einem Despoten regiert, dessen geistige Gesundheit wohl mit Recht angezweifelt werden darf. Dies Polen, dessen Oppositionelle von einer sadistischen Offiziersbande in Festungsgefängnissen malträtiert werden, rangiert in der Weltmeinung nicht mehr höher als Horthys Ungarn oder das Jugoslawien der Generalskamarilla. Brest-Litowsk steht zwar nicht zur Debatte, aber die Schatten dieser düstern Mauern werden über Zalęskis Plaidoyer fallen. Das könnte ein großer Vorteil für die deutsche Sache sein, wenn ... wenn eben Curtius nicht im Schatten Hitlers stünde.

Wenn nicht eben alle Welt wüßte, daß ohne den nationalsozialistischen Auftrieb in Deutschland der Außenminister kaum auf den Gedanken verfallen wäre, eine Auseinandersetzung zu eröffnen, die er unter normalern Verhältnissen als zwecklos oder gar gefährlich abgelehnt hätte. So werden die beiden Gladiatoren, der Deutsche und der Pole, jeder mit einem schweren Gewicht am Bein antreten. Der Eine vertritt ein Regime des offenen fascistischen Nationalismus, der Andre eines, das noch nicht ganz so weit ist. Bei dem Einen wird schon mit dem ganzen Martercomfort des Mussolinismus regiert, bei dem andern noch nicht. Bei dem Einen gibt es schon lange Pogrome, bei dem Andern steht das noch bevor. Zwei Mächte, die beide nicht nach Ambra duften, appellieren an das Gewissen der Welt. Die Kräfte in Deutschland, die Herrn Curtius zum Schwerttanz anstacheln, sind nicht grade geeignet, Sinn für Recht und Billigkeit zu erwecken.

So etwa dürfte in Genf kalkuliert werden: Wird in Deutschland nicht seit Jahren der Krieg gegen Polen geschürt? Die deutsche Politik nimmt Exzesse gegen Angehörige der deutschen Minderheit zum Anlaß, aber sie meint den Korridor, meint die Veränderung der Ostgrenzen. Warum revoltiert der deutsche Nationalismus denn nicht gegen Italien, das die Südtiroler noch viel ärger mißhandelt? Im Gegenteil. Italien ist seine Hoffnung; er hat sich sogar einen imaginären Block revisionsbereiter Staaten ausgedacht, mit Italien als Mittelpunkt. Und bringt nicht die Mehrzahl der deutschen Blätter die gleichen Beschwerden gegen Prag vor, wo die Deutschen lange mitregierten? Figuriert nicht der höfliche, immer verständigungsbereite Herr Benesch in der deutschen Presse ewig als das schwarze Biest, kriegt er nicht sogar schlechtere Zensuren ab als der finster umwölkte Pilsudski? Nein, hinter diesen deutschen Lamentationen steckt nur neuer Expansionismus, neuer Imperialismus, in diesen herzbewegenden Wehrufen nach Gerechtigkeit leiert nur der neue Militarismus ein sentimentales Volkslied ab, und nur solange, bis er tiefere Register greifen kann. So etwa werden die Zeugen des Duells Curtius-Zalçski denken. Außer den Kämpfern selbst wird niemand in Schweiß geraten.

Es geht den Deutschen in Polen nicht gut, doch weit besser als andern nationalen Minoritäten. Es geht der deutschen Minderheit grade so, wie es einem widerstrebenden Bevölkerungsteil in einem Staate geht, wo Militärdiktatur die konstitutionellen Garantien mit der Stiefelspitze behandelt. Es sind rohe Ausschreitungen gegen Deutsche bekannt geworden, aber wir haben bisher nicht erfahren, daß man gegen Vertreter des Deutschtums in Oberschlesien so vorgegangen wäre wie gegen polnische Politiker aus den sozialistischen und demokratischen Gruppen. Opposition ist in Polen gefährlich, einerlei aus welchen Gründen, und Pilsudskis Feinden polnischer Zunge steht keine Calonder-Kommission zur Seite, die ihre Klagen nach Genf trägt. Deutschlands Beschwerde gegen Polen wird als ein von Militärs und Nationalisten diktierter Akt gewertet werden, als Auftakt einer Revisionscampagne, die heute noch mit völkerrechtlicher Argumentation geführt wird, morgen schon in unverhüllte Kriegsdrohung übergehen kann. Auch in der Zeit, wo wir uns mit Polen besser standen als jetzt, hörte man in Deutschland nicht auf, vom Ritt nach Ostland zu faseln.

Es hat etwas Symbolisches, daß auf dem Neujahrsempfang der Reichsregierung, an Stelle des beurlaubten Kanzlers, Herr Groener das Wort nahm, um über die Unmöglichkeit des Youngplans und über die Beschwerden der deutschen Minderheiten zu sprechen. Daß Groener das Wort führte, ergab sich gewiß aus Gründen des Alters und der Amtszeit. Aber nennt uns ein Land in der Welt, wo bei so hochoffizieller Gelegenheit der Kriegsminister die nächsten Ziele der Außenpolitik entwickelt? Wir haben nicht eine einzige deutsche Stimme der Verwunderung darüber gehört. Wir leben schon im militärisch-fascistischen Regime, für dessen Herbeiführung die Herren Schacht und von Seeckt, zwei Geschaßte, die allzu gern wieder ran möchten, ihre komischen Tänze aufführen.

Herr Groener sieht in »der Sorge für das deutsche Volkstum jenseits unsrer Grenzen« eine der wichtigsten Aufgaben. Herr Kriegsminister – Caritas beginnt zu Haus! Unter der Regierung Brüning geht es dem deutschen Volkstum diesseits der Grenzen einstweilen bitter schlecht, und was Ausschreitungen gegen Deutsche anbelangt, so braucht man nicht grade nach Polen zu reisen. Erst vor ein paar Tagen sind in Berlin wieder zwei Deutsche von einem Nationalbanditen niedergeschossen worden, einem Angehörigen jener Partei, die mit aller Gewalt für regierungsfähig erklärt werden soll. Die Herren Minister sagen noch behutsam »Sorge für das deutsche Volkstum jenseits unsrer Grenzen«, aber in der Gassenagitation heißt es anders. Da sagt man lieber gleich: Krieg und Annektion. Auch wir halten den Korridor nicht für eine weise und gerechte Lösung. Aber es sei doch die Frage gestattet, was sein würde, wenn Deutschland ihn plötzlich zurückerhielte. Es ist nicht einmal imstande, die Menschen innerhalb seiner heutigen Grenzen zu ernähren. Haben sich denn die Korridorkämpen niemals gefragt, was Deutschland mit dem neuen Volk auf neuem Raum anfangen sollte? Ein vergrößertes Territorium ist doch kein Heilmittel gegen Wirtschaftsnot. Ganz Europa leidet unter Störungen des kapitalistischen Systems, die nicht mehr funktionell sind, sondern schon organisch. Und diese Krankheit sollte mit Nationalismus behandelt werden können? Die Revision der Friedensverträge geht nur über ein sozialistisches Europa, es sei denn, daß der Kapitalismus, dieser alte Sünder, in seinen greisen Tagen plötzlich Vegetarier würde und sich zu planwirtschaftlicher Produktionsregelung und Zollunion bekehren ließe. Wir bringen dieser Lösung einige Skepsis entgegen, aber sie scheint uns realer zu sein als die vom deutschen Nationalismus und seinen willfährigen Trabanten in der Regierung erstrebte. Diese Fahrt nach Ostland ist gröbster außenpolitischer Dilettantismus. Alle Geister des Chauvinismus werden wieder aufgewühlt; das Rotfeuer der nationalistischen Radaupresse wirft einen kriegerischen Schein auf die sonst recht gleichgültigen Herren, die da nach Osten reisen.

Die Weltbühne, 6. Januar 1931


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