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Wer gegen wen?

Die Nationalsozialisten haben nun auch in Hessen die bürgerlichen Parteien überrannt und die Sozialdemokratie stark ins Hintertreffen gebracht. Die Kommunisten haben viel erobert, und die neue Sozialistische Arbeiterpartei hat trotz ungünstigsten Verhältnissen ein Mandat gewinnen können. Von den alten Bürgerparteien hat sich nur das Zentrum mit bestem Anstand behauptet. Die Gruppen Hugenberg, Dingeldey, Dietrich und einige andre liegen zerschlagen da. Die Massen der enteigneten Bürger flüchten hinter die Palisaden der Nationalsozialistischen Partei. Angesichts des ungeheuren Anwachsens dieser Partei, die noch vor ein paar Jahren eine etwas zweifelhafte Sekte war, verliert die Frage fast an Bedeutung, ob und wann sie regieren wird. Schon lange kommt die Regierung Brüning ihr auf allen Wegen entgegen. Die Notverordnungen, die Militarisierung des Innenministeriums, alles das sind Maßnahmen, die den Zustand von morgen oder übermorgen vorwegnehmen. Hitler regiert nicht, aber er herrscht.

Das deutsche Bürgertum schwindet politisch in dem Maße, wie es sozial an Boden verliert. Es begreift nicht das über seine Klasse hereingebrochene wirtschaftliche Schicksal. Es steht einer Revolution gegenüber, die es mit unbarmherziger Schnelle aus seinen Vorrechten jagt, und die doch weder Gestalt noch Gesicht trägt. Die französischen Adligen sahen doch die rote Mütze ihrer Gegner, die Spottverse der Ohnehosen heulten ihnen in die Ohren. Ça ira, ça ira, les aristocrats on les pendra. Die deutsche Besitzerschicht hat es nicht mit Bürger Samson zu tun, ihr Nachrichter ist der höchst korrekte Gerichtsvollzieher. Was Generationen erworben haben, wandert eines Morgens auf den kleinen klapprigen Wagen vor der Tür, der nachher so melancholisch durch die Straßen rumpelt wie Wilhelm Raabes Schüdderump. Ça ira, ça ira, celui qui s'élève, on l'abaissera.

Dieses Millionenheer, das sich dem Fascismus in die Arme wirft, fragt nicht, weil ihm nichts mehr zu fragen übrig geblieben ist. Desperat und kritiklos folgt es einer bunten und lärmenden Jahrmarktsgaukelei, weil nichts schlimmer werden kann als es bereits ist, so wie ein von den besten Ärzten aufgegebener Patient schließlich den Weg zum Kurpfuscher findet, der dem Krebskranken empfiehlt, eine Walnuß in der Tasche zu tragen. Jeder hofft, niemand fragt. Darin liegt das Glück des Nationalsozialismus, das Geheimnis seiner Siege, darin liegt aber auch seine Ohnmacht. Seine verschiedenartigen Bestandteile wachsen nicht zusammen, die Partei bleibt und bleibt eine kolossale Anschwemmung gebrochener Existenzen, leidlich gebunden nur durch den Glauben, daß der Heilige aus Braunau im Ernstfalle doch funktionieren wird. Aber der Heilige denkt nicht ans Funktionieren, dieser Prophet der German Science – man muß seinen Mumpitz so nennen – macht sich im Braunen Haus wichtig; kein Gestalter, jeder Zoll ein Dekorateur, heute Wilhelm II., morgen vielleicht schon Ludwig II. Zweimal hätte die Partei marschieren können. Am 14. September 1930 und am Abend von Harzburg war Deutschland sturmreif. Aber Hitler marschiert nicht; denn wenn er auch nicht viel weiß, so doch eines: daß er nur ein paar seiner Mobilgarden ausschwärmen lassen kann, daß aber das Gros keine Bewegung verträgt. Und im Grunde kalkuliert er nicht so unrichtig. Denn was Brüning und Groener für ihn tun, braucht er selbst nicht zu leisten. Nochmals: er regiert nicht, aber er herrscht. Er tut nichts, aber andre laufen für ihn.

Auf die Dauer kann es sich aber eine noch immer wachsende Partei nicht so bequem machen. An dieser Partei ist nichts originell, nichts schöpferisch, es ist alles entlehnt. Sie hat kein eignes geistiges Inventar, keine Idee; ihr Programm ist in aller Welt zusammengestoppelter Unsinn. Ihr äußerer Habitus und ihr Wortschatz stammt teils von den Linksradikalen, teils von Mussolini, teils von den Erwachenden Ungarn. Nur die Vereinsparole »Juda verrecke!« ist wohl in eigner Kultur gezogen. Diese Millionenpartei mit den fetten Industriegeldern hat bei ihren Ausflügen in den Geist immer nur die ärgsten und ältesten Klamotten aufgekauft. Was ihre Theoretiker Feder und Rosenberg angeht, so ist jede Unterhaltung mit ihnen unmöglich, während man mit einem vifen Praktiker wie Goebbels immerhin noch mit den Stiefelspitzen diskutieren kann. Alles an dieser Partei ist Nachahmung, alles was sie unternimmt schlechtes Plagiat. Selbst ihre Zeitungen sind im Format und in der graphischen Aufmachung aufs engste an eingeführte Blätter angelehnt, ihnen zum Verwechseln ähnlich gemacht. Alles in und an der Nationalsozialistischen Partei ist zusammengeklaut, alles Diebesgut, alles Sore; Material für stupide Köpfe aber fertige Finger. Dennoch waltet auch hier so etwas wie eine metaphysische Gerechtigkeit: die Herren Führer haben sich ein Stück zu viel gelangt. Sie haben sich von ganz links her auch die soziale Revolution geholt und unter ihre Leute geworfen. Damit hantieren sie nun wie der Affe mit dem Rasiermesser, und damit werden sie sich am Ende selbst die Gurgel abschneiden.

Hugenberg hat bekanntlich gesagt, wir müßten alle Proletarier werden, ehe es wieder besser wird, und im Grunde hat auch Karl Marx dasselbe gesagt. Heute ist dieser Tatbestand so ziemlich erreicht, es kommt nur darauf an, was für Schlüsse man daraus zieht. Die soziale Differenzierung wird schwächer und schwächer, man kann es sich beinahe ausrechnen, wann Deutschland von einer einzigen verelendeten Masse bewohnt wird. Bald wird es nur noch eine einzige proletarische Klasse geben, und selbst wer heute noch arbeitet, sich heute noch mit Vermögensresten in etwas Wohlhäbigkeit sonnt, tut es mit schlechtem Gewissen, fühlt sich im Innern doch nur als einstweilen zurückgestellte Reserve der großen Armee unter der einen grauen Fahne. Damit werden aber auch die innern Fraktionszwiste schattenhaft, die historischen Parteien selbst gespenstisch, weil sie nicht der wirklichen Sachlage entsprechen, weil dahinter nicht mehr die natürlichen Gruppeninteressen stehen, weil Deutschland anfängt, eine einzige Klasse zu werden. Die Parteien raufen sich wie sonst. Warum? Sie sind leer gewordene Hülsen. Die verschiedenen Kokarden fallen auf der Straße übereinander her und zerschlagen sich die dahinter befindlichen Stirnen. Warum? Wer steht gegen wen? Prolet gegen Prolet. Habenichts gegen Habenichts. Deutschland gegen Deutschland.

*

Es ist also eine Situation zum Handeln wie geschaffen. Selten stellt das Schicksal der Völker das Bild einer Nation so einheitlich. Die bürgerlichen Mittelparteien sind erledigt, das zwar immer noch intakte Zentrum ist nur eine Partei der taktischen Defensive, die vor jedem Entscheidungskampf einschwenkt und sich mit dem wahrscheinlichen Sieger zu vertragen sucht. Seine Leute gehn nur in die Wahlzelle, nicht auf die Straße. Die Entscheidung kann nur von den Fascisten kommen oder von den Sozialisten.

Unter diesen Umständen liegt der Gedanke der sozialistischen Einigung wieder in der Luft. Die Gewerkschaften schrumpfen in der allgemeinen Pauperisierung. Die Sozialdemokratie verliert überall, wo gewählt wird. Die Kommunisten gewinnen zwar, aber zugleich geraten sie mehr und mehr in Isolierung; ihre Radikalität geht auf zu viel und muß im tiefsten Defaitismus enden. Ihr Wachstum zwingt ihnen Aufgaben und Entschlüsse auf, die ihnen nicht nur aus innern Gründen gefährlich werden können. Eine so große Partei, die ständig unter dem Schwerte des Verbots lebt, kann leicht unsicher werden. Außerdem ist die KPD durch Programm und Doktrin an eine starre Linientreue gefesselt, die sie an der Entfaltung ihrer wahren Kraft hindert; sie kann davon nicht abweichen, ohne in schweren innern Zwiespalt zu kommen. Es ist mir einmal bei der Partei bitter vermerkt worden, daß ich mich über Heinz Neumanns chinesische Vergangenheit mokierte. Heute will ich mich gern rektifizieren. Es wäre ein namenloser Segen für die ganze KPD, wenn der moskauer Großherr, der für Herrn Neumann viel übrig haben soll, ihm möglichst bald eine neue ehrenvolle Mission in China übertragen möchte. Auch unter den deutschen Kommunisten gibt es zahllose, die die Auffassung vertreten, daß Herrn Neumanns nicht unbeträchtliche Begabung für chinesische Verhältnisse wie geschaffen ist.

Der Bürgerkrieg der deutschen Sozialisten untereinander wird immer naturwidriger. Der Fundus, um den sie sich schlagen, wird immer kleiner. Dieser Fundus ist die deutsche Republik. Hat der Fascismus einmal gesiegt, so werden die Sozialdemokraten ebenso wenig zu melden haben wie die Kommunisten. Auch hier lautet die Frage: Wer gegen wen? Proletarier gegen Proletarier. Arbeiter gegen Arbeiter. Dabei werden die Anhänger beider Parteien immer ähnlicher im Denken. Die kommunistischen Arbeiter verlieren die Geduld, auf eine Weltrevolution zu warten, die nicht kommt, obgleich die ökonomischen Zustände dafür reif zu sein scheinen. Die sozialdemokratischen Arbeiter dagegen verlieren den Glauben an den Opportunismus ihrer Führer.

Die Sozialdemokratie hat durch Rudolf Breitscheid die Möglichkeit operativen Zusammengehens mit den Kommunisten zur Erörterung gestellt. Das war vernünftig, aber das schlechte Echo bei der ›Roten Fahne‹ dürfte sich wohl auch durch die Wahl dieses Friedensbotens etwas erklären lassen. Es gibt noch genug Sozialdemokraten, die dafür besser geeignet sind. Herr Breitscheid ist eine Bettschönheit, er verliert, wenn er aufsteht. Es heißt auch, eine Diskussion schon im Anfang abdrosseln, wenn der ›Vorwärts‹ schreibt, die Kommunisten müßten es sich abgewöhnen, Brüning-Groener gleich Hugenberg-Hitler zu setzen. Es kommt nicht auf die besondere politisch-moralische Einschätzung dieser Herren an, nicht auf ihre Absichten sondern auf ihre Wirkung. Und hier muß man die Unterschiede schon mit dem Mikroskop suchen.

Es wäre eine Utopie und würde der Sache nur schaden, heute bereits die gemeinsame revolutionäre Front aller sozialistischen Parteien und ihrer Sezessionen zu fordern. Das ist ein Wunschbild, das augenblicklich an den sachlichen und personalen Differenzen zerbricht. Wenn zunächst nur ein taktisches Notprogramm fruchtbar gemacht werden könnte, so wäre das schon ungeheuer viel. Ein Programm der produktiven Abwehr: Verteidigung der sozialen Arbeiterrechte und der politischen Bürgerrechte gegen das System der Notverordnungen und den Fascismus, gegen Brüning und Groener, Hugenberg und Hitler. Was aber für alle Fälle verhindert werden muß, das ist die gleiche abscheuliche Gruppierung wie beim preußischen Volksentscheid. Dieses traurige Schauspiel darf sich nicht wiederholen, sonst erhalten wir im nächsten Frühjahr mit linksradikaler Hilfe einen Reichspräsidenten Hitler. Es ist ein Unglück, daß den sozialistischen Parteien wirkliche Mittler fehlen, daß die Bureaugenerale der Zentralen selbst Tuchfühlung suchen müssen und daß sie dabei leicht an Widerständen scheitern können, die sie selbst geschaffen haben. Wie viele Minuten oder Sekunden vor zwölf es schon ist, läßt sich nicht sagen. Periculum in mora. Die Herrschaften müssen sich beeilen.

Bei alledem ist es dennoch ein Fortschritt, daß heute wieder über Derartiges laut gesprochen werden kann, ohne daß die Ketzerrichter solche Stimmen gleich mit dicken Wollknebeln zu ersticken trachten. Möglich, daß wenig dabei herauskommt, aber die Zuversicht wird doch wieder rege, daß der Fascismus den letzten Gang verlieren wird. Er mag Deutschland überrumpeln, er wird es niemals besitzen. Er wird vielleicht noch höher steigen, aber zu keinem andern Zweck, als um so tiefer zu fallen.

Die Weltbühne, 24. November 1931


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