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Der geduldige Leser, der für den vorliegenden Kriminalroman eines sogenannten Diktators das notwendige Interesse aufgebracht hat, wurde hierfür gleich mit zwei wohlgelungenen Photographien, – mit einer auf der Titelseite, mit der anderen auf der Rückseite –, belohnt. (Oder bestraft?) Das erste Bild zeigt den Helden auf der Höhe seiner Macht, in den Tagen des unvergeßlichen Frühlings des Jahres 1919, als der damals Fünfunddreißigjährige die Herrschaft an sich gerissen hatte, das Diktator-Unkraut in seiner vollen Blüte. Das andere Bild zeigt denselben Mann neun Jahre später im Alter von vierundvierzig Jahren, – nach überstandener Verhaftung, Internierung, Auslieferung, nach glücklichem Mißbrauch sämtlicher internationaler Rechte, die ihn in so fürsorglicher Weise beschützt haben – wieder verhaftet, als Untersuchungshäftling in Wien.
Um seine Stellung in Rußland zu verbessern, hielt er schon wieder die Zeit für gekommen, neuerlich »etwas zu zeigen«. Als Zentrum seiner weiteren Tätigkeit suchte er sich »ausgerechnet« das arme, vielgeplagte Wien aus, um von dort die bolschewistische Revolution weiterzuverpflanzen. Das zweite Bild, das greuliche, auf dem er einen Schnurbart trägt, enthüllt in der peinlich scharfen Darstellung der unretouchierten und gar nicht schmeichelnden Polizeiaufnahme – durch die Linse des polizeilichen Photographapparates sieht er sich anders an als durch das Objektiv einer Salonkamera – neben den tiefen Furchen des verzerrten Gesichtes noch etwas, was zur Vervollständigung der Charakteristik Béla Kuns zweckdienlich erscheint: er sieht sehr, sehr albern aus. So dumm hätte man ja ihn gar nicht halten dürfen. Ein schlechter Komödiant, dachte er, daß der stehengelassene in den Mund hängende Schnurrbart genügen werde, um seine Identität zu verbergen. Er redete sich ein, daß er, der Künstler der Täuschungen, auch ein solcher Zauberer der Maske sei, daß er selbst die Eingeweihtesten täuschen und sich unerkannt in Wien wird umhertreiben können. Ingenieur Wagner, recte Béla Kun, hat sich aber bitter getäuscht. Einem österreichischen Nationalrat – der, wie merkwürdig, ausgerechnet damals Sicherheitsbeamter war, als Béla Kun in Wien interniert wurde, – kam bei einer zufälligen Begegnung das Gesicht Béla Kuns, – das man nur einmal gesehen haben muß, um es nie wieder zu vergessen, – etwas bekannt vor. Während nun der brave Nationalrat sein Gedächtnis angestrengt, seine Erinnerungen durchforscht hat, um die Identität des verdächtigen Ingenieurs festzustellen, fand sich ein früherer Komplize ein, der in Karlstein gleichzeitig mit Béla Kun internierte Genosse Klein, der den einstigen Freund treulos verraten hat. Béla Kun ist in die Hände der Polizei gefallen.
Da ihm das Leugnen nichts half, begnügte er sich damit, sich zumindest eine richtige Pose zurechtzulegen. Er hat seine nicht zu bezweifelnde Identität ohne weiteres zugegeben, sonst aber sagte er nur stolz und vielverheißend:
»Ich heiße Béla Kun, das gebe ich zu, und damit habe ich Ihnen auch mitgeteilt, daß Sie von mir nichts erfahren können.«
Aus der Zelle des Polizeigefangenenhauses wird er in die Zelle des Landesgerichtes geführt und dort beginnt er wieder die alte Komödie, mit Krankwerden und Klagen, mit Appellieren an das europäische Interesse, mit jener Geschicklichkeit, mit der er es immer verstand, seine eigenste Privatangelegenheit zu einem Politikum, zu einem europäischen Problem zu machen. Auf dem Wege seines weiteren Schicksales stellt sich ihm eine drohende Gefahr entgegen: Ungarn fordert die Auslieferung Béla Kuns, aber nicht des politischen Verbrechers, sondern des gemeinen Raubmörders. Deutsche Reichstagsabgeordnete, tschechoslowakische Kommunisten, französische Freidenker bemühen sich, ziemlich uninformiert in falsch angewendeter Ausführung sonst wohlgemeinter Absichten, als Schicksalslenker, Béla Kun wiederum zu retten, die historische Grimasse weiter zu erhalten. Die österreichischen Behörden lehnen das Ersuchen Ungarns um Auslieferung glatt ab. Béla Kun muß sich bloß wegen der unbedeutenden Anklagen verbotener Rückkehr, Falschmeldung, Benutzung eines falschen Passes und Geheimbündelei vor einem Schöffensenat verantworten. Das österreichische Gesetzbuch sieht für die angeklagten Vergehen insgesamt nur ein Jahr Gefängnis vor, obwohl die in der Tat verletzte Gesellschaftsordnung, ein verwundetes Land und Tausende von niedergemetzelten Opfern Genugtuung und Sühne fordern.
Béla Kun, Mitglied des Exekutivkomitees der III. Internationale, Ausgezeichneter des Roten Fahnenordens, – juristisch genommen – russischer Staatsbürger, – wenn sich auch Rußland nicht besonders bemüht, in seinem Interesse allzu aktiv einzugreifen, – muß schließlich – wohin sonst? – den russischen Sowjets ausgeliefert werden. Könnten die Schienen denken und fühlen, auf welchen der Zug, der Béla Kun befördert, hinweggleitet, müßten sie sich dagegen aufbäumen, die Last des Schwerverbrechers tragen zu müssen. Aber die Geschichte schützt und schützt ihre so plastisch ausgebildete Grimasse, Béla Kun muß immer wieder gerettet werden. In seinem Horoskop – ist in diesem Planetarium auch ein Sowjetstern? – muß es geschrieben stehen, daß er, solange er lebt, wie eine rote, unberechenbare, stets drohende und unheilbringende Sphinx die Welt in der Ungewißheit dunkler Möglichkeiten versetzen soll. Nicht seines menschlichen Wertes wegen, nicht aus der inneren Bedeutung heraus war, ist und bleibt das Leben Béla Kuns ein Stück Weltgeschichte. Er kann eigentlich nichts dafür, daß die Geschichte eine solch abscheuliche Grimasse zu schneiden vermag, die wie Béla Kun aussieht, dessen Leben sodann ein abscheuliches Kapitel der europäischen Geschichte bildet.
»Von Revolution zu Revolution« lautet der Titel des Buches, das Béla Kun unter dem Pseudonym Blasius von Kolozsváry geschrieben hat; es ist zugleich seine einzige schriftstellerische Arbeit, dieses streng akademisch gehaltene Werk »über die Notwendigkeit ewiger Revolutionen.«
»Von Zelle zu Zelle« müßte das Buch richtig heißen, wenn er objektiv und aufrichtig genug wäre, sein wirkliches Leben darzustellen, seine Lebensgeschichte – ein grobes Stück Weltgeschichte – wahrheitsgetreu zu schildern. Seit zehn Jahren spielen im Leben Béla Kuns die Zellen die Hauptrolle:
die Zelle des Budapester Schubhauses, in der er halbtot verprügelt wurde,
die Zelle im Sammelgefängnis, aus welchem seine Macht emporsproß,
die Zelle der Wiener Polizeidirektion,
die Zelle in Karlstein,
die Zelle in Steinhof,
dann nach einer vieljährigen Pause wieder die Zelle des Wiener Landesgerichtes,
das sind die würdigen Etappen seines Lebenslaufes, der, wie grotesk es auch erscheinen mag, ein Bestandteil europäischer Politik wurde.
Ein stilvolles Bild, bezeichnend weniger für Béla Kun als für den Zeitgeist, dem seine Existenz zu verdanken ist, für die Jazzatmosphäre der Welt, in der eine solche Pflanze gedeihen kann: Béla Kun sitzt wieder in irgendeiner Zelle irgendeines Gefängnisses und streckt sich vergnügt in der Zufriedenheit über den Erfolg seines Lebensmottos: »Mundus vult decipi, ergo decipiatur.« Das schöne Lebensprogramm des ewigen Häftlings, ob frei oder verhaftet, immer in einer Zuchthausatmosphäre lebend, lautet in seiner primitiven Übersetzung: »Mundus vult decipi? …« Ich kann nichts dafür, daß sich die Welt unbedingt betrügen lassen will … »Ergo decipiatur!« … Bitte sehr, das kann man schon machen …
Und er macht es weiter …
Dem kriminellen Kolportageroman eines Hochstaplers der Weltgeschichte kann man noch lange nicht das obligate Schlußwort hinzufügen:
Ende