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I.

Hinter Gottes Rücken lag dumpf und schweigend das Nest, aus dem er kroch … Hinter Gottes Rücken – eine typisch ungarisch geographische Bezeichnung. Im alten Ungarn gab es Ortschaften, die von der Hauptstadt viel entfernter lagen und schwerer zu erreichen waren, als etliche Kolonien des britischen Reiches von London. Tief verborgen in Bergen, wohin keine Eisenbahnen, keine richtigen Straßen führten. Die ungarische Sprache hat ein unübersetzbares Bild, plastisch und verständlich, für die Entfernung der nahen und doch so versteckten, unerreichbaren Ortschaften: »Nicht einmal die Vögel kommen hin.« Bis Klausenburg, das ungarisch Kolozsvár hieß, damals die schöne Hauptstadt Siebenbürgens, welche die Ungarn stolz als die »schatzreiche« bezeichneten, fuhr man aus Budapest zwölf Schnellzugstunden, von Klausenburg noch etliche sechs, acht Stunden bis Csucsa. Unweit von der alten rumänischen Grenze, nur nach einer endlosen Wagenfahrt erreichbar, versteckt, wie wenn es das große Geheimnis seiner kommenden Bedeutung hätte verbergen wollen, lag Szilágycsehi.

Zu diesem Ort führte keine Bahnlinie, bloß ein lehmiger Weg zu einer größeren Straße, gleichfalls aus Lehm und Schmutz, die dann eigentlich Szilágycsehi hieß. Eine einzige Straße, wie alle Dörfer in Siebenbürgen, verschlafen, versunken, vergessen …

Dort war der alte Kohn der Dorfnotar. Dorfnotar zu sein, zu einer Zeit, wo das Schreiben und Lesen für die anderen Dorfbewohner noch eine unbekannte Kunst war, wo der Analphabetismus und die Trunksucht herrschten, bedeutete, uneingeschränkter Herr zu sein über die paar tausend Seelen, welche das Glück oder Unglück in die Siebenbürger Berge verschlagen hatte, es hieß, je nach Veranlagung des Herrn Dorfnotars, Berater oder Ausbeuter, Vater oder Verderber des Volkes zu sein. Onkel Kohn soll sein Volk nicht schlecht behandelt haben, Onkel Kohn zeigte Verständnis für die Leiden und Qualen des Volkes. »Kohn bácsi« bácsi, ungarisch = Onkel. zählte zu den besseren Vertretern einer Verwaltung, die nunmehr der Geschichte angehört.

Der Dorfnotar versieht alle administrativen Agenden des Dorfes, das sonst demokratisch verwaltet, durch einen gewählten Dorfrichter beherrscht wird. Er ist ein Mittelding zwischen staatlicher und städtischer Behörde, und ein Unikum dort, wo ihm nebst der Führung des Matrikelamtes auch die Arbeiten für das Steuerwesen, auch die Tätigkeit eines Winkeladvokaten obliegen. Denn kein Rechtsanwalt, keine noch so amtswütige Behörde lassen sich in einem solchen Nest nieder; es gibt keinen Arzt, keinen Tierarzt. Der Dorfnotar ist der einzige, der einen Hut trägt, der einzige, der ein Herr ist, der einzige, der Pantalons anzieht, der einzige, der den Klassenunterschied repräsentiert. Er ist der allmächtige Herr Notar.

Dreierlei Juden kannte man in Siebenbürgen und drei verschiedene und charakteristische Bezeichnungen fand das Volk für sie. Die aus Galizien eingewanderten Juden, welche noch die »Peies« trugen und nur allzu schwer die ungarische Sprache erlernen konnten, hießen »Ladenjuden«. Die Juden der größeren Städte, ob sie aus Spanien oder Galizien eingewandert waren und sich nun auf die Herren ausspielten, die ungarische Sprache korrekt oder mit wenig Akzent, dafür die deutsche immer im Jargon sprachen, waren die »Pflasterjuden«; die Juden, welche ihr Leben auf dem Lande, ständig mit den Bauern verbrachten, alle ihre Eigenschaften, ihre Sprache erlernt hatten, ihre Gewohnheiten nachahmten, hießen die »Wiesenjuden«. So ein »Wiesenjud« war der alte Onkel Kohn, der Dorfnotar von Szilágycsehi, der in den siebziger Jahren, in der seit 1867 breit-liberalen Verfassungsära, sich dort diese hohe Stelle errang. Der Wiesenjud spricht ungarisch, wie ein Bauer, kann keine fremden Sprachen erlernen, wie ein Bauer, raucht Pfeifen, wie ein Bauer, und spuckt, wie ein Bauer. Der Wiesenjud trägt Stiefel, verschnürte Hosen, hat einen gewichsten Schnurrbart, ist der geborene Nationalist, immer in der Opposition, und benimmt er sich nur halbwegs anständig seinen Untertanen gegenüber, wird er beliebt. Jedes Dorf hat seinen eigenen Juden gerne, ist stolz auf ihn, vergleicht ihn mit dem der Nachbarn und steht auf dem Standpunkt des allzu gerechten Ausspruches: »Haust du meinen Juden, so hau ich deinen Juden.« Onkel Kohn wurde nicht gehauen. Onkel Kohn war beliebt, Onkel Kohn hat sehr gut gelebt, so daß er sich die strenggläubig erzogene Tochter des Kramhändlers aus der Nachbarschaft holen und mit ihr eine Familie gründen konnte.

Im Jahre 1884 wurde der alte Kohn Vater. Ein großes Fest für das Dorf und die ganze Nachbarschaft. Mit allen denkbaren Einzelheiten jüdischer, traditioneller, sogar ritueller Zeremonien wurde das Glück bejubelt, wurde aus dem Neugeborenen ein richtiger Stammhalter des alten Kohn, so wie sich eben die alten Wiesenjuden so einen Stammhalter vorstellen.

»Kohn bácsi« entschied sich für den Namen Béla. Ein rein ungarischer Name, der im Deutschen ungefähr dem Namen Adalbert entspricht. Ungarische Könige trugen diesen Namen, sogar mehrere; die Tartaren, welche Ungarn zum erstenmal verwüsteten, kamen unter Béla IV. ins Land. Béla soll er heißen, dachte sich der stramme Ungar, wenn er auch Kohn hieß, um auch mit dem Namen das hundertprozentige Bekenntnis der Zugehörigkeit zur ungarischen Nation zu dokumentieren, der er mir vollem Herzen anzugehören wünschte.

Der kleine Kohn war da. Aus dem kleinen Kohn wurde der große Béla Kun.


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