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Béla Kun hatte – welch' merkwürdige Eigenschaft bei einem großen Revolutionär und Verkünder einer neuen, furchtbar neuen Gesellschaftsordnung – einen auffallend ausgeprägten, übertrieben zärtlichen Familiensinn. Er fühlte sich besonders wohl, wenn seine Angehörigen sich um ihn herumtrieben. Die ständig wachsenden Aufregungen, die Angst vor dem drohenden Herannahen der mit mathematischer Präzision einmal doch einsetzenden Folgen seiner Handlungen konnte nur das Beisammensein der ganzen Familie vergessen machen. Dieser einzige Trost und zugleich seine größte Freude sollten ihm denn auch nicht versagt bleiben: die ganze Familie, »die Mischpoche«, war im Hotel Hungaria oder, wie sie es nannten, im Sowjethause, stolz vereint.
Entsetzt, in der mehr als schwierigen Situation voll von Komplikationen, saß Béla Kun unter den Seinen. Papa Kun, der alte Kohn, wurde doch endlich aus der rumänischen Gefangenschaft befreit und wohnte in unmittelbarer Nähe seines Sohnes. Auch die Schwester Béla Kuns tauchte alsbald auf. Sie hieß Irene, wie seine Frau, und versah die Agenden einer Sekretärin neben ihrem berühmten Bruder; eine energische, allzu männliche Weibsperson, die Béla Kun nicht nur im Äußeren, sondern auch im Benehmen sehr ähnlich sah. Sie wurde die verläßlichste Mitarbeiterin und oft auch die gefährlichste Partnerin des verwegenen Usurpators.
Wenn Béla Kun am letzten April, als seine Herrschaft im ganzen erst vierzig Tage währte, über das Erlebte und das Erreichte eine Bilanz aufstellen wollte, fand er bloß einen gefährlichen Passivposten: die Angst vor der kommenden Vergeltung. Ein schaudernder Missetäter saß da im Kreise seiner Intimen; »unter sich« im diskreten Beisammensein konnte er getrost auf seine Brust schlagen und fragen: »Hab' ich das notwendig gehabt?« Die Arbeiterkrankenkasse, das Kaffeehaus in Kolozsvár, die Agitatorenschule in Moskau, die Nachtasyle verbrecherischer Kommunisten und vor allem das Sammelgefängnis gaben doch nicht die geeignete Qualifikation zur Leistungsfähigkeit eines Diplomaten, zu den Aufgaben eines führenden Staatsmannes. Er mußte einsehen, daß er in den ersten vierzig Tagen – werden noch weitere vierzig folgen? – eigentlich mehr Fehler begangen als geschickte Schachzüge gemacht hatte.
Die Angst um das eigene Schicksal fing an, ihn besonders zu irritieren. Der Schutz der Ausländer wurde plötzlich seine größte Sorge. Während der ganzen Anfangszeit kam von der Entente ein einziges Telegramm, – schön – schön, aber nicht sehr angenehm. Balfour, der britische Außenminister, telegraphierte an Béla Kun – das waren eigentlich die ersten Worte, die er als Volkskommissär für Auswärtiges aus dem Westen erhielt –, daß England für die Sicherheit der in Budapest lebenden britischen Untertanen, für ihr Leben und Vermögen Béla Kun persönlich verantwortlich machen würde. Béla Kun beeilte sich, seinen britischen »Kollegen« zu beruhigen, daß in Budapest die größte Ruhe herrsche und daß sowohl das Leben wie das Vermögen der Ausländer in jeder Weise verschont bleibe; er habe auch strenge Verordnungen erlassen, die den Schutz der Ausländer gewährleisten. Die Wohnungen der Ausländer erhielten vom Auswärtigen Amte besondere Schutztafeln, die jeder respektieren müsse. Die fremden Gesandtschaften und Missionen wurden unantastbare Heiligtümer.
Was immer auch geschah, Béla Kun war stets nur von der Sorge um das eigene Leben erfüllt. Der Besuch des Generals Smuts bekundete ja auch das Interesse des Auslandes. Wäre es nicht klüger gewesen, statt die Note abschlägig zu beantworten, sie anzunehmen, wo er – der marxistische Kater um den nationalistischen Brei herum –, obwohl er die Besetzung neuer ungarischer Gebiete aus wirtschaftlichen Gründen nicht akzeptieren wollte, mit gewissem Stolz verkündete, er stünde nicht auf der Grundlage der territorialen Integrität? Der provinzielle Winkeljournalist konnte eben nur mit billigen Raffinements operieren. Dummer Junge! Er dachte, es genüge, wenn er die schmerzlichen irredentistischen Wunden Ungarns grob aufreiße, wenn er die Integrität des Landes als Schlagwort preisgebe – und er werde im In- und Auslande beliebt. Er hat sich darin bitter getäuscht, ebenso wie in allen seinen anderen Hoffnungen, in der Hoffnung auf die Weltrevolution, in der Hoffnung auf die Hilfe der »sich nähernden« russischen Armee. Furchtbare Situation.
Also, die Bilanz sah sehr schlecht aus. In den letzten Tagen des Monats April hat die ursprünglich improvisierte rote Armee, diese Lumpenarmee aus Werbungen von Plakaten und Straßenumzügen, vollständig versagt. Die Truppen mußten die Verteidigungslinie der Theiß aufgeben und sich nach Räumung der wichtigsten Städte und Brückenköpfe nach dem Westen zurückziehen. Auch die Tschechen setzten plötzlich nördlich von Miskolcz mit einem Angriff ein. Das Hauptquartier der roten Armee mußte schleunigst den Rückzug antreten. Die Soldaten bildeten kleine, verkommene Räuberbanden; die größte Sorge war nicht mehr, die rote Armee geordnet gegen den Feind zu führen, sondern womöglich alle Soldaten zu desarmieren, um vor Plünderung und Anarchie wenigstens die Hauptstadt, wohin die Horden strömten, zu bewahren.
Béla Kun war verzweifelt. Er dachte zum erstenmal an die Flucht. Die Familie rüstete und schon waren in der Stadt Gerüchte verbreitet, daß Béla Kun und die übrigen Hauptübeltäter im Aeroplan durchgegangen seien. Béla Kun brüllte ganze Nächte hindurch ins Telephon. Er sprach mit Wien, forderte für sich Asylrecht und Einreisebewilligung und war außer sich, als die Wiener sich nicht besonders beeilten, seinem Verlangen nachzukommen. Es sind kaum ein paar Tage verflossen, als sich in Wien am Gründonnerstag blutige Straßenkämpfe abgespielt haben, kommunistische Demonstrationen, deren Inszenierung und Führung aus der Wiener Sowjetgesandtschaft, letzten Endes aus dem Propagandabüro des Béla Kun herrührten.
Noch gab es eine letzte Hoffnung. Es tauchte eine amerikanische Mission auf. Es erschien ein gewisser Professor Brown, mit dem Béla Kun vertrauliche Verhandlungen führte. Im Laufe dieser Besprechungen zeigte sich Béla Kun in seiner wahren Minderwertigkeit und bewies wieder einmal, daß er selbst seinen Brüdern im Verbrechen keine Treue bewahren konnte, daß er selbst die verläßlichsten Kameraden preisgab. Er sandte an das Oberkommando ein Telegramm:
»Laut Meinung der amerikanischen Mission würde es im Auslande besonders guten Eindruck erwecken, wenn in der Regierung gewisse Personenänderungen durchgeführt werden könnten. Als neue Volkskommissäre sollten Bolgár und Weltner (– zwei gemäßigtere Sozialdemokraten –) in die Regierung gewählt werden. Szamuelly und Pogány sollen andere wichtige Betrauungen erhalten. Wollen Sie die Güte haben und mit ihnen sprechen und den Erfolg Ihrer Unterredung mir zu telegraphieren. Dieser Personenwechsel würde weitere Verhandlungen garantieren. Es wurde versprochen, daß im Falle der Durchführung der Änderungen die Amerikaner geneigt sind, in Paris zu vermitteln.
Béla Kun«
Der Oberkommandant der roten Armee führte den Auftrag durch, dann fuhr Professor Brown an die Front, um die Demarkationslinie zu überschreiten und die Rumänen um Waffenstillstand zu ersuchen. Es kam aber nicht dazu. Es hatte sich nämlich bald herausgestellt, daß Béla Kun glatt gelogen hatte. Professor Brown hat wohl die Entfernung von Szamuelly und Pogány, der beiden blutrünstigsten Volkskommissäre, gewünscht, vor allem aber forderte er die Entfernung Béla Kuns selbst. Diese wichtigste Forderung der amerikanischen Mission hat jedoch Béla Kun einfach verschwiegen. Seine beiden Freunde hätte er gern geopfert, er selbst aber wollte nicht weichen. Professor Brown überschritt daher nicht die Front, sondern kehrte im Kanonendonner der vorwärts marschierenden rumänischen Truppen um und verließ Ungarn ohne Abschied. Professor Brown konnte sich vielleicht denken, daß zwar Napoleon von Metternich die Meinung hatte, der große Staatskanzler müsse ein großer Diplomat sein, da er prachtvoll lüge, aber die ganz hohe Schule der Lüge, bei Béla Kun zum alltäglichen Gebrauch erniedrigt, hatte ihn nur veranlaßt, jede weitere Verhandlung mit ihm abzubrechen.
Da saß nun der auf frischer Tat ertappte Lügner, ohne einen Ausweg zu sehen. Keine Ausreisemöglichkeit, kein Entkommen aus dem Feuer, das er selbst angezündet hatte, keine Einreise in irgendein Asyl, ganz gleichgültig, wo immer es sei, keine Rettung!
Und diese hoffnungslose Situation herrschte gerade am Vorabend des größten Festes, des 1. Mai, vor dem Tage, an dem er den endgültigen Sieg, den Ausbruch der Weltrevolution mit kalendermäßiger Pünktlichkeit versprochen hatte. Kein Ausweg, keine Lösung, keine Rettung winkten dem Schwindler, er war gefangen in der Falle seiner phantastischen Lügen. – Eine Wette ging auch verloren. Im Rausche der ersten Anfangserfolge hat er doch mit dem Chefredakteur des Sozialistenblattes gewettet – um hundert Havannazigarren –, daß bis Ende April auch in Österreich die Diktatur des Proletariats errichtet werde. Ein Bolschewik soll nicht wetten …
Und nun, wenn man sich sowieso nicht mehr helfen konnte, da sollte wenigstens der Tod schön sein! Er ließ das Programm eines wahnsinnigen Festes verkünden: der 1. Mai sollte gefeiert werden, wie ihn das Land noch nie gesehen hatte! In einer Totenkammer ließ er zum Tanz aufspielen. Inmitten der von allen Seiten drohenden Gefahr eines vollständigen Zusammenbruches veranstaltete er eine tolle rote Maskerade. Er selbst hatte es nicht nötig, eine Maske zu tragen. Sein Gesicht mit dem eisigen Lächeln war bleicher und starrer als die riesigen Gipsmasken, die auf den Straßen aufgestellt wurden, die monumentalen Köpfe von Lenin, Marx und Liebknecht. Der Spuk hüllte sich in rote Fetzen und tanzte seinen eigenen Totentanz.
… In der Stille der Appartements des Sowjethauses saß die Mischpoche des Diktators mit den ganz Eingeweihten beisammen und konnte Béla Kun nach den Aufregungen des Tages mit voller Bewunderung angaffen. Der Tag hatte nicht so viel Stunden, als Béla Kun an diesem einzigen Tage, an dem Vortage seines entfesselten 1. Mai, die Farbe wechselte. Wieviel Pläne er entworfen hat, wieviel Möglichkeiten sich ihm eröffnet und wieder verschlossen haben. Wie ein Wahnsinniger, plan- und sinnlos, inmitten des größten Krachs entschloß er sich, eine Siegesfeier zu begehen. Einen noch nie dagewesenen 1. Mai!
»Mein Sohn«, mußte sich der alte Kohn sagen, »ist er doch ein großer Mann!« Irene, die Sekretärin, wurde entschlossener als je und Irene, die Gattin, bewunderte noch mehr den Helden, der ihr Gatte war. Entschlüsse, die um die Existenz eines Landes gingen, Ereignisse, die noch Ströme von Blut kosten sollten, wurden in diesem Augenblick ausschließlich von der Angst eines Feiglings um sein fragwürdiges Leben dirigiert. Aus Angst veranstaltete er die große Feier des 1. Mai, ein Bacchanal verbrecherischen Bolschewismus.