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XXIV.

»Die ungarische Revolution steht vor einer vollständigen Katastrophe; die Pariser Friedenskonferenz hat die militärische Besetzung Ungarns beschlossen. Das ganze Land soll besetzt, die Demarkationslinien sollen endgültige politische Grenzen werden, eine Situation, die die Verpflegung und Kohlenversorgung des revolutionären Ungarns vollkommen unmöglich macht.« In der Proklamation an das Land hat Béla Kun mit chauvinistischen, wenn auch versteckt chauvinistischen, Argumenten operiert. Zwischen den Zeilen der ersten Proklamation ließ er den Ruf »Zu den Waffen!« erklingen; im Rausch der ersten Stunden hatte er als wirksamstes Schlagwort »die Befreiung des Landes vom fremden Joch« verkündet. Die ungarländische sozialistische Partei und der regierende Revolutionsrat forderten die Arbeiterschaft auf, durch Diktatur des Proletariats sich und die Revolution zu retten. »Wir müssen Krieg führen für unsere Verpflegung und die Befreiung unserer Bergwerke«, »Wir müssen kämpfen für die Freiheit der Proletarierbrüder und unsere eigene Existenz«, »Entbehrungen, Elend, Not, werden unser auf diesem Wege harren …«

Béla Kun war nicht ungeschickt; er wußte, was er tat und er appellierte an das nationalistische Gefühl nicht nur deshalb, weil die letzte, an die Károlyi-Regierung gerichtete Note der Entente ihm die Herrschaft brachte. Nicht aus dem Grunde, weil der französische Oberstleutnant Vyx bei Überreichung der Note des Generals De Lobit angeblich gesagt hatte, daß die neuen Demarkationslinien auch ohne Friedensverhandlungen die endgültigen Grenzen Ungarns bedeuten sollen, verkündete er die Notwendigkeit eines Krieges. Béla Kun rechnete mit dem tief verankerten chauvinistischen Gefühl eines im vierjährigen Krieg zermürbten und durch die Wilsonschen Versprechen betrogenen Volkes. Er wußte, was er tat; er schuf durch das chauvinistische Geschrei eine scheinbare Begeisterung und erweckte jedenfalls das Interesse der ganzen Bevölkerung, die selbst aus den Händen des Teufels die Befreiung des Landes entgegengenommen hätte.

Die ersten Wochen vergingen ziemlich ruhig. Große Versammlungen, Bolschewisierung der ganzen Presse, schreiende Plakate und vor allem rücksichtslosestes Vorgehen gegen die früheren Kampfgenossen, gegen die arbeitslosen und demobilisierten Soldaten, verhalfen Béla Kun zu ziemlicher Ruhe. Zu denselben Soldaten, denen er alles verdankte, die für die Kommunisten mit den Waffen in der Hand eingetreten waren, sprach er nach seinem Sieg in schroffem, verändertem Ton: »Schweinehunde, arbeitsscheue Bande, schaut, daß ihr weiterkommt; mit Maschinengewehren werde ich unter euch Ordnung machen, wenn ihr wieder erpressen kommt«. Die Schulden der Vergangenheit machten ihm wenig Sorgen, er dachte auch nicht an die Zukunft; seine ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf das wundervolle Heute, auf das »Regieren«.

Seine Frau zieht in das Volkskommissariat des Theaters ein – die einstige hübsche, schlanke, nicht uninteressante Irene ist inzwischen eine dicke Frau geworden –, sie wird Herrin über Theater und Schauspieler, sie dirigiert die Vorstellungen, sie erscheint an einem Abend oft in zwei, drei Theatern – immer in den früheren Hoflogen – sie führt auch das Stück des Verräters an der Sozialdemokratie, des verläßlichsten Handlangers Béla Kuns, des Volkskommissärs für Kriegswesen, Josef Pogány, auf. Das Stück wird im Nationaltheater – dem früheren Staatstheater – aufgeführt und beschäftigt sich – ja, mit wem denn sonst? – mit Napoleon!

Das gesamte Ausland ist unorientiert: die Entente ziemlich erschrocken, die benachbarten, neuen, kleinen Staaten nervös. Aus Budapest lodert eine drohende, rote Flamme, aber der Rauch des gefährlichen Feuers beißt einstweilen in die Augen; das Ausland sieht und merkt noch nichts. Die außenpolitische Situation war nicht unkompliziert. Béla Kun, der Freund Lenins, dessen Truppen sich der Grenze nähern – er hat dies so lange vorgelogen, bis er es selbst glaubt – aber nie erscheinen, muß Wunder tun, muß in dem undenkbaren Wirrwarr noch nie dagewesener außenpolitischer Komplikationen die Situation retten. Fest steht nur eines, daß die frühere Regierung des Grafen Károlyi die ultimative Note der Entente zurückgewiesen hat und die Entente-Missionen das Land verließen, demzufolge jedes diplomatische Verhältnis zu den Entente-Staaten unterbrochen wurde. Es war klar, daß die Entente die Zurückweisung ihrer Note in irgendeiner Form rächen werde, daß außer der Aufrechterhaltung des Boykotts und Aushungerung des Landes, die Entente auch mit Waffengewalt einschreiten würde – wenn sie es nur könnte. Die eigenen Truppen kann sie aber nicht benützen; es wäre eine Zumutung, diese nach vier Jahren Krieg für ein höchst gefährliches Experiment zu verwenden. Die benachbarten Staaten sind teils desinteressiert, teils schwach: Österreich hat eine sozialdemokratische Regierung und verhält sich beinahe freundschaftlich; die Tschechoslovakei ist schwach, hat überdies mit ihren eigenen Kommunisten zu tun; auch Jugoslavien hat andere Sorgen; Rumänien ist daher das einzige Land, welches zu einem Einschreiten für die Sicherung der neuen Grenzen zu bewegen wäre.

Die ersten vierzehn Tage bieten Béla Kun wenig Gelegenheit, sich als Außenminister und Diplomat zu betätigen. Das Außenamt wird zu einem großangelegten Propagandabureau, geleitet von einem verwegenen Propagandisten, der sich ganz offen dazu bekennt, er arbeite streng nach Moskauer Rezept und richte seine ganze Aufmerksamkeit auf die bolschewistische Propaganda im Inlande und im erreichbaren Auslande. Er läßt die Lüge vom Vormarsch der russischen Armee weiter verbreiten, er besetzt den Moskauer Gesandtenposten mit einem dort verbliebenen ungarischen Agitator, Endre Rundnyánszky, nach Wien sendet er gleich zwei Gesandte. Er überrumpelt vollkommen die Sozialdemokratie, die immer mehr in den Hintergrund gedrängt wird, er beseitigt auch die übrigen Kollegen mit Drohungen, er tritt immer mehr in den Vordergrund; er wird Alleinherrscher. Aber seine Künste kann er noch immer nicht zeigen.


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