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Nur ein Psychopathologe könnte das große Rätsel lösen, weshalb sich Béla Kun wegen Westungarn, dem heutigen Burgenlande, mit Österreich zu zerschlagen hatte. War es seine Wut gegen die stets wachsenden gegenrevolutionären Bewegungen, die am stärksten aus Wien seine Herrschaft bedroht haben, oder sein Ärger darüber, daß man seinen Gesandten – inzwischen hatte er den Schwager seines Hauptmitarbeiters Josef Pogány, Ernst Czóbel, zum Wiener Gesandten ernannt – nicht so behandelte, als er es wünschte. Oder war es ein Liebäugeln mit dem in Ungarn selbst in der rotesten Atmosphäre nicht zu unterdrückenden nationalistischen Gefühl?
Béla Kun erfuhr, daß unter der Führung Staatskanzlers Renner eine Friedensdelegation nach St.-Germain reiste, unter anderem auch ein Delegierter, der Westungarn im Rahmen der österreichischen Delegation vertreten sollte. Ein gewisser Beer. Béla Kun fand, daß dieses Vorgehen der österreichischen Regierung einen groben Übergriff bedeute, der gegen das internationale Recht verstoße. So sprach er, der große Kenner des internationalen Rechtes, der Rechtswissenschafter, der selbst das primitive Eigentumsrecht nicht geschont hatte. Er ließ in seinen Zeitungen Österreich grob beschimpfen, dann überreichte er durch seine Wiener Gesandtschaft eine Note auf dem Ballhausplatz. Diese Note war als Schriftstück im charakteristischen Stil seines ganzen Wesens gehalten und stellte als diplomatisches Dokument ganz gewiß eine Kuriosität dar. Er schrieb:
»Herr Staatskanzler!
In Deutschösterreich wird in den letzten Tagen eine heftige Propaganda entfaltet, mit dem offensichtlichen Ziel, die dortige Regierung zur Besetzung der westungarischen Gebiete zu bewegen. Herr Seitz, Präsident der Nationalversammlung, empfing angeblich westungarische Delegationen – Fabrikanten, Großgrundbesitzer –, die bisher von der Ausbeutung der arbeitenden Massen lebten und jetzt nicht vertragen wollen, daß die Diktatur des Proletariats dieser Ausbeutung ein gründliches Ende bereitete. Es ist selbstverständlich, daß sie ihren Schmerz über ihren Profitentgang in ein nationales Mäntelchen hüllen. Die Wiener Presse verbreitet die unmöglichsten Lügen, um gegen uns Stimmung zu machen: Schauergeschichten, die bloß in der Phantasie korrupter Schmierer existieren.
Es ist eine freche Lüge, daß in Westungarn die roten Truppen mordend und brennend umherziehen. Es ist nicht wahr, daß jemandem auch nur ein Haar gekrümmt wurde, selbst die Kapitalisten blieben ungeschoren, solange sie sich gegenrevolutionärer Bestrebungen enthielten. Ebenso ist es eine Lüge, daß den Bauern Vieh oder Vorräte geraubt wurden. Das Gejammer über die ungarische Mobilisierung ist geradezu ekelerregend seitens einer Presse, die Jahre hindurch den österreichischen Galgen verherrlichte, auf dem man jeden Tschechen, Südslawen, Italiener oder Polen hängte, der keine Lust hatte, zum Zwecke ewiger Befestigung der Unterdrückung seine Haut enthusiastisch zur Schlachtbank zu tragen.
Wir machen Sie aufmerksam, daß das deutsche Proletariat Ungarns jederzeit zur Elite des klassenbewußten Proletariats des Landes gehörte und im Kampfe gegen die kapitalistischen Ausbeuter stets an der Spitze schritt. Es wird sich daher bis zum letzten Blutstropfen dagegen wehren, seine eben errungene Freiheit gegen die Knechtschaft des österreichischen Kapitals einzutauschen.
Es ist keine nationale Frage, die hier ihrer Lösung harrt, sondern es handelt sich darum, ob man auf diesem Gebiete das kapitalistische Ausbeutungssystem wiederherstellen soll oder nicht. Es ist nicht unsere Sache, zu untersuchen, die die Sozialdemokratie – zu der sich die Herren Renner und Seitz noch immer zählen – dazu berufen ist, solchen Umtrieben Vorschub zu leisten. Wir sind fest davon überzeugt, daß das österreichische Proletariat – denn die wirkliche Macht befindet sich in seiner Hand – es nicht zulassen wird, daß man es zum Mittel der Unterwerfung seiner westungarischen Klassenbrüder mißbraucht.
Im Namen der ungarischen revolutionären Regierung
Béla Kun, Volkskommissär.«
Das schönste an dieser Lausbubennote war, daß Béla Kun nicht die Verbalinjurien als Grobheiten empfand, sondern die Ansprache »Herr«. Der klassenbewußte bolschewistische Junge betrachtete es als die denkbar größte Beleidigung, wenn er die Wiener Sozialdemokraten nicht als »Genossen«, sondern als »Herren« apostophierte. Der Witz, der in seinem vermeintlichen Hohn lag, gefiel ihm teuflisch. Die Sache selbst, das Schicksal Westungarns, die burgenländische Frage auf der Pariser Friedenskonferenz … wen interessierte das schon!