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Ohne Hut, ohne Mantel, wie ein Verfolgter stürzt Béla Kun aus dem Ritzhotel auf die Straße. Sein Blick ist verstört, seine Augen spiegeln entsetzliche Furcht wieder. Wie ein Irrsinniger springt er in sein Auto und gibt brüllend die Weisung:
»Zum Stadtkommando, nein, zum Hauptquartier nach Gödöllö!« – widerruft, ändert seine Weisungen in einem Atem, treibt den Chauffeur zu rasender Fahrt an.
Das ist bereits eine Generalprobe der Flucht, der Vorgeschmack des Zusammenbruches.
… Béla Kun hatte das Spiel verloren: die vorwärtsmarschierenden Truppen wurden auf Befehl Clémenceaus zurückgezogen, der Rückzug demoralisierte die ganze Armee. Überall gegenrevolutionäre Strömungen, das ganze Land unterminiert, die Not wurde immer größer, es überstürzten sich die furchtbarsten Nachrichten und die bewaffnete Macht, die ihn einmal im Stiche gelassen hat, wird er vergeblich zu neuem Kampfe anfeuern. Trotz all dieser großen Sorgen und Schwierigkeiten ging Béla Kun mit mühsam bewahrter Ruhe ins Ritzhotel, um Herrn Zerkowitz zu besuchen, der als Oberkommissär der Donauschiffahrt zu den Ententemissionen gute Beziehungen hatte. Man probierte, ob durch Herrn Zerkowitz nicht irgendeine fremde Mission, die englische oder amerikanische vielleicht, zu bewegen wäre, gegen die drohende Haltung der Entente etwas zu unternehmen. Man versuchte …
Es war der letzte Dienstag des Juni, des vierundzwanzigsten, ein herrlichschöner Sommertag, der Himmel blau wie in Italien und die Sonne vergoldete die trüben Wellen der Donau, die Brücken und die vielen wehenden roten Fahnen.
Im Zimmer wurde es heiß – es war vier Uhr nachmittags – und Béla Kun stellte sich einen Stuhl auf den Balkon, zu dem die Türe weit offenstand. Die frische Luft, die Ruhe und das überwältigende Panorama des Donaustrandes verfehlten auch bei ihm die Wirkung nicht. Er plauderte vergnügt.
Plötzlich werden dumpfe Kanonenschüsse hörbar. »Ist es möglich? Die Front ist doch über zweihundert Kilometer weit entfernt. Samuelly mit seinem Mörderzug besitzt doch nur Handgranaten und Maschinengewehre, die man doch nicht aus so großer Entfernung hören kann.« Die Schüsse konnten nicht von der Front stammen. Die Schüsse kamen aus der Engelskaserne, die nach Vereinbarung der Gegenrevolutionäre um Punkt vier Uhr nachmittag die ersten Schüsse als das Signal der Auflehnung gegen die rote Herrschaft abfeuern sollte.
Schüsse wirken immer beunruhigend, der weite Kanonendonner wurde immer drohender. Indessen sprach Béla Kun noch weiter über die Möglichkeiten einer Verständigung mit der Entente. Er wäre auch ganz gerne bereit gewesen, Opfer zu bringen, selbst Änderungen in der Regierung vorzunehmen, wenn es notwendig wäre, auch einen grundsätzlichen Kurswechsel in der Handhabung der Macht, er würde sich auch – so denkt er zwischen den Worten – dem Engländer oder dem Amerikaner, der ihm in Paris bei der Friedenskonferenz helfen könnte, »dankbar« erweisen. Mit dem gestohlenen Gelde, dachte er, ließe sich auch dies »richten«. Er wurde immer unruhiger, er sprach immer mehr und immer schneller und lauter, um seine schlechten Vorahnungen zu verscheuchen, er redete und redete – dann wurde er auf einmal still. Er verstummte, als hätte er plötzlich seine Stimme verloren. Er zitterte am ganzen Körper.
Und wie friedlich war das ganze Phänomen. Drei kleine Einheiten der früheren österreichisch-ungarischen Kriegsmarine, die nach dem Zusammenbruch im Besitze Ungarns verblieben waren, drei leichtgepanzerte Monitore, der »Pozsony«, »Komárom« und »Maros« dampften ruhig auf der Donau vor dem Hotel vorbei. Die Sonnenstrahlen tanzten glitzernd an den Schlundröhren der Geschütze der Monitore, die aus der Entfernung des Hotelfensters eigentlich wie ein niedliches Spielzeug anmuteten.
Die Monitoren erschreckten Béla Kun, obwohl sie doch auch Einheiten der roten Armee geworden waren, sich sogar vor ein paar Wochen an der Donau bei Párkány-Nána prachtvoll gehalten und die erfolgreichen Aktionen der roten Landarmee kräftig unterstützt hatten. Die Monitoren hatten ja eine verläßliche rote Mannschaft; wenn auch die Offiziere an Bord geblieben waren, wurden doch jedem Kommandanten absolut verläßliche kommunistische Vertrauensmänner an die Seite gestellt und die Matrosen waren im übrigen immer die Elitetruppen von Revolutionen gewesen. Es war also nichts zu befürchten. Man konnte sich damit trösten, daß die Monitoren, die im Nordwesten gegen die Tschechen nicht mehr notwendig waren, von dem Oberkommando die Weisung erhalten hatten, nunmehr südwärts an der Donau Aufstellung zu nehmen. Allerdings sollte er, Béla Kun, der ja auch Volkskommissär für Kriegswesen war, von einer solchen, immerhin wichtigen Entscheidung ebenfalls etwas wissen. Möglicherweise hatte er in der Fülle der vielen anderen Sorgen das Kommando der Schiffe ganz vergessen.
Während all diese Möglichkeiten durch sein Gehirn ziehen, wird er immer furchtsamer. Aber die Ursache seiner Furcht ist noch eine andere: Knapp vor seinen Augen, als die kleinen Schiffe unter der Kettenbrücke fahren, ziehen sie auf einmal vom Flaggenmast den roten Fetzen herunter und unter donnerndem »Hurrah« und »Eljen«-Rufen hissen sie die ungarische Trikolore. Die roten Monitoren, an deren Bord dreihundert Matrosen die rote Herrschaft gestürzt und die alte Ordnung wieder hergestellt hatten, glitten unter dem Schutze der roten Flagge bis Budapest vor, erst in der Mitte der Stadt demaskierten sie sich und eröffneten unter der rot-weiß-grünen Farbe den Angriff.
Béla Kun war klug genug und viel zu erschrocken, um nicht alles im Nu zu erfassen. Er begreift alles ganz richtig, er weiß, daß seine Stunde geschlagen hat und – ist fassungslos.
Er stottert ein paar entschuldigende Höflichkeiten, stürzt aus dem Hotelzimmer über die Treppen in die Halle, durch die Halle und die große Drehtüre auf die Straße in sein Auto – fliehender Bolschewik –, ohne zu wissen, wohin ihn sein nächster Weg führen wird, ob zum Stadtkommando oder ins Hauptquartier. Nur fort will er, weit fort von der Donau. »Wie schön wäre es«, denkt er wieder einmal, »namenlos unter der Masse der Unbeteiligten untertauchen zu können, wie schön wäre es, jetzt in einem Kabinett in Klausenburg oder auch in der Ügynökutca in Untermiete zu wohnen, ja, um wieviel schöner wäre es selbst im Sammelgefängnis gewesen!«
Das Hotel Hungaria liegt nicht weiter als ein paar hundert Schritte vom Hotel Ritz entfernt und während Béla Kun in überhasteter Angst sein Auto besteigt, sind die Monitoren schon vor dem Hotel Hungaria angelangt. Sie nehmen dort Kampfstellung ein, bleiben in der Mitte des Stromes wie kleine metallene Festungen stehen, bombardieren das Hotel. Schüsse auf Schüsse fallen in das berüchtigte Haus, das seit drei Monaten und drei Tagen das Heim der gesamten Regierung samt Anhang geworden ist.
Béla Kun hört aus dem Auto die Schüsse. Er will eigentlich nur in die Nachbarschaft zum Stadtkommando, wo der Stadtkommandant, der Sozialdemokrat Haubrich seinen Sitz hat, über den in der letzten Zeit oft gegenrevolutionäre Verdächtigungen ausgesprochen wurden. Er will ihn zur Rede stellen. Die Schüsse nach dem Hotel Hungaria krachen indessen weiter. Auch das Bombardement der Geschütze aus der Engelskaserne dauert an. Mit der Präzision der ehemaligen Artillerie, wie einst im Kriege, auf die Kote soundsoviel, schießen sie auf das Paradies von Budapest, die Margareteninsel, auf das inmitten dieses Inselparadieses stehende Grandhotel, in dem seit einigen Tagen ein Teil der Volkskommissäre zur Sommerfrische weilt. Die Strategie der Gegenrevolution entspricht ungefähr dem Angriffsplan einer Wanzenvertilgung, die auf die Keime und Bruteier des Ungeziefers losgeht: die Monitoren von der Donau her und die Geschütze aus der Engelskaserne bombardieren die Verstecke der schädlichen Insekten.
Béla Kun weiß nicht wohin. Zum Stadtkommando zu fahren, wäre gefährlich und sinnlos. Sich in der Stadt zu zeigen, wäre auch nicht ratsam. Nur weiter flüchten, immer weiter, hinaus auf die Landstraße, hinaus zur Armee ins Hauptquartier, begleitet von den Terroristen, den Raubmördern. Auf diese kann er sich wenigstens noch verlassen.
Béla Kun verliert gänzlich den Kopf, er bleibt einen Augenblick lang beim Stadtkommando stehen und erfährt dort noch Entsetzlicheres: Zöglinge der Ludovica-Akademie, kleine heldenmütige Militärrealschüler, brechen unter der Führung ihrer Offiziere aus der Kaserne aus, besetzen eine Telephonzentrale und verteidigen sie gegen die herannahenden roten Truppen. Die Eroberung der Telephonzentrale stößt auf keinen großen Widerstand, es dauert nur einen Augenblick und das gesamte Personal stellt sich, glücklich über die Wendung, der Gegenrevolution zur Verfügung. Alle bleiben auf ihrem Posten und arbeiten, wie die Gegenrevolution befiehlt.
Nachdem Béla Kun diese Schreckensnachricht erfährt, weiß er erst recht nicht, wohin er sich wenden soll. Wie ein gejagter Hase inmitten der wildesten Treibjagd eilt er hin und her. Er müßte doch wieder zum Stadtkommando zurück, das am Gisellaplatz, von der Donau ein paar Häuserreihen entfernt, im Hotel zum König von Ungarn untergebracht ist. Er weint vor Aufregung, er weint ziemlich oft und gerne, aber nicht, wenn er nicht selbst über seine Tränen das Kommando führt. Die Nachricht über die Bombardierung des Sowjethauses und seiner Sommerresidenz, wo Frau und Kind untergebracht sind und endlich die Kunde von der Besetzung der Telephonzentrale durch die Gegenrevolutionäre haben ihm die Besinnung geraubt. Der geübte Revolutionär weiß, daß es das Ende seiner Herrschaft bedeutet. Auch der Adlatus, der böse Alpári erscheint – die Haruspexe schauen sich verzweifelt an –, Béla Kun übergibt ihm die Schlüssel zu seinem Schreibtisch, der im zweiten Stock jenes Sowjethauses untergebracht ist, das gerade bombardiert wird, dort oben auf der zweiten Etage, nicht weit von jenem Riesenloch, das eben ein Volltreffer in die Wand gerissen hat. Er nimmt keinen Abschied, er ist in diesem Augenblick nicht mehr der gefürchtete Diktator. Nur ein verlorener, zitternder Verbrecher flüchtet er vor den Folgen seiner Tat.
Béla Kuns Auto trifft gegen Abend im Hauptquartier ein. Das Armeeoberkommando residiert am Bahnhof von Gödöllö in einem Salonwagen und wird stark bewacht, da erst in den letzten Tagen Béla Kun ein Attentat gegen das Oberkommando bestellt hatte, weil es die Entwaffnung der Terrortruppen verlangt hatte. Er verzeiht sich aber, alles ist vergessen, er flüchtet zum Feind, wenn es heißt, Unterkunft zu finden, sein Leben zu retten. Der Feigling ist nicht zu beruhigen. Man versucht ihm auseinanderzusetzen, daß der Aufstand der 30 bis 40 Matrosen, der 1200 Artilleristen und der 300 Kadetten leicht zu unterdrücken gewesen wäre. Er hätte lieber in der Stadt bleiben sollen, das wäre viel einfacher gewesen. Béla Kun aber weint und jammert weiter. Er benimmt sich wie ein Schuljunge, der sich vor Prügel fürchtet.
Erst als um zehn Uhr abends es dem Oberkommando gelingt, eine Hughes-Verbindung mit dem Sowjethaus herzustellen und von dort die Meldung eintrifft, daß zwei Metallarbeiter-Bataillone und die rote Polizei wieder Herr über die Situation geworden sind, daß die Monitoren südwärts gegen Serbien abdampfen mußten, daß die Aufrüher verhaftet wurden, die Telephonzentrale wieder im roten Besitze ist, daß die Ludovica-Akademie stark besetzt wurde, kann sich Béla Kun wieder aufraffen. Er fleht zitternd das Oberkommando an, ihm eine entsprechende Bedeckung zu geben, da er befürchtet, unterwegs in den Dörfern von den durch die Nachrichten über die mißlungene Gegenrevolution erregten Bauern angegriffen zu werden.
Béla Kun kehrt stark bewacht mit einer Eskorte von bewaffneten Terrorautos in der Nacht nach Budapest zurück. Die Stadt liegt in einer Ruhe da, die der Ruhe eines Friedhofes gleicht. Der Transport des eingeschüchterten Diktators wird ins Hotel Hungaria dirigiert. Béla Kun legt Wert darauf, zu zeigen, daß er jetzt in der späten Nacht, da sich kein Mensch mehr auf die Straße wagt, da die ganze Stadt, für deren Befreiung heute vierundzwanzig Männer ihr Leben lassen mußten und sechzig Schwerverwundete in den Spitälern stöhnten, in der Reaktion einer großen Aufregung leblos schlummert, den Mut besitzt, in das Sowjethaus zurückzukehren.
Die Terroristen feiern bei gestohlenem Wein den blutigen Sieg, den sie über den verzweifelten Versuch der Gegenrevolution errungen haben, und Béla Kun gewinnt seine Courage wieder. Im Sowjethotel angelangt, wird er wieder kühn.
»Von nun an muß das anders werden«, brüllt er, weniger aus Überzeugung, als um sich selbst zu ermutigen und seine Mördergarde zu begeistern. »Es ist Schluß mit der Gnade, von nun ab wird jeder, der seine Hand gegen die Diktatur des Proletariats erhebt, unbarmherzig erhängt!«