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Die eigentliche Übergabe Béla Kuns an die österreichischen Behörden erfolgte noch im Schnellzug. Die zwei Polizeibeamten, die ihm entgegengefahren waren und in Bruck den Zug bestiegen hatten, nahmen ein Protokoll über die Tatsache der so bedeutenden Bereicherung des österreichischen Bundesschatzes auf. Legationsrat Hammer-Purgstall hatte somit seine Mission erfüllt: Béla Kun und seine Genossen kamen endlich, wohin sie gehörten, in die Hände der Polizei.
Der Sonderzug hielt in der Halle des Ostbahnhofes. Man getraute sich mit der sonderbaren Eskorte nicht unter die Reisenden und nicht unter die Arbeiter. Man hatte böse Vorahnungen. Béla Kun zitterte am ganzen Körper bei dem Gedanken, er könnte beim Aussteigen unerwünschte Begegnungen haben. Eine allzu wahrscheinliche Möglichkeit war ja vorhanden. Im ersten Stock des Ostbahnhofgebäudes residierte eine ungarische Expositur zwecks Übernahme der Kriegsgefangenen. Ein Jahr nach dem Krieg mußte doch, ob Republik oder Räterepublik, ob alte oder neue Staaten der früheren Monarchie, sich jedes Land zur Heimbeförderung der Kriegsgefangenen rüsten. Die Wiener Station war eine der wichtigsten und stand unter der Leitung einwandfreier Offiziere, die mehr aus Begeisterung für die Sache und aus kameradschaftlicher Pflicht, als aus irgendwelchen Interessen auf ihrem schweren Posten im Auslande verharrten. Béla Kuns Herrschaft hatte auch diese Expositur nicht unberührt gelassen, zwei lächerliche Figuren, richtige Offizierskarikaturen in phantastischen schwarzen Uniformen und mit handtellerbreiten roten Bändern geschmückt, vertraten hier die bolschewistische Diktatur. Sie waren auf das erste Gerücht über den Budapester Zusammenbruch sofort verschwunden. Am Vorabend der Ankunft Béla Kuns feierten die übrigen Offiziere der Wiener Expositur ein Freudenfest über die Befreiung des Landes und warteten nicht ohne Interesse, aber auch nicht ohne Vergeltungsgedanken auf die Ankunft des Diktators. Es wäre ein schöner Empfang in Wien gewesen!
Die Ankunft Béla Kuns mußte also geheim gehalten werden und sie wurde mit der größten Sorgfalt polizeilicher Strategie durchgeführt. Nur ganz wenige und verläßliche Wiener Journalisten, ein Beamter der Station und eine Anzahl von Polizeibeamten empfingen in der Vorhalle den Zug. Diesem entstieg zuerst der Legationssekretär, der wohl glücklich den Waggon verließ, mit dem Gefühl, daß er die sonderbarste und unangenehmste diplomatische Mission seines Lebens hinter sich hatte. Dann erschienen die zwei Polizeibeamten in der Türe, die dem Zug entgegengefahren waren. Ein Wink, und schon bildete sich eine regelrechte Doppelkette von handfesten Detektiven, die von der Waggontüre bis zum Bahnhofsausgang mit ihren breiten Schultern den jämmerlichen Zug deckten.
Béla Kun hätte gern den Unbefangenen gespielt, konnte es aber nicht, er wollte Würde bewahren, fest und männlich, im Bewußtsein des historischen Augenblicks zwischen den Polizeileuten einherschreiten. Er war aber mehr als befangen. Seinen weichen, schmutzigen, abgenutzten Hut drückte er tief ins Gesicht, mit der linken Hand umfaßte er krampfhaft seinen kleinen Koffer, in der rechten zitterte die Zigarette … Die schlauen Fuchsaugen blickten versteckt, mißtrauisch, richteten sich nicht auf den beobachteten Gegenstand, sondern mit einer Kontrafälsche, wie beim Billardspiel, erst zu Boden, als wollte er erwarten, daß der Blick, wie in einem Spiegel gebrochen, auf den Gegenstand zurückfallen würde.
Seine Kumpanen sahen noch zerlumpter aus, aber das ganze Interesse konzentrierte sich doch nur auf die große Persönlichkeit, die ziemlich furchtsam und von bösen Vorahnungen geplagt, so weit es ungefährlich war, den Augenblick auskostete. Man hielt bei einem versteckten Zimmer der Station, dort wartete der Vorstand der Kriminalbeamten und der Leiter der Polizeiinspektion des Ostbahnhofes auf den großen Gast, der eigentlich mit den Vorsichtsmaßnahmen echt russischer, eigentlich noch zaristisch-russischer Methoden empfangen wurde. Der Hofrat und der Regierungsrat, typisch-österreichische Beamten, sie waren halt schon einmal so, sie konnten nicht anders, sie fühlten Respekt vor der ehemaligen Staatsgewalt, zogen tief den Hut und begrüßten mit ziemlicher Reverenz den berühmten Gast.
»Herr Béla Kun – sprach der Hofrat den hohen Ankömmling an, der wohl seit Monaten zum erstenmal das Wort Herr anstatt Genosse hörte, eine gefährliche Ansprache, während seiner Herrschaft streng verboten! – ich habe den Auftrag, sie höflichst zu ersuchen, mir ins Polizeipräsidium zu folgen.«
Die ganze Zeremonie spielte sich höflich und besonders gemessen ab, im tadellosen Tik-tak des Polizeidienstes, dieses ewig gleichgestellten Uhrwerkes – österreichischer Provenienz. Béla Kun fand sich sehr leicht und sehr rasch in die Ordnung der verhaßten Bourgeoisie, nickte dankend mit dem Kopf, merkte mit Wohlbehagen die übertriebene Vorsorge polizeilicher Vorsicht, bestieg das erste Auto vor dem Geheimtor des Ostbahnhofes und freute sich diebisch, als mit ihm auch der Polizeihofrat in den Wagen stieg. Ein Blick des Hofrates genügte, ein Detektiv sprang dienstbeflissen vor und wollte Béla Kun dessen ziemlich schwere Handtasche abnehmen, o, gar nicht in seiner Eigenschaft als Polizist, sondern nur aus Höflichkeit, nur um den hohen Herrn von der schweren Last zu befreien. Béla Kuns Gesicht verzerrte sich, im ersten Augenblick war er sich über den Eifer des Detektivs nicht im Klaren, er deutete ihn anders. Es dauerte Sekunden, bis er sich in der Situation zurechtfand, im ersten Moment wollte er krampfhaft, wie ein auf frischer Tat ertappter Dieb seine Beute verteidigen, dann begriff er, lächelte gezwungen, bedankte sich und – behielt das Kofferchen bei sich. Die Vermutung, daß in den Hohlwänden dieser Handtasche große Kostbarkeiten, wertvoller Schmuck, Geld und Valuten versteckt waren, fand durch diese kleine Szene eine absolute Bestätigung. Béla Kun lächelte, öffnete die Tasche, bemühte sich lachend, für einen harmlosen, leidenschaftlichen Raucher auszugeben, und zeigte auf die Zigaretten, von denen er sich keinen Augenblick lang trennen wollte.
Das elegante Dienstauto des Hofrates, gefolgt von mehreren Autos mit den übrigen Volkskommissären und den sie begleitenden Detektivs, sauste durch die Stadt, die Béla Kun noch vor einigen Wochen gern revolutioniert hätte, zur Polizeidirektion auf dem Schottenring. Das Gebäude der Polizeidirektion ist ein ehemaliges Hotel, ein schöner Bau aus dem Jahre der Wiener Weltausstellung 1873, damals Hotel Austria genannt. Jetzt wurde es einstweilen zum Hotel Béla Kuns. Die politische Polizei hatte im zweiten Stock ihre Räumlichkeiten. Im schönsten Raum, im großen Konferenzsaal des Polizeipräsidenten, wo sonst nur die Besprechungen des Präfekten mit den Abteilungsvorständen stattfinden, fand Béla Kun den ersten Zufluchtsort.
Es war inzwischen zwei Uhr nachmittags geworden, Béla Kun wurde gefragt, ob er nicht zu speisen wünschte. Das Speisen spielte bereits wieder eine so große Rolle im Leben Béla Kuns, wie am ersten Tage seiner Herrschaft. Nun, gegessen hatte er eigentlich schon seit Tagen nicht, seinen Appetit hatte er sich in Budapest gründlich verdorben. Jetzt ließ er es sich nicht nehmen, würdig zu tafeln, besonders, da auch die Komplizen großen Appetit zeigten. Béla Kun erwies sich als Kavalier, ließ den damals ungeheuerlichen Betrag einer Zehntausend-Kronennote wechseln, schon holte ein dienstbeflissener Detektiv aus einem ersten Hotel die Speisekarte, und Béla Kun und seine Freunde vertieften sich in das Studium der deutsch und französisch geschriebenen Menükarte. Besonders die Strategen, der frühere Armeeoberkommandant Dr. Landler und der noch immer in der Verkleidung eines roten Generals protzende Josef Pogány beugten sich über die Speisekarte, wie sie sich vor dreimal vierundzwanzig Stunden über die Generalstabskarte in der Operationskanzlei gebeugt hatten.
Es wurde ein regelrechtes Bankett abgehalten, die höfliche Polizeidirektion, die von der mit dem bolschewistischen Rußland und mit den Wiener Kommunisten kokettierenden Regierung die Weisung erhielt, den Flüchtlingen mit ausgesuchter Zuvorkommenheit zu begegnen, ließ in den schönen Räumen die Bande unter sich. Diese vergaß den Sturz und aß schmatzend die feinen, im bolschewistischen Budapest selbst aus der Erinnerung verschwundenen Leckerbissen des Wiener Hotels. Sie vergaßen die Weltgeschichte und tranken fabelhafte französische Weine. Die Gesellschaft vergrößerte sich immer mehr, Flüchtlinge, die in Autos angekommen waren und sich weniger aus Korrektheit, als aus wohlüberlegtem Wunsch nach Sicherheit bei der Polizei gemeldet hatten, kamen im großen Sitzungssaal zusammen, der bis in die späten Abendstunden als erster Zufluchtsort diente. Der Lärm wurde immer größer, der Zigarettenrauch fast undurchsichtig, wieder ertönten russische und ungarische Schlagworte, alle sprachen auf einmal, sie debattierten lebhaft, wie man es hätte machen können, wie man es nicht hätte machen sollen; sie könnten, wenn sie wollten, jetzt sogar einen regelrechten Ministerrat abhalten. Gut gegessen hatten sie ja und sie waren jetzt alle beisammen.
In später Stunde mußte man aber doch über die Unterkunft der Flüchtlinge verfügen. Das Übernachten der gemeinen, als politische Verbrecher betrachteten, die Asyl suchten, verursachte der Polizeidirektion viel Kopfzerbrechen. Der endgültige Platz war noch nicht bestimmt, ein Hotel wäre doch zu riskant gewesen, was also sollte nun mit den Gästen geschehen? Spät abends erschien ein aufgeregter Hofrat bei Béla Kun. Er entschuldigte sich förmlich, daß man keine andere Schlafgelegenheit bieten könnte, als die sogenannten Intelligenzzellen. Er bat um Nachsicht. Béla Kun und seine Leute mußten wieder in Autos verfrachtet werden und ins Polizeigefängnis fahren, da im Hause der Polizeidirektion buchstäblich keine Möglichkeit der Nächtigung bestand. Béla Kun war mit allem einverstanden, er war schläfrig und wollte endlich nur seine Ruhe haben.
Im Gefängnis der Kriminalpolizei war soeben eine der besten Zellen freigeworden. Das österreichische Strafgesetz verhängt noch Arreststrafen, um sich weigernde Kontrahenten zur Einhaltung eingegangener Verpflichtungen zu zwingen. Ein Wiener Operettentenor, der sich eines Kontraktbruches schuldig gemacht hatte – welch ein Unterschied zwischen dem Kontraktbruch des Operettentenors und dem Gesetzbruch des Operettendiktators – mußte einige Tage als Häftling im Polizeigefängnis zubringen. Der Kontrakt war geregelt, der Tenor gab seine Weigerung auf, in diesem Augenblick sang er auch schon auf der Bühne des Carltheaters, und Béla Kun konnte die freigewordene Zelle beziehen.
Ein wahrhaft glücklicher Mensch streckte sich vergnügt im Eisenbett des Gefängnisses. Die sonst so furchtbare Musik der rasselnden Schlüssel, die sich im Schlüsselloch umdrehten, war die schönste Melodie für seine Ohren. Endlich eine richtige Sicherheit, endlich hinter Schloß und Riegel, endlich eine wohlige Ruhe. Endlich war er dort, wo er hingehörte, in einer Zelle. Hatte er Humor, so mußte er sich wohl diabolisch über die lustige Duplizität der Ereignisse in seinem Leben amüsieren. Von einer Gefängniszelle ging seine Herrschaft am 21. März aus, dauerte hundertdreiunddreißig Tage – das schien nur so lange, ihm kam es eigentlich vor, als wäre es nur ein kurzer Moment gewesen – und endete nun wieder in einem Gefängnis.