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Stromabwärts von Budapest, in kaum halbstündiger Entfernung gibt es eine große Insel, die Csepel-Insel, wo sich die mächtige Manfred Weißsche Munitionsfabrik befindet, bei der die erste große Radiostation aufgestellt wurde. Ein Automobil brachte die Publikation dahin und erst bei diesem Anlasse erinnerte man sich, daß die Radiostation noch gar nicht in Besitz genommen worden war.
»Damit wir nicht vergessen, man muß die Csepeler Station in Besitz nehmen und dorthin den verläßlichsten Mann stellen; das alte Personal ist zu verhaften!«
In dem Hoftrakt des Palais der Ministerpräsidenten befindet sich das Telegraphenamt mit dem Hughesapparat, Tag und Nacht in Betrieb, ein stilles Zimmer. Vor dem Kriege gab es hier sehr wenig zu tun, hier und da ein paar Chiffretelegramme nach Wien an das Haus auf dem Ballhausplatz oder nach Schönbrunn, während des Krieges mehrte sich die Arbeit und wurde dann immer mehr und mehr. Dann wieder ganz wenig.
»Um es nicht zu vergessen, ich möchte mit Lenin sprechen.«
Das sagte Béla Kun nun plötzlich zur größten Überraschung der ganzen Gesellschaft, so einfach und natürlich, als ob Lenin ein Wiener Rechtsanwalt wäre, den man nur ans Telephon rufen müßte. Aber selbst das wäre Übertreibung und nicht so einfach durchzuführen gewesen, da ja seit vierundzwanzig Stunden der gesamte Post-, Telegraphen- und Bahnverkehr mit der ganzen Welt unterbrochen war. Man hätte also auch mit Wien nicht so ohne weiteres eine Verbindung zustande bringen können. Die Spießgesellen bewunderten mit weitaufgesperrten Mäulern den wunderlichen Mann, der seinem revolutionären Willen alle Wunder der Technik dienstbar zu machen vermochte, dem alles gelang. Die Dummköpfe wagten aber nicht zu fragen, wie es wohl Béla Kun anstellen wollte, mit Moskau, drei Tage Schnellzugsfahrt entfernt von Budapest, zu diskutieren, der Entschluß allein imponierte ihnen. Er war eben ein Prachtkerl, nichts war ihm unmöglich. Wie aber wird er dies wohl anstellen?
Béla Kun ließ sich ins Telegraphenzimmer des Ministerpräsidiums führen. Dort thronte auf seinem hohen Stuhl schlummernd der Telegraphist. Ihn hatte man völlig vergessen. Seit vierundzwanzig Stunden im Dienste, nahm er die Revolution nur dadurch wahr, daß sein Kollege, der ihn mittag hätte ablösen sollen, noch immer nicht erschienen war. Da die elektrische Bahn nicht verkehrte, das Telephon nicht läutete, war er eben schön langsam eingeschlummert mit der bluterstarrenden Ruhe des Beamten: »Etwas wird schon mit mir geschehen!«
»Guten Tag, Genosse«, grüßt Béla Kun den Telegraphisten, der in dem halbdunklen Zimmer aus seinem Schlafe erwacht und in großer Verlegenheit ist, was er nun sagen sollte.
»Mein Name ist Béla Kun, Volkskommissär des Äußeren! Lieber Genosse, haben Sie die Freundlichkeit, eine Verbindung mit der Csepeler Funkentelegraphenstation herzustellen!«
Er reichte ihm freundlich die Hand.
Der Telegraphist verbeugte sich tief und kam von neuem in große Verlegenheit. Er dachte sicherlich daran, daß ihn, seit er hier Dienst hat, noch niemals ein lebender Minister in seinem verlassenen bescheidenen Neste aufgesucht hatte; ihm brachten immer nur die Diener die Telegramme. Dann mußte ihm wohl noch in den Sinn kommen, daß dieser unscheinbare, untersetzte, kleine, kahlköpfige, glattrasierte junge Mann jener berühmte Béla Kun sei, über den er noch vorgestern an die ausländischen Telegraphenbureaus die Meldung erstattet hatte, daß er sich in Haft befinde … und siehe – jetzt steht Béla Kun vor ihm und ist der Herr im Hause. Aber er lächelte bloß – gezwungen oder ungezwungen – und sagte mit der unausrottbaren Dienstbereitschaft des Beamten: »Zu Befehl!« Der gewohnte, devote Ausdruck fiel ihm viel leichter, als die neue fremdartige Ansprache »Genosse«, die er nicht über die Lippen brachte.
»Passen Sie auf, lieber Freund«, sagte ihm Béla Kun weiter, »Sie werden jetzt Csepel anrufen und telegraphisch den Auftrag erteilen, die Csepeler Radiostation möge auf Welle soundso die Moskauer Station suchen und, wenn man sie gefunden hat, dorthin folgende Depesche abgeben …«
»Ich bitte, mir vielleicht lieber alles zu diktieren, allein werde ich es nicht machen können«, erwiderte der Beamte.
Und Béla Kun diktiert ihm bereits, der Telegraphist klopft das Diktat wie auf der Schreibmaschine ab und Csepel antwortet bald darauf:
»Moskau ist da!«
»Können Sie vielleicht russisch?« fragte Béla Kun.
»Nein, bitte gehorsamst, nur deutsch.«
»Dann schreiben sie also deutsch« und er diktierte Wort für Wort:
»Hallo, Moskau, die ungarische Räterepublik bittet Genossen Lenin zum Telegraphenapparat. Punkt.«
Das war das Ganze. Das Funkentelegramm ging ab. Marconi ahnte sicherlich nicht, daß seine Erfindung auch solchem Zweck einmal dienen sollte.
»Haben Sie eine Zigarette, Genosse?«
Der Telegraphist zerfloß fast von Glückseligkeit, daß er dem großen Mann, für den, so verriet es wenigstens sein Gesicht, der wichtigste Augenblick seines Lebens gekommen zu sein schien, eine Zigarette anbieten durfte. Der kleine Klausenburger Winkeljournalist mußte es doch als ein großes Ereignis betrachten, mit dem Herrgott des großen russischen Reiches gemeinsame Sache machen zu können. Vielleicht befürchtete er aber auch, daß man in Moskau gar nicht zum Apparat kommen werde. Endlich mag in ihm auch der Zweifel, der ewige Zweifel, der unter seiner Herrschaft so stark zur Mode geworden, erwacht sein: vielleicht wird man in Csepel seine Depesche sabotieren und gar nicht weitergeben. Aber siehe, wie wunderbar, nach einer halben Stunde begann der Apparat zu klappern und auf dem Papierstreifen stand folgendes in russischer Sprache zu lesen:
»Hallo, Budapest. Lenin beim Apparat. Ich bitte Genossen Kun zum Apparat!«
Der Papierstreifen zitterte in den Händen Béla Kuns. Dann begann eine eifrige Debatte zwischen ihm und seinen Genossen.
Ein Intimus von ihm, Ernst Pór, der erst vor kurzem aus Rußland zurückgekehrt war und am besten russisch konnte, disputierte laut mit dem Diktator. Heftig gestikulierend fragten sie einander: »Was tun wir nun?« Das Wort »Eselei« flog nur so in der Luft herum, bis endlich Kun dahin entschied, daß Pór alles, was er ihm sagte, mit großen Buchstaben russisch niederschreiben, der Telegraphist es dann nach Csepel abgeben und Csepel das Ganze wieder nach Moskau weitertelegraphieren sollte. Der Telegraphist machte große Augen, als er hörte wieviel Kun zusammenlog, er konnte auch nicht begreifen, warum er sich außerdem verleugnen und vertreten ließ, wo er doch anwesend war. Dann bekam er stückweise die Depesche, deren Inhalt er, obwohl sie in russischer Sprache verfaßt war, genau verstand, da jeder Satz vorher ungarisch richtig durchgekaut und auch die Übersetzung unter heftigen Debatten über den einen oder anderen Ausdruck gemeinsam verfertigt wurde.
»Hallo, Genosse Lenin? Hier ist Ernst Pór am Apparat. Béla Kun befindet sich in der Ratssitzung. Statt Béla Kun spricht Ernst Pór, Mitglied des Zentralausschusses der ungarischen kommunistischen Partei. Das ungarische Proletariat, das gestern die Staatsgewalt eroberte, hat die Diktatur des Proletariats eingeführt und grüßt Sie als den Führer des internationalen Proletariats. Vermitteln Sie den Ausdruck unserer revolutionären Solidarität und unsere Grüße dem gesamten revolutionären Proletariat. Die sozialdemokratische Partei hat sich auf den Standpunkt der kommunistischen Partei gestellt, die beiden Parteien arbeiten nunmehr gemeinsam und solange der Moskauer Kongreß der dritten Internationale keinen einheitlichen Titel bestimmt, werden wir uns die ›ungarische sozialistische Partei‹ nennen …«
Hier wurde das Diktat unterbrochen.
»Das ist überflüssig«, sagte der eine.
»Du bist ein Rindvieh«, antwortete Béla Kun, »ich weiß schon, was ich will.«
»Das braucht der Alte nicht zu wissen, er würde uns zürnen.«
»Disputiere nicht so viel«, schrie ihn Béla Kun an, »das kann man ihm nicht verheimlichen, denn, wenn er es erfährt, sind wir noch viel schlimmer daran.«
Dann flüsterten sie einander ins Ohr, begannen russisch zu sprechen. Das Resultat war die Feststellung, daß sie die Bezeichnung »Sozialisten« sowieso nicht lange beibehalten würden, Lenin wäre gescheit genug, um darüber nicht ungehalten zu sein, daß der Sieg noch kein vollständiger wäre, daß sie sich noch nicht kommunistische Partei nennen könnten, denn die sozialdemokratische Partei würde nicht so leicht ihren ganzen Namen opfern. Vorderhand gaben sie nur die Hälfte her. »Die andere Hälfte müsse man eben später gewaltsam wegnehmen!« Dabei grinsten sie sich vielsagend an und setzten das Telegramm fort:
»Wir bitten diesbezüglich um Weisungen. Der Rat der Volkskommissäre hält gerade seine Sitzung ab. Genosse Béla Kun ist Volkskommissär des Äußeren geworden. Mit bewaffneter Hand wenden wir uns gegen alle Feinde des Proletariats und bitten um sofortige Nachricht über die militärische Lage.«
Das geschah um fünf Uhr nachmittags. Das Telegramm war abgegangen. Csepel hatte auf die aufgeregten Anfragen die beruhigende Auskunft erteilt, daß das Telegramm auf der angegebenen Wellenlänge abgegeben war, aber noch keine Antwort eingetroffen sei. Um acht Uhr abends meldete die Moskauer Funkstation, daß zufolge atmosphärischer Störungen die Csepeler Depesche verstümmelt angelangt sei, worauf Csepel das Ganze nochmals wiederholte. Um neun Uhr abends meldete Csepel, daß Moskau sowohl die Proklamation wie auch die Botschaft an Lenin aufgenommen hätte und antworten wolle.
Wie die Antwort in Wirklichkeit gelautet hat, wird wohl kaum jemand erfahren. Um neun Uhr zehn Minuten setzte sich der Papierstreifen in Bewegung, die Bolschewisten umstanden mit erschrockenen Mienen, in heller Aufregung den Apparat, der sie mit ihrem Götzen verband. Sie rissen die Papierstreifen einfach aus der Maschine, übersetzten sofort was darauf stand, und wiederholten siegestrunken die ersten Worte:
»Hallo, hier Lenin – –«
Dann aber zogen sie sich geheimnisvoll zurück, samt der Depesche, um sie ganz zu übersetzen und veröffentlichen zu lassen, damit am nächsten Morgen Plakate und Zeitungen an der Spitze ihrer Nummer vom 23. März als Sonntagsausgabe die Botschaft Lenins bekanntgebe:
»Hallo, hier Lenin. Meine aufrichtigen Grüße an die Regierung des Proletariats der ungarischen Räterepublik, und vor allem an Béla Kun. Ich habe Ihre Botschaft soeben dem Kongreß der kommunistischen Partei des bolschewistischen Rußland zur Kenntnis gebracht. Die Begeisterung ist unermeßlich. Wir werden die Entscheidung des Moskauer Kongresses der kommunistischen Internationale sobald als möglich bekanntgeben, ebenso auch den Bericht über die militärische Lage senden. Es ist unbedingt notwendig, daß zwischen Budapest und Moskau eine ständige drahtlose Verbindung bestehe. Mit kommunistischem Gruß und Händedruck – Lenin.«
So ist die Depesche in den Blättern erschienen, ob sie Lenin auch so abgegeben, ist nicht zu entscheiden. Lenin und Trotzki waren angeblich einmal Stammgäste in dem verrauchten Spielzimmer des Wiener Café Central, wo sie genau so Schach spielten, wie die anderen Winkeljournalisten. Aber ob Lenin tatsächlich diese unwahrscheinliche, im Stile eines Zeitungsartikels gehaltene Depesche abgegeben, ob er vor allem Béla Kun mit warmem Händedruck kommunistische Grüße gesandt hat, das bleibt ewiges Geheimnis, das Geheimnis jener kleinen und gefährlichen Lügen, deren Gesamtheit eben in trüben Zeiten die Weltgeschichte ausmacht.