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Nun hieß es, nachdem die Macht, die unerhoffte, begleitet von den vielen unvorhergesehenen und unberechenbaren Nebenumständen, in die Hand der Kommunisten gelangt war, nicht länger zu zögern. Nun hieß es, von dieser Macht auch Gebrauch machen. Vor Béla Kun stand eine doppelte Aufgabe: Zunächst die Machtvollkommenheit, die die Kommunisten mit den Sozialdemokraten teilten, laut einem mit ihnen im Sammelgefängnis abgeschlossenen Abkommen, ganz in die Hände der Kommunisten hinüberzuspielen und nach Abwicklung dieser ersten, ziemlich komplizierten Schachzüge die gesamte Macht in der eigenen Hand zu vereinigen. Béla Kun wollte Diktator werden … Der Winkeljournalist, der Defraudant der Kolozsvárer Sparkasse, der Fünfunddreißigjährige, fühlte sich – endlich! – im Himmelreich, im allerdings rotgemalten Himmelreich seiner Träume angelangt, endlich richtig arriviert.
Béla Kun und Genossen hatten bei ihrem ersten Auftreten die Feinde von vorgestern und die Verbündeten von gestern, die sozialdemokratischen Gewerkschaftsführer, die im Vergleich zu den frisch entlassenen Häftlingen geradezu als richtige Diplomaten wirkten, einfach überrumpelt. Béla Kun und seine Genossen waren nicht nur aus dem Gefängnis herausgekommen, sondern alle von neuem für das Gefängnis reif. Sie hatten keinerlei Kontakt mit der wirklichen Arbeiterschaft, bestand doch die ganze Gesellschaft aus Elementen, die teils aus der Partei, teils aus der Bourgeoisie ausgestoßen worden waren. Man konnte auch den Ausdruck »Lumpenproletariat« auf sie nicht anwenden, da ja die Lumpen hauptsächlich der Lumpenbourgeoisie entstammten.
Der erste Berater und Stellvertreter Béla Kuns ist jetzt der alte Freund aus dem dunklen Ring-Kaffeehaus, der geheimtuerische Julius Alpári geworden, der wie ein abgetakelter Agent oder ein wegen Krida mehrmals vorbestrafter Schwindler aussieht, der, scheinbar Mitinhaber aller phantastischen Pläne, Freund und Verbündeter, noch in den Zeiten der Erfolglosigkeit immer treu an der Seite des Béla Kun ausharrend, bei seinem arrivierten Chef sich wegen seines Anteils melden muß. Er ist zum stellvertretenden Volkskommissär im Auswärtigen Amte ernannt worden; er, der unbekannte Waffengefährte Béla Kuns, den eine jede Polizei der Welt auch ohne jedwede Nachforschung als höchstverdächtig hätte verhaften können, ist also Staatssekretär im Auswärtigen Amt geworden, Führer der auswärtigen Politik eines durch seine geographische Lage und durch seine gesamte politische Situation außenpolitisch äußerst interessanten und bedeutungsvollen Landes.
Die Regierung des Béla Kun, aus den schlechtesten Elementen der Bourgeoisie und des Proletariats bestehend, hatte eigentlich gar keine Beziehung zur Arbeiterbewegung, aber auch nicht zur Arbeit. Minister des Innern, d. h. Volkskommissär für innere Angelegenheiten wurde ein dicker Rechtsanwalt, Dr. Eugen Landler, der seinen Anwaltsberuf meistens in Nachtkaffeehäusern ausübte, den der Verprügelte damals ins Schulhaus rief; sein Stellvertreter ein früherer Inseratenagent, Béla Vágó. Die sonstigen Volkskommissäre, die sich Béla Kun aus dem breiten Kreise seiner Freunde wählte, waren nicht um vieles besser. Sie waren teils aus russischer Gefangenschaft, teils inländischen Gefängnissen entsprungene oder entlassene, höchst zweifelhafte Individuen. Einer der übelsten unter ihnen war der stellvertretende Volkskommissar für Unterrichtswesen, Dr. Georg Lukács von Enyed, der unberechenbare Literat, der Sohn eines Direktors einer der größten ungarischen Banken, des Budapester Rothschildschen Creditinstitutes. Dr. Josef Pogány, der eigentliche Judas der Sozialdemokraten und noch ein paar ähnliche defekte Elemente saßen ebenfalls in der Regierung. Weit und breit kein anständiger Mensch, selbst nicht im Sinne der etwas weitergedehnten Auffassung der Revolutionäre über Anstand und Moral, alle ohne Überzeugung, ohne Pedigree eines irgendwie inhaltsvollen Vorlebens, eine Schar der prinzipiell Arbeitslosen, d. h. mehr arbeitsscheuer als arbeitsloser Männer. Sie hatten nie in ihrem Leben gearbeitet, mit dem Begriff der Arbeit hatten sie weder geistig noch physisch jemals etwas zu schaffen, bis auf die eine Tatsache, daß sie die »Arbeit«, dieses bedeutungsvoll klingende Wort als leere Phrase und mit dieser immer und ausschließlich die Arbeit anderer gemeint, benützt und beschmutzt hatten.
Der ärgste unter allen war Tibor Szamuelly, der treue Freund aus Rußland, der zwar nur stellvertretender Volkskommissär für Kriegswesen wurde, später aber die eigentliche Macht des Terrors repräsentierte, ein Bluthund aus Überzeugung, ein Sadist aus Veranlagung, ein Verbrecher, der sich gegen sämtliche Paragraphen aller Strafgesetzbücher der Welt vergangen hat. Die zwei Komplizen ergänzten sich prachtvoll, zwei Bluthunde, die vergnügt das Blut einander von den Schnauzen leckten.
Béla Kuns diktatorische Träume waren nunmehr zur Wirklichkeit geworden, allein es machte ihm keine besondere Freude, ausschließlich die Pflichten seiner Stellung als Volkskommissär des Äußeren »blöd-bureaukratisch« auszuüben, sich bloß in dem königlichen Palais einzunisten, seine Bureaus in Räumen aufzuschlagen, deren Wände noch Matthias Corvinus errichten ließ, kurzum, in einem Gebäude zu hausen, das unter Maria Theresia zu einem der schönsten Bauten der Welt wurde und unter Franz Josef I. seine vollste Schönheit erlangte. Diplomatische Verhandlungen zu führen, womöglich chiffrierte Telegramme in Empfang zu nehmen und zu versenden, noch dazu ohne jedwede Kenntnis einer fremden Sprache, mit Ausnahme der russischen, die er aber auch nur so weit beherrschte, als er sie sich in der Agitatorenschule aneignen konnte, – all das interessierte ihn nicht besonders. Zu bureaukratischer Arbeit verspürte er überhaupt keine Lust. Die Erinnerung an die gestohlenen Briefmarken in der Krankenkasse in Kolozsvár hatten ihm offenbar jede Arbeit in einem Amte verleidet.
Das Erreichte befriedigte Béla Kun nicht. Der kleine Winkeljournalist, der Sohn des Landjuden aus Szilágycsehi, wollte ein richtiger Herrscher werden, Herr über ein Land, Diktator über ein tausendjähriges Volk, Befehlshaber über die eigene wie auch über die anderen Parteien. In der Wahl der Mittel, die zur Herrschaft führen sollten, war man nicht sehr heikel; ob Lüge oder Schmeichelei, Terror oder Drohung in Anwendung gebracht wurde, war Béla Kun ganz egal, wenn man nur dadurch den heiligen Zweck: Alleinherrscher zu werden, erreichte.
Die Erkenntnis, daß er und seine Bande ohne jedwede inneren Beziehungen zu der Arbeiterschaft von Budapest und angesichts des denkbar schlechtesten Verhältnisses zu der Bauernschaft sich allein nicht werde halten können, ließ ihm keine Ruhe. Die Bauern, die in der Provinz, also weit vom Schusse waren, machten ihm allerdings nicht viel Kopfzerbrechen, auch die Verproviantierung der Hauptstadt und die Aufrechterhaltung der Ordnung im Lande bildeten nicht seine Hauptsorge, sondern er wendete sein ganzes Interesse der parteipolitischen Lage in Budapest zu. Da dort die Arbeiterklasse die einzig organisierte Masse darstellte, mußte er sich unbedingt die Unterstützung derselben verschaffen. Die Sozialdemokraten, durch den kommunistischen Umsturz verbittert, wollten nicht gerne mittun und hätten am liebsten schon am zweiten Tag den Pakt nicht eingehalten und an der Regierung nicht teilgenommen. Die besseren Elemente empfanden es als verletzend, mit Männern in einer Regierung zu sitzen, die sie ständig beschmutzt und verleumdet hatten, die eigentlich ausschließlich durch die Anklagen, die sie gegen die alten Arbeiterführer erhoben, zum Erfolg gelangt waren. Béla Kun machte die verzweifeltsten Anstrengungen, um die Sozialdemokraten in die Regierung hineinzulocken. Er hat dabei viel weniger aus politischer Überzeugung gehandelt als aus Feigheit und Angst. Er empfand buchstäblich physische Furcht, daß ohne die Teilnahme der Sozialdemokraten die Arbeiter seiner Herrschaft kurzen Prozeß machen würden.
Nachdem es Béla Kun gelungen war, die früheren Feinde zu überrumpeln und sie zu einer paritätischen Teilnahme an der Regierung zu gewinnen, betrog er sie sofort. Er bildete zwar die Regierung genau zur Hälfte aus Sozialdemokraten und Kommunisten, hatte aber an die Seite eines jeden sozialdemokratischen Volkskommissärs zwei stellvertretende Volkskommissäre aus der eigenen Gefolgschaft gestellt, punzierte, erprobte, verläßliche Kommunisten: mit einem Worte Verbrecher. Polizei, Stadtverwaltung, Radio, Telegraph, Telephon, Post, alle Zeitungen wurden ebenfalls mit verläßlichen Kommunisten besetzt und, nachdem die Kulissen einer richtigen Potemkin-Stadt gestellt waren, konnte das Komödienspiel beginnen. Niemand ahnte damals noch, daß die Komödie sich derart tragisch gestalten mußte.
Béla Kun und sein Stellvertreter, Julius Alpári, gestern noch im Gefängnis, heute im Ministerfauteuil, fanden sich rasch in die neue Situation hinein. Ungarn besaß keine eigene große Vergangenheit auf dem Gebiete der Diplomatie. Die großen ungarischen Diplomaten wurden zum Schluß doch immer k. u. k. gemeinsame Minister des Auswärtigen am Ballhausplatz in Wien oder Botschafter und Gesandte in Paris, Petersburg und Rom. Der Oktoberumsturz schuf auch darin Wandel, denn es entstand von einem Tag auf den anderen ein neues Auswärtiges Amt, improvisiert im Wesen und in der Einrichtung, zusammengesetzt aus ungeschulten Beamten verschiedener Ministerien und einzelnen früheren Diplomaten der Ballhaus-Schule. Die Beamten des Außenministeriums wurden entweder verjagt oder sie gingen aus Eigenem durch. Das Auswärtige Amt des Béla Kun bestand anfangs aus einigen eigenmächtig ernannten, höchstverdächtigen Individuen, die mangels anderer Beschäftigung gerne die Diplomaten gespielt hätten. Bloß einen einzigen früheren Diplomaten, den eigentlichen Leiter des ungarischen Außenamtes, Ivan von Práznovszky, konnte Béla Kun dazu bewegen, im Amte zu verbleiben. Der raffinierte Kommunist zeigte sich in diesem Falle naiv, er vergaß für einen Moment seine eigenen Methoden und ließ die ganzen auswärtigen Angelegenheiten sowohl nach außen hin, wie auch intern von einem Diplomaten der alten, ja sogar ältesten Schule versehen. Er bedachte dabei nicht, daß Herr von Práznovszky schon Mittel und Wege finden werde, die tiefsten Geheimnisse der bolschewistischen Regierung in das Ausland zu den Feinden des Regimes gelangen zu lassen. Dieser Mangel an Vorsicht gegenüber den eigenen Methoden, jedoch ausgeübt von anderen, gab Béla Kun gute Lehren. Es machte ihm aber mehr Spaß – am Ende erwies sich das Ganze als ein blutiger Spaß –, Außenminister oder vielmehr Volkskommissär des Auswärtigen in einem Kabinett zu sein, wo neben früheren Defraudanten auch frühere richtige Diplomaten saßen.
In Ungarn befanden sich außer dem österreichischen Gesandten und einem deutschen Generalkonsul nur fremdländische Missionen, von denen die französische als Urheberin des Umsturzes durch die Überreichung der berühmten Note als erste verschwand. Béla Kun besetzte im Auslande nirgends die Gesandtenposten, mit Ausnahme von Wien, wo die mit dem Bolschewismus kokettierende Regierung seine beiden Gesandten akkreditierte. Überallhin, auf jeden Posten nicht einen, sondern zwei Männer zu stellen, damit einer den anderen kontrolliere, terrorisiere, in Schach halte und, wenn notwendig, verrate, das war das oberste Prinzip Béla Kuns, das ihn bei allen Ernennungen geleitet hat.
Wenn man glauben sollte, daß die ersten Tage, die für ein neues Regime immer die entscheidendsten sind, sich in fieberhafter diplomatischer Tätigkeit abspielten, um alte Beziehungen zu erneuern, neue anzuknüpfen, sich der ganzen Welt entsprechend zu präsentieren, so irrt man gewaltig. Ach, all dies waren die Regierungskünste der verhaßten Bourgeoisie. Kommunisten denken anders und sie richten es sich daher auch anders ein. Einer der wertvollsten ehemaligen Führer der Arbeiterbewegung, der frühere Handelsminister Ernst Garami will einen Paß haben und ins Ausland fahren. Sowohl Béla Kun wie auch sein Stellvertreter, Julius Alpári, verwenden Tage auf Verhandlungen mit Garami, um ihn, wenn er schon von seiner Absicht, durchzugehen, nicht abzuhalten ist, wenigstens dazu zu kriegen, einige hundert Pfund in Empfang und eine Mission für die Schweiz zu übernehmen, mit einem Worte: er soll kompromittiert werden. Aber es gelang nicht … Mitriechen! war das Hauptschlagwort der ersten Tage, jedem Geld anbieten, jeden gewinnen, ganz gleichgültig, auf welche Weise. Mit Versprechungen und mit Geld wurde genau so wenig gespart wie mit Lügen.
Auch die Beamtenschaft mußte sich dem Terror ergeben. Unter dem Druck der angedrohten Entziehung der Lebensmittel kehrten die Beamten nach und nach reuevoll in ihre Ämter zurück. Nach dem Erscheinen der an Arbeit gewöhnten und auch tatsächlich arbeitenden Beamten zeigten sich wirklich Spuren einer Arbeit in den Bureaus und das ganze Schauspiel begann den Eindruck einer richtigen Regierung zu erwecken.
Inzwischen liegt drüben am andern Donauufer eine große Stadt halbtot, ganz tot danieder. Die Geschäfte sind gesperrt, die Lebensmittel rar. Nur die Rotationsmaschine arbeitet, dieser bloßgestellte Akkumulator der Béla Kunschen Revolution. Die brave Maschine muß falsches Geld fabrizieren, agitatorische Zeitungen drucken, vor allem aber Plakate, bis zur Bewußtlosigkeit Plakate herstellen. Neue Zeichner tauchen auf, die mit futuristischen Zeichnungen, mit schreienden Texten, aus denen die Schlagwörter »Sowjet« und »Rote Armee« als immer wiederkehrende Hauptmotive grell hervorstechen, die Hauptstadt überschwemmen. Béla Kun ist kein Pazifist. Béla Kun weiß, daß ein System nur auf den Spitzen der Bajonette sich halten kann, Béla Kun braucht Bajonette.