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XI.

Der November des Zusammenbruches der Habsburger Monarchie, der erste Monat nach der Revolution in Budapest, war auch der Monat der ersten, großen Grippeepidemie, des Regens, der düsterste Monat in der Geschichte eines Volkes, welches unverdienter, als je ein Volk, in den Krieg gerissen wurde, und nun verstümmelt, von Feinden umzingelt, im hohen Fieber nach der frischen Amputation dalag. Ein Krüppel war das Land Ungarn und von Fieberphantasien der Kopf, die Hauptstadt Budapest, geschüttelt. Außer der Influenza wütete auch eine politische Grippe, es tobte die Uneinigkeit, es regierte die Unsicherheit und am Horizont der unklaren Zukunft sammelten sich drohende Wolken des erfüllten Schicksals.

Ein fünfunddreißigjähriger junger Mann mit der Vergangenheit eines ewig ruhelosen Abenteurers, herumgeworfen von Kolozsvár über Tomsk nach Moskau, kam unter einem falschen Namen, als Regimentsarzt Dr. Eugen Sebestyén, in Budapest an. Seine Zeit ist gekommen, besser, geeigneter hätte er es sich nicht vorstellen können. An der Grenze stehen nicht mehr die Truppen einer strengorganisierten Wehrmacht, die Pässe werden keiner kritischen Prüfung mehr unterzogen, die seelische Quarantäne, welche die sterbende Monarchie noch in ihren letzten Stunden aufrechthielt, um in Konzentrationslagern den russischen Geist aus den zurückkehrenden Gefangenen auszutreiben, ist aufgelöst. Aus dem Munde eines revolutionären Kriegsministers erklang jetzt der pazifistisch versoffene, unheilvolle Ruf:

»Ich will keine Soldaten mehr sehen!«

Die erste Zeit der Republik Ungarn war eine organisierte Anarchie. Die bürgerlich Radikalen und die Sozialdemokraten saßen am Ruder und wollten sich gegenseitig vor Eifersucht bei der Verteilung der Macht auffressen. Es bestand keine disziplinierte Gewalt, es galten nur Revolutionsverdienste, die quittiert werden mußten, es gab nur Arbeitslose und nur demobilisierte Soldaten, die stürmisch auf ihre Wunden und ihre Medaillen wiesen und immer heftiger Brot und Arbeit und Geld forderten. Die Regierung besaß kein Geld. Aber Béla Kun brachte aus Rußland die gefährlich-ansehnliche Summe von dreihunderttausend Mark mit.

Nur einige Tage verweilte er in einem Ringstraßenhotel. Im Hotel Royal war der Sitz einer russischen »Rotkreuz« – mehr Rot als Kreuz – Mission. Die war schon verständigt, die Russen wußten genau, wer Dr. Eugen Sebestyén war und was er wollte. Die Geheimnistuerei war die Hauptsache, Kun hoffte sich einen großen Effekt von ihr. Die Unzufriedenen, die Unbefriedigten, die an die Seite Geschobenen, die nicht gleich Staatssekretäre geworden waren, fingen rasch Feuer und waren dem russischen Geld bald gewonnen.

Aus dem Hotelzimmer wird in eine kleine Mietwohnung zur Witwe eines Hauptmannes übergesiedelt. Frau und Kind feiern das Wiedersehen mit dem heimgekehrten Vater schon unter ruhigem Dach. Frau Irene bewundert den großgewordenen Gatten, der Lenins Freund, Intimus von Trotzki, Kollege von Bucharin geworden ist, der über eine Menge Geld verfügt, der jetzt schon mit einer gewissen Berechtigung und mehr Timbre im Ton vor sich hinmurmelt: »Jetzt werde ich es zeigen!« – In der kleinen hübschen Wohnung in der versteckten Ügynök-utca werden geheimnisvolle Konventikel abgehalten. Erst kommen nur vereinzelte Besucher, dann scharenweise die Gruppen, dann gibt es Tage, an welchen sich ganze Versammlungen in den Zimmern vereinigen, endlich nach Wochen – charakteristischer für die damaligen Zustände als die Organisierung der kommenden Ereignisse – erscheint ein Detektiv in der kleinen Seitengasse. Das Haus, in welchem der angebliche Regimentsarzt wohnt, wird beobachtet.

Béla Kun lebt gut, geht ins beste Kaffeehaus, hat seinen Stammtisch in einem kleinen Gasthaus, wo er sich das gute, paprizierte ungarische Essen nach so viel fremder Kost recht munden läßt. Die Tischgenossen blicken zu ihm auf, wie zu einem neuen Messias, glauben ihm jedes Wort, da er doch die Zeche bezahlt und verbreiten geheimnistuerisch die bedeutungsvolle Nachricht: Béla Kun ist da. Niemand weiß noch, wer Béla Kun ist, er ahnt ja selbst noch nicht, was er sein wird.

Die Taten der Moskauer roten Division werden mit blutig übertriebenen Details erzählt, die Reputation des Geheimnisvollen wird immer größer und größer. Langsam melden sich die früheren Freunde, die aus der Partei ausgestoßenen, alle, die es weder mit der privaten, noch mit der Parteimoral streng nahmen, sie werden die Elitegarde des Parteichefs, zu dem er sich in aller Form ernennt. Eine Druckerei wird erworben, Kun kann, obwohl das Papier fehlt, sich dennoch Papier verschaffen, Flugschriften erscheinen, das erstemal taucht das Wort »Räterepublik« auf, in Form einer kleinen, kaum acht Seiten umfassenden Broschüre: »Was ist eigentlich die Räterepublik?« Dann kommen Aufrufe in tschechischer, serbischer und rumänischer Sprache, die Soldaten der Nachbarländer sollen aufgefordert werden, den militärischen Dienst zu verweigern, die Waffen anstatt gegen das ungarische Proletariat, gegen die eigenen Offiziere zu richten. Bald wird ein kleines Wochenblatt herausgegeben, »Der rote Soldat«, dann ein zweites, »Der Proletarier«, dann ein drittes, »Der arme Mann« und anfangs des Jahres 1919, als die Verhältnisse in der hilf- und machtlosen Republik besonders desolat werden, das erste Tagblatt, die »Rote Zeitung« – »Vörös Ujság!«

Béla Kun hatte einen wirklich neuen Ton in der Roten Zeitung angeschlagen. »Ich pfeife auf alle Gesetze«, hieß sein erster Leitartikel, der zweite verkündete schon den Lehrsatz, daß ein braver Kommunist täglich seinen Bourgeois zu erschlagen hätte. Das Blatt war langweilig, verworren, so wirr, wie die Köpfe seiner Redakteure. Niemand nahm es ernst, die »Vörös Ujság« machte keinen besonderen Eindruck, das Publikum hatte andere Sorgen. Béla Kun konnte in der Selbsttäuschung schwelgen, wie leicht seine Arbeit vor sich gehe. Die Belegexemplare seiner aufrührerischen Drucksorten wurden prompt nach Moskau geschickt, die Russen zahlten noch prompter und Béla Kun disponierte über einen unerschöpflichen Geheimfonds, alles ging leicht, aber nicht durch seine Kraft, sondern durch die Ohnmacht der Regierung. Ein einziger strenger Polizeichef, ein einziger entschlossener Staatsmann hätte genügt, um das ganze gefährliche Spiel mit dem Feuer abzustellen. Es ging aber nicht. Die historische Grimasse, Béla Kuns Schicksal zeigte sich gerade darin, daß seine Schritte nach vorwärts immer andere taten.


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