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Die rote Krawatte wird aus der bescheidenen Garderobe wieder herausgeholt. Bürgerlicher Journalist zu sein, sich so gar nicht ausleben zu können, keine Möglichkeiten zu haben und noch dazu die immerhin bittere Rolle des Renegaten zu spielen und das alles für nichts und wieder nichts, wurde Béla Kun einfach unerträglich. Die vorgetäuschte Tatsache, daß er nie und unter keinen Umständen seinen marxistischen Prinzipien untreu geworden, daß er durch und durch Sozialdemokrat sei, stark betonend, versuchte er es wieder mit der Sozialdemokratie. Die Beziehungen in der Provinzstadt sollen jetzt helfen, die ziemlich guten Auskünfte, welche seine Tätigkeit in Kolozsvár bestätigen, könnten ihm eigentlich den Weg zur sozialdemokratischen Zeitung, der »Népszava«, Volksstimme, bahnen, zu dem großen und sehr verbreiteten Organ einer im Parlament zwar nicht vertretenen Partei, die aber trotzdem Schritt für Schritt mit der Entwickelung der Industrie im Vorkriegs-Ungarn sich zu einer ansehnlichen Macht emporgekämpft hatte.
Das Blatt stand unter der Leitung Ernst Garamis, eines kultivierten Journalisten und abwägenden, ernsten Politikers, der erst ziemlich gut in die Augen seiner Mitarbeiter schauen wollte, bevor er jemanden in seine Nähe ließ. Trotz der Empfehlung, trotz der Unterstreichung agitatorischer Provinzerfolge, wies Garami den Bewerber glatt ab, ließ ihn nicht in die Redaktion, in der auch gar kein Bedarf an kleinen Maulhelden aus der Provinz war. Die Schlappe jagte Béla Kun wieder ins Kaffee Meteor zum alten Stammtisch zurück.
Glühende Liebesbriefe fliegen nach Kolozsvár. Irene soll warten, Irene soll sich nur so lange gedulden, bis die heiß ersehnte Stellung, die Position, die Pensionsberechtigung errungen sind, dann geht, dann rast er zurück nach Kolozsvár, dann wird der Widerstand des alten Kramhändlers besiegt, dann gehören sie ewig einander. Das Unglück bei der bürgerlichen, die Abweisung bei der sozialdemokratischen Zeitung, alle die mit so viel Lächerlichkeit obendrein behafteten Nieten, sie trieben Béla Kun … wohin? In die Opposition. Er wurde der heftigste Oppositionelle der sozialdemokratischen Partei, in der Partei selbst, innerhalb der Mauern der strengen Parteidisziplin, an denen er unerbittlich hämmerte, um entweder ausgesperrt zu werden, oder – Einlaß zu finden.
Manche der Kollegen des späteren Diktators, Diplomaten einer ungeahnten Welt, die sich, wenn auch bloß auf 133 Tage, wie ein böser Traum nachmals wirklich erhob, saßen mit am Stammtisch, alle stellungslos, alle unkultiviert, alle fleckig und schmierig, alle hungrig nach ein paar Semmeln und einem Kaffee, nach ein paar »Würsteln«, nach Erfolg. Béla Kun, Julius Alpári, Béla Szántó, Biermann, Kelen, Hevesi, Rudas, und wie die Genossen sonst noch hießen, sie alle saßen hier erbittert zusammen, griffen wütend die Parteihierarchie an, deren Führer sie spöttisch die Bischöfe der gutbesoldeten Stellungen nannten, und durch die ziemlich viel bedeutende Öffentlichkeit ihrer losen Mäuler bewarfen sie ihre eigene Partei mit Schmutz. Der Kampf ging auf Leben und Tod, die unbedeutende Opposition wurde immer unangenehmer. Die große Partei, die mit ihrer eigenen Entwicklung genug Sorgen hatte und alle Hände voll zu tun mit Kämpfen gegen die Unterdrückungsabsichten der Behörden nach oben, nach unten gegen die Interesselosigkeit der Arbeiterschaft, ließ sich die Opposition der Kaffeehausstammgäste, der Stürmer und Dränger der unerfüllten und unbefriedigten Ambitionen nicht gefallen. Die Partei mußte mit den Kerlen fertig werden.
Die Abrechnung konnte nur auf zweierlei Art erfolgen: entweder mußten sie aus der Partei entfernt oder ein Kompromiß mit ihnen mußte geschlossen werden. Jene Genossen Béla Kuns, die noch, ziemlich anständig, wenigstens dem Prinzip irgendwie treu bleiben wollten, ließen sich aus der Partei ausschließen. Jahre müssen vergehen, eine Welt muß in Flammen aufgehen, um auf ihren Ruinen diese Piraten aller Überzeugungen wiedersehen zu können. Wir treffen sie auch alle wieder. Auf den Trümmern, wie richtige Plünderer nach großen Katastrophen, erscheinen sie unter der Leitung Béla Kuns, der sie im Augenblick mit einem vielversprechenden Kompromiß verläßt …
Béla Kun bekommt eine ganz gute Stellung mit einer großen Gage und Pensionsberechtigung im warmen Schoße der Partei, er kann nun Geld verdienen, weiter seinen Prinzipien treu bleiben, er kann und er soll sogar an der Parteibewegung teilnehmen. Er hat ausgesorgt. Béla Kun hat alles erreicht. Béla Kun ist jetzt in jeder Hinsicht ein gemachter Mann. Mit der Ernennung zum Direktor-Stellvertreter der Kolozsvárer Arbeiterkrankenkasse hastet er nach Hause.