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Uneingeschränkter Herr über eine große Stadt vermochte Béla Kun zu sein. Mit dem Lande, mit den Bauern gelang es ihm nicht so einfach. Diese ließen die rote Hauptstadt lieber verhungern, als sich ihrer Diktatur zu beugen. Neben diesem Schmerz gab es aber einen noch brennenderen. Er konnte sich rühmen, den Besuch eines leibhaften britischen Generals, eines amerikanischen Professors, angeblich auch eines italienischen Generals empfangen, ja sogar von Balfour Telegramme und von Otto Bauer Noten erhalten zu haben, aber die wahre Liebe war das nicht … Béla Kun mit seinem unheilbaren Journalistenwahn sehnte sich nach der einzigen verlockenden Musik, nach der Musik der Rotationsmaschine. Béla Kuns heißeste Ambition wurde, Interviews zu geben, Erklärungen und Äußerungen mit seinem Namen in Zeitungen veröffentlicht zu wissen, die er teils nie in die Hände bekam, teils auch nicht verstanden hätte. Er träumte davon, mit dem Korrespondenten der Times oder des Corriere della Sera sprechen zu können, er wollte sich im Berliner Tageblatt oder in der Vossischen Zeitung äußern, ihm imponierte weniger das Wiener Auswärtige Amt als die Neue Freie Presse, denn mag er auch in noch so hohen Regionen seiner übelriechenden Macht geschwebt sein, von der Journalistik, seiner alten, großen, unglücklichen Liebe ließ er nicht.
Mit seinen Interviews hatte er wenig Glück. Ashmead Bartlett, der Korrespondent des Daily Telegraph, sah sich den Diktator gut an, ließ dessen Schmeicheleien und Ehrerbietung über sich ergehen, wechselte kaum ein paar Worte mit ihm, fuhr nach Wien und schrieb seine wahre Meinung über Béla Kun in dem Londoner Blatt und stellte sich der in Wien befindlichen ungarischen Gegenrevolution zur Verfügung. Die Bekanntschaft mit dem Diktator hatte ihn so sehr auf die andere Seite gedrängt, daß er sogar an dem Angriff auf die bolschewistische ungarische Gesandtschaft in Wien teilnahm.
Béla Kun suchte eifrig mit den großen auswärtigen Zeitungen Beziehungen anzuknüpfen. Seine Emissäre liefen in Wien mit fertigen Interviews umher, er hätte auch »gerne Opfer gebracht«, aber es gelang nicht, der Traum sollte sich nicht verwirklichen. Mit der Entente konnte er verhandeln, aber richtige Interviews verlangte niemand von ihm.
Eines schönen Tages – es war ein Sonntag – läutete im Volkskommissariat für Auswärtiges das Telephon. Eine Wiener Zeitung meldete sich am Apparat. Mit dem Eifer eines kleinen Polizeireporters läuft Béla Kun durch die Räume, um die günstige Gelegenheit nicht zu versäumen und mit einem richtiggehenden ausländischen Redakteur sprechen zu können. In mehr als gebrochenem Deutsch, berichtet er auf die Anfrage des Wiener Blattes; ob sich in Budapest tatsächlich furchtbare Straßenkämpfe abspielen:
»Alles ist Lüge. In Budapest herrscht die größte Ordnung. Daß hier Unruhe herrscht, ist genau so wahr, wie das Gerücht, daß ich ermordet wurde. Ich bin nicht tot, im Gegenteil ich lebe, lebe sogar sehr intensiv und fühle mich kerngesund. Die Räterepublik ist auch nicht tot, es geht ihr ausgezeichnet, und das Proletariat hält die Diktatur uneingeschränkt in seinen Händen.«
»Worauf sind die in Wien verbreiteten Gerüchte zurückzuführen?« – erkundigt sich der nachrichtenhungrige Wiener Redakteur.
»Der Wunsch ist der Vater des Gedankens«, antwortet mit prompter Selbstironie Béla Kun.
Dann fragt der Wiener:
»Glauben Sie, Herr Volkskommissär, daß die Räterepublik vor einer Krise steht? Und beurteilen Sie die Lage optimistisch oder pessimistisch?«
»Ich bin weder Optimist noch Pessimist« antwortet Béla Kun, »in solcher Situation, wie der unserigen, können Gefühlsmomente nicht entscheiden. Wir kämpfen weiter, auch die aus Wien heute eingetroffene rote Legion kämpft Schulter an Schulter mit unseren Soldaten, und wir werden siegen. Die Sperre des Budapester Telefons für Privatgespräche, die Schließung sämtlicher Kaffeehäuser, die Schlupfwinkel der Gegenrevolution sind, sind nur selbstverständliche Maßnahmen gegen das Bürgertum. Die Idee der Diktatur des Proletariats wird, wenn auch Rückfälle vorkommen sollten, schließlich doch siegen …«
Auch ein anderes Wiener Blatt hat Béla Kun einmal mit einer Anfrage ausgezeichnet. Béla Kun sprach mit dem Redakteur des kurzlebigen Wiener Blattes besonders herzlich. Es handelte sich damals um ein Gerücht, daß die Entente ein Ultimatum an ihn gerichtet habe. Béla Kun erklärte:
»Diese Nachricht ist glatt erfunden. Ich weiß nichts von einem Ultimatum. Die Entente weiß sehr gut, daß das gesamte ungarische Volk mit Begeisterung hinter der Räteregierung steht.«
»Ist es wahr,« erkundigte sich die Wiener Zeitung, »daß die in Budapest lebenden österreichischen Staatsbürger behelligt worden sind?«
»In Budapest herrscht die größte Ruhe und kein einziger Ausländer, vor allem kein Österreicher wurde belästigt. Jeder Ausländer steht unter dem Schutz der Räteregierung, und niemand denkt daran, gegen die Fremden vorzugehen. Ich glaube, daß diese Nachrichten aus der Budapester österreichischen Gesandtschaft stammen, von ihr gehen diese niedrigen Machinationen aus. Was die Gesandtschaft verbreitet, ist alles Lüge. Ich lade einen Ihrer Mitarbeiter ein, nach Budapest zu kommen. Gehen Sie zur Wiener ungarischen Gesandtschaft, berufen Sie sich auf mich, lassen Sie sich ein Laisser passer für den Wien–Budapester Sonderzug ausstellen, und Sie werden sich selbst davon überzeugen können, wie prachtvoll ruhig und wie bewunderungswürdig großartig sich der Übergang von der kapitalistischen zur kommunistischen Weltordnung vollzieht.«
Fraccaroli, der berühmte italienische Journalist, ein großer Freund des wirklichen Ungarn, begab sich eines Tages in die Räuberhöhle. Er kam aus Italien nach dem Zusammenbruch und wollte es sich nicht nehmen lassen, einmal Aug' in Auge mit dem bolschewistischen Diktator zu sprechen. Der Tag des angekündigten Interviews war denn auch ein Festtag für Béla Kun, sollte doch einer seiner kühnsten Träume in Erfüllung gehen: einmal für den Corriere della Sera, das Weltblatt, dessen große Bogen selbst im Café New York in Kolozsvár zu sehen waren, sprechen zu können. Wie schade, daß er kein Wort von einer westlichen Sprache verstand. Die wenigen Brocken Deutsch oder Jargondeutsch, die noch aus Kindheitserinnerungen haften geblieben waren, konnte Fraccaroli nicht verstehen, französisch und italienisch beherrschte er nicht. Er mußte sich also einen guten Dolmetsch beschaffen. Der »Kabinettchef« Alpári assistierte und ein Beamter aus dem Auswärtigen Amte wurde herangezogen.
Fraccaroli fand ihn unmöglich. Der fünfunddreißigjährige, vorzeitig dickleibige Mann mutete ihn wie ein weicher Fettklumpen an. Er hat ihn dennoch interessiert, er fand seine Augen intelligent und räumte ihm ein, ein sehr spitzfindiger Mensch zu sein. Kun schien ihm wie die Karrikatur eines dicken jüdischen Kaufmannes in einer sozialistischen Zeitung. Sorgfältig gekleidet, ohne rote Kravatte, bloß mit dem fünfzackigen Sowjetstern im Knopfloch, trat er vor Fraccaroli, blieb bei der Türe stehen, verbeugte sich tief und unsicher und wartete, bis Fraccaroli ihm die Hand reichte. Alpári stand, übertriebenes Interesse zeigend, an der Seite, achtete auf jedes Wort, das Béla Kun sprach, als würde die Existenz der ganzen Welt davon abhängen, welche Weisheiten dieser von sich geben werde. Fraccaroli ersucht Béla Kun, er möge ihm die Hauptprinzipien seiner Politik bekanntgeben.
»Wir wollen eine neue Gesellschaft der arbeitenden Klasse verwirklichen. Kein nüchtern denkender Mensch wird sich dagegen stellen können, daß nur der Arbeitende das Recht hat, Mitglied der Gesellschaft zu sein. Wir verkünden das Recht und die Pflicht der Arbeit.«
»Interessant,« antwortet Fraccaroli, »ich beobachte, daß in Budapest seit dem Ausbruch des Kommunismus überhaupt nichts gearbeitet wird.«
»Oh, das ist nur eine Übergangszeit,« erwidert Béla Kun, »wir halten die Diktatur des Proletariats bloß für eine provisorische Institution, für einen Übergang vom kapitalistischen Regime zur kommunistischen Gesellschaftsordnung. Wo früher die Wirtschaftsanarchie der kapitalistischen Welt geherrscht hat, dort wollen wir die organisierte Produktionsordnung der sozialen Arbeit aufstellen. Der gesamte Nutzen der Arbeit soll dem Proletariat zufallen. Im Detail ist das Arbeitsprogramm der neuen Weltordnung noch nicht festgelegt, unsere Ämter bemühen sich aber, das Programm baldigst auszuarbeiten.«
Fraccaroli erlaubt sich die indiskrete Frage:
»Wieviel hat Ihre Regierung unter dem Vorwand der Requirierung an Geld, Juwelen und Waren beschlagnahmt? Bei dem gegenrevolutionären Anschlag auf die Wiener ungarische Gesandtschaft wurden mehr als hundertzehn Millionen Kronen erbeutet. Viele Hunderte von Millionen wurden auf Propaganda ausgegeben. Haben Sie ein Budget dieses Haushaltes aufgestellt?«
Béla Kun denkt nach und antwortet zerstreut:
»Nein, nein, ein Inventar haben wir noch nicht. So einfach geht die Sache mit der Statistik nicht! Die Arbeit ist zu umfangreich, und die Requirierungen sind auch noch nicht beendet. Momentan kann ich noch nicht mit Daten dienen. Es ist auch noch viel Vermögen versteckt, ich werde aber anordnen, daß eine Statistik ausgearbeitet wird.«
»Haben Sie viele Menschen ermordet?« fragt unverblümt Fraccaroli.
Béla Kun antwortet auf die peinliche Frage, als würde es sich um eine abgesandte oder erhaltene Note handeln:
»Nein, bitte, ich glaube nicht. Ganz aufrichtig, ich glaube nicht sehr viele … Hie und da, na ja, in der Provinz, wo wir auf stärkeren Widerstand gestoßen sind, mußten wir eben die Hindernisse aus dem Wege räumen. In Budapest aber wurden, glaube ich, nur ganz wenige ermordet … In der Hauptstadt hat es genügt, mit Verhaftungen vorzugehen.«
Dann vergleicht er den ungarischen Bolschewismus mit dem russischen.
»Unsere Revolution schreitet nicht auf den Spuren der russischen. Ich, der ja in Rußland gelebt, dort alles gesehen und mitgemacht habe, werde nicht die dortigen Fehler wiederholen! …«
Fraccarolis Interview mit dem Winkeljournalisten aus Kolozsvár erscheint wortwörtlich in dem Corriere della Sera. Fraccaroli beschreibt den interviewten Bolschewiken allzu naturalistisch, so, wie er ihn sah, mit den herunterhängenden Lippen eines semitischen Negers, wie ein Scheusal.
Die Presseabteilung seines Auswärtigen Amtes beeilte sich, die Unterredung mit Fraccaroli aus dem Corriere della Sera dem Volkskommissär in wortgetreuer Übersetzung zu unterbreiten. Er greift hastig nach der Übersetzung, läßt sich auch das Original geben, und wie ein Verdurstender stürzt er sich auf die ihm als die mächtigste erscheinende Quelle des Weltruhmes. Er liest nicht zwischen den Zeilen; die arge Aufrichtigkeit in der Darstellung seines wahren Wesens stört ihn nicht. An dem Tage des Interviews ist Béla Kun beschimpft wie noch nie und unsagbar selig.