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Wäre Béla Kun nur einen Tag noch in Budapest geblieben, hätten ihn seine Genossen von gestern, die Irregeführten, die Betrogenen in Stücke gerissen. Den Tod, den er in den Händen seiner früheren Helfershelfer sicher zu erwarten gehabt hätte, er hätte in seiner Art wahrscheinlich nur mit den furchtbarsten Martern der Inquisition verglichen werden können. Das denkwürdige Dokument, dem Béla Kun sein Leben sozusagen verdanken konnte, war einerseits von Béla Kuns Wiener Gesandten, anderseits von einem bevollmächtigten Minister des Ballhausplatzes in der Nacht des 2. August unterschrieben worden:
»Die österreichische Regierung ist bereit, um die neue Regierung Ungarns in ihrem Bestreben, die Ruhe und Ordnung im Lande aufrechtzuerhalten, zu unterstützen, den der bisherigen Regierung der ungarischen Räterepublik angehörenden kommunistischen Volkskommissären bzw. Genossen: Béla Kun, Eugen Landler, Ernst Pór, Béla Vágó, Josef Pogány, Franz Rákos, Emil Madarász, Johan Hirosik, Eugen Varga und Julius Lengyel auf dem Gebiete der österreichischen Republik ein Asylrecht einzuräumen, in der Voraussetzung, daß die Genannten hier keinerlei politische Tätigkeit entfalten. Die Aufenthaltsbewilligung wird nur so lange gewährt, als der Republik Österreich hieraus keine inner- oder außenpolitischen Schwierigkeiten erwachsen. Für den gegenteiligen Fall muß sich die Regierung freie Hand vorbehalten. Die Genannten haben nach Ungarn zurückzukehren, sobald die Lage des Landes ihnen den Aufenthalt in Ungarn ermöglicht. Die deutsch-österreichische Regierung sieht sich im Interesse der eigenen, wie auch der persönlichen Sicherheit der Genannten, gezwungen, die Bewegungsfreiheit der Genannten einzuschränken und sie in ihrem durch die Regierung bestimmten Aufenthaltsort unter behördliche Aufsicht zu stellen.«
Die alles verhüllende, diskrete Nacht der Flucht dauerte nur einige Stunden. Béla Kuns entsetztes Gesicht mit den tiefen Furchen der Angst, die er in den letzten 48 Stunden überstanden hatte, wirkte abschreckend im Lichte der prächtig strahlenden Sonne des Augustmorgens. Die vielen Stationen, die er nun alle bei Tageslicht passieren mußte! Györ, die gefährliche Stadt, in der er noch vor einigen Wochen eine blutige Gegenrevolution niederschlagen ließ; nicht enden wollende Zweifel, ob dieser Zug wohl je die österreichische Grenze erreichen würde?! Der Zug hätte, wäre es nach Béla Kuns Wunsche gegangen, nirgends gehalten, nur vorwärts, vorwärts, ohne Unterlaß! Der Zug mußte aber dennoch halten, es kamen Personen- und Lastzüge aus der entgegengesetzten Richtung.
Im nachfolgenden Zug fuhren Josef Pogány, Eugen Varga, Gyula Lengyel, Béla Vágó, Franz Rákos und Emil Madarász und eine Anzahl von Frauen und Kindern der flüchtenden Bolschewikenführer. Josef Pogány war so unvorsichtig, noch in der phantastischen Uniform des roten Generals mit roten Aufschlägen und drei Finger breiten, goldenen Armstreifen zu reisen; er stellte sich noch dazu ans Fenster, wagte es zur Türe zu gehen, in einer Station wollte er sich sogar etwas kaufen. Wie grotesk die komische rote Uniform jetzt wirkte, genau so, wie es ja die ganze Herrschaft gewesen war. Béla Kun konnte jetzt Josef Pogány als die Illustration von sich selbst, uniformiert, dick, aufgedunsen, als abgetakelten General in der Kupeetüre stehend, betrachten. Das war also die Herrlichkeit gewesen! Als es immer heller wurde, die Sonne immer höher stieg und die österreichische Grenze noch immer nicht erreicht war, wurde seine Angst immer größer und sie war auch, instinktiv, nicht unbegründet.
Der frühere sozialdemokratische Gewerkschaftsführer, Karl Peyer, auf den Béla Kun immer ein besonders scharfes Augenmerk gehabt hatte, war Minister des Innern geworden. Béla Kuns Zug hatte kaum die Kelenfölder Station verlassen, als der neue Minister erfuhr, daß er und seine Kumpane ein beträchtliches Vermögen eingepackt hätten, die ansehnliche Summe von 23 Millionen Kronen, die in der damaligen Zeit ungefähr einer Million Dollar entsprach. Dieser Diebstahl mußte, wenn irgend möglich, verhindert werden. Der neue Minister stellte sich auf den Standpunkt, daß das wertlose Leben der Volkskommissäre wohl noch gerettet werden mochte, daß aber das geraubte Gut zurückgewonnen werden mußte.
Béla Kun war noch weit von der Grenze entfernt, als, bereits in der Nacht, der ungarische Grenzpolizist, Polizeihauptmann Petersen folgendes dringende amtliche Telegramm erhielt:
»Auf Grund der Bewilligung der ungarischen Regierung reisen einige Volkskommissäre mit ihren Familien in einem Sonderzug nach Österreich. Wollen Sie die Genannten einer Untersuchung unterziehen und falls Sie Geld oder Juwelen über 10 000 Kronen bei je einer Familie vorfinden, diesen Überschuß beschlagnahmen und hierüber eine Konsignation ausfertigen. Bezüglich der Untersuchung ist darauf hinzuweisen, daß dieselbe im Auftrage der ungarischen Regierung erfolgt. Falls Sie Hilfe benötigen sollten, erhalten Sie diese durch den Wiener Gesandten der Regierung. Bei dieser Untersuchung ist die größte Zuvorkommenheit an den Tag zu legen. Die beschlagnahmten Werte sind unverzüglich an das Ministerium des Innern abzuliefern. Über den Auftrag wollen Sie morgen früh telephonische Meldung erstatten.«
Die Untersuchung erfolgte tatsächlich in der letzten ungarischen Station Királyhida. Der Kommandant, Polizeihauptmann Petersen bestieg das Koupee, seine Leute, gestern noch die wichtigsten Organe der roten terroristischen Herrschaft, warfen sich wütend auf die Untersuchung, förderten aus den Koffern, aus den Verstecken hinter den Samtkissen und unter den Bänken über eine halbe Million Kronen in Valuten zutage, außerdem Juwelen und eine Unmenge von Rauchmaterialien. Der Witz, der in Budapest über den roten Soldaten kursierte, er sei wie ein Monatsrettich, bestätigte sich grausam an Béla Kun. Außen rot, innen weiß, so waren alle seine Truppen. Aber die noch so weiß gesinnten Grenzpolizisten konnten aus den kunstvoll präparierten, mit Hohlwänden und doppelten Böden versehenen Koffern, und noch weniger von den Frauen, die die Grenze bereits passiert hatten, mehr als 478000.– Kronen herausholen, die denn auch unbarmherzig beschlagnahmt wurden. Der neue Minister des Innern erhielt am nächsten Tag die polizeiliche Meldung von der Rettung eines Fünfzigstels des gestohlenen Vermögens und der Riesenladungen von Rauchmaterialien, die sich die Grenzpolizei mit dem Hinweis darauf, daß sie während der bolschewistischen Zeit sehr knapp mit Tabak versehen war, behalten zu dürfen, die Erlaubnis erbat. Die Zigaretten wurden auch tatsächlich unter den Grenzpolizisten aufgeteilt. Nur Béla Kun hielt noch besonders besorgt eine kleine Handtasche in der Hand, in der noch eine Menge Zigaretten geblieben waren, große Schachteln zu hundert Stück. Als der Zug aus der Grenzstation in den späten Vormittagsstunden rollte, und er sein gestohlenes Geld ohnedies schon vorher in Sicherheit gebracht hatte, rauchte er eine Zigarette nach der anderen, und in dem Augenblick, als einige Minuten später in Bruck die Österreicher den Zug bestiegen, zog er den Rauch bereits vergnügt in seiner Lunge auf und stieß erleichtert große Rauchwolken von sich.