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XXXVII.

Drei Nächte und zwei Tage brütete Béla Kun über die Antwort an Georges Clémenceau. In diesen Tagen hatte er nur einen einzigen Wunsch. Der journalistische Gernegroß, dem es aber nicht gelang, weder groß noch klein auf diesem Gebiet zu werden, hatte zu seiner Umgebung im Taumel seines diplomatischen Schwipses geäußert, sein Glück wäre jetzt vollkommen und er hätte nur noch den einzigen Wunsch, von seinem einstigen Budapester Chefredakteur empfangen zu werden. War es von ihm eine billige Pose, um jeden Preis interessant zu erscheinen oder wollte er eine Anekdote zur eigenen Biographie beisteuern? Der große Mann, während seine Truppen die fliehenden Tschechoslowaken verfolgen und er selbst mit Georges Clémenceau in Korrespondenz steht, sucht eine stille Stunde der Erinnerung und wünscht die Zusammenkunft mit einem schlichten, noch dazu durch ihn brotlos gewordenen Journalisten. War es keine Pose, so muß die Anekdote als Wertmesser angesehen werden, als ein unwiderlegbares Zeugnis dafür, daß er seine sogenannte historische Mission gar nicht ernst genommen hatte und sehr gut wußte, daß er ein Niemand war, bloß die häßliche Grimasse historischer Zufälligkeiten.

Die Zusammenkunft hatte stattgefunden. Durch seine Garde bewacht, fuhr er ins Haus des einstigen Chefs, der sich wohl schwerlich an die gemeinen Züge des großgewordenen Volontärs erinnern konnte und der sich zu dieser Unterredung terrorisiert fühlte. Die Terrorbuben mit ihren Handgranaten blieben vor dem Tore stehen. Béla Kun trat nur mit einigen Getreuen in das Haus und auf einen Blick ihres Gönners verschwanden auch sie, nachdem er sich noch im Beisein aller vor dem einstigen Chef tief verbeugt und höchst theatralisch einen mehr als devoten Kuß auf dessen Hand gedrückt hatte. »Heute hatte ich den schönsten Tag meines Lebens!« erzählte er später daheim im Sowjethaus.

Dann schrieb er erst seine Antwort an Clémenceau. Alte und erfahrene, richtige Diplomaten wurden zu Rate gezogen, um – wie er selbst sagte – nicht das zu tun, was diese vorschlugen, sondern nicht einmal das Gegenteil davon. Alpári, der Mephisto Kuns, war bei jeder Unterredung anwesend. Endlich, nach vielem Konzipieren, war das Schriftstück fertiggestellt, es war hohl, billig und armselig naiv. Dieselbe Hand, die in der Kolozsvárer Redaktion die »farbigen Notizen« geschrieben hatte, dieselbe Überzeugungslosigkeit, mit der er gleichzeitig revolutionäre Vorträge und nationalistische Abonnentenwerbungen entworfen hatte – wobei die rechte Hand immer wußte, was die linke tat, ohne sich dabei stören zu lassen – schrieb heute die Antwort an Clémenceau. Béla Kun vergaß nur das eine, daß er einen so erfahrenen Leser wohl noch nie gehabt hatte. Einem Manne, wie Herrn Clémenceau wollte er das alles erzählen!

Diese berühmte Note, in der sich Béla Kun als europäischer Diplomat aufspielte, lautete folgendermaßen:

 

»An Herrn Clemenceau, Vorsitzender des Friedenskongresses –

Paris.

Herr Präsident!

Ihr uns im Namen der verbündeten und vereinigten Mächte gesandtes Telegramm haben wir erhalten. Die Regierung der ungarischen Räterepublik gibt ihrer Freude darüber Ausdruck, daß die verbündeten und vereinigten Mächte beschlossen haben, allen nutzlosen Feindseligkeiten ein Ende zu machen. Wir erklären feierlich, daß unsere Regierung Sie bei der Durchführung dieses Vorsatzes mit allen Kräften unterstützen wird. Die ungarische Räterepublik, deren Volk die größte Revolution seiner Geschichte sozusagen unblutig durchführte, war und wird auch in der Folge niemals die Ursache eines zwecklosen Blutvergießens sein. Die ungarische Räterepublik ist nicht auf militärische Eroberungen, auf die Unterdrückung anderer Nationen eingestellt, denn ihre Absicht ist, jedwede Unterdrückung und Ausbeutung zu verhindern. Es ist unsere feste Überzeugung, daß nicht die momentanen Zufälligkeiten des Kriegsglücks, sondern die großen Interessen der Menschheit, die solidarischen und gemeinsamen Interessen der Arbeitenden die Grenzen der neuen Staaten bestimmen werden, solange bis die völkertrennenden Mauern fallen. Nichts steht uns, da wir unser Schicksal auf die brüderliche Solidarität aller Arbeitenden der Welt aufbauten, ferner, als das Bestreben, die Kriegsgreuel zu verlängern. Jede im Interesse des Friedens und der Gerechtigkeit erfolgte Verfügung wird eine feste Stütze an der Räterepublik der Arbeitenden Ungarns finden.

Ohne Bedenken, mit der vollsten Aufrichtigkeit und Offenheit erklärt die Regierung der ungarischen Räterepublik, daß sie der an sie gerichteten Aufforderung der Regierungen der verbündeten und vereinigten Mächte die Feindseligkeiten sofort einzustellen, nicht nur künftig entsprechen wird, sondern bereits im vollsten Umfange entsprochen hat. Nicht wir, sondern die Truppen der tschechoslowakischen Republik verursachten das weitere Blutvergießen, die den Umstand ausnutzten, daß wir über Aufforderung der Regierungen der verbündeten und vereinigten Mächte die Kriegsoperationen eingestellt haben und sofort zum Angriff übergingen, den wir nur durch unsere Gegenangriffe zurückschlagen konnten, um ihr weiteres Vordringen unmöglich zu machen. Daß nicht wir die Ursache des Blutvergießens waren, beweist die Tatsache, daß wir auf dem durch die Rumänen besetzten Gebiet um keinen Schritt vordrangen und nicht einmal einen Versuch nach dieser Richtung unternommen haben, eben weil die rumänische Armee keinen neuerlichen Angriff unternahm. Wir stellen jedoch fest, daß bei der heutigen Situation an der tschechoslowakischen Front, weder bezüglich der Möglichkeit einer Befehlserteilung, noch der der Durchführung, das Zurückziehen unserer Truppen und die Räumung der in Rede stehenden Gebiete in jener Zeit möglich sein wird, welche das Telegramm als letzten Termin vorsieht. Dies können wir um so weniger tun, als wir das Telegramm, obwohl es als besonders dringend bezeichnet wurde, erst am 15. Juni in den Mittagsstunden erhalten hatten. Um die Truppen ohne Blutvergießen zurückziehen und die Gebiete ohne Gewalttätigkeiten und Blut räumen zu können, wandten wir uns heute sowohl an die Regierung der tschechoslowakischen Republik, als auch die des Königreiches Rumänien bzw. an die bezüglichen Armeeoberkommandos, damit in unser Hauptquartier mit entsprechenden Vollmachten ausgestattete Militärpersonen als Parlamentäre entsandt werden, die berufen wären, mit unserem Armeeoberkommando einverständlich die Bedingungen der Räumung festzustellen.

Gleichzeitig müssen wir mit Bedauern feststellen, daß die verbündeten und vereinigten Mächte bisher keine Möglichkeit geboten haben, um die vitalen politischen und wirtschaftlichen Wünsche der Räterepublik unmittelbar anzuhören und uns auch die Landesgrenzen nur teilweise bekanntgegeben wurden. Im Voraus möchten wir konstatieren, daß die uns mitgeteilten Grenzen im Gegensatz zu jener Äußerung der verbündeten und vereinigten Regierungen, wonach die militärischen Eroberungen keine Grundlage für die Grenzen der neuen Staaten bilden können als bloß mit dem Rechte der Waffen festgestellte Grenzen erscheinen. Es erscheint ferner vollkommen unmöglich, innerhalb dieser Grenzen ein normales Wirtschaftsleben zu schaffen oder überhaupt zu produzieren, wie auch mit Rücksicht auf die heutige Lage der Weltwirtschaft und des internationalen Verkehrs, die Sicherheit der bloßen physischen Existenz der innerhalb dieser Grenzen lebenden Bevölkerung zu gewährleisten. Wir erwarten die Gelegenheit, um vor der Friedenskonferenz diese unsere Behauptung mittels Daten erhärten zu können.

Unter einem lenken wir Ihre geschätzte Aufmerksamkeit auf unsere in unserer früheren Note ausgesprochene Bitte, die Regierungen der Völker der ehemaligen Österreichisch-Ungarischen Monarchie zu einer Enquête einzuladen, um die Liquidation der ehemaligen Monarchie als gleichartig interessierte Parteien besprechen zu können. Da wir nicht auf dem Standpunkte der territorialen Integrität stehen, ganz abgesehen davon, daß ausschließlich durch Ungarn bewohnte Gebiete durch die uns mitgeteilten Grenzbestimmungen von unserer Räterepublik losgetrennt würden, wollen wir nur feststellen, daß unter solchen Bedingungen auch eine so festgegründete Regierungsmacht, wie die unserige, es kaum verhindern können wird, daß der Kampf ums Dasein innerhalb dieser Grenzen zu einem Kriege aller gegen alle ausartet.

Indem wir wiederholt erklären, daß wir unserseits nicht bloß jede offensive Kriegsoperation einstellen, sondern auch Verfügungen treffen, daß unseren Truppen befohlen werde, im Sinne dieses Aufrufes vorzugehen und zur Durchführung dieses Aufrufes die technischen Vorbereitungen zu treffen ersuchen wir Sie, dahin wirken zu wollen, daß unserem diesbezüglich an die Regierungen des Königreiches Rumänien und der Tschechoslowakischen Republik gerichteten Ansuchen entsprochen werde.

Wir bitten Sie, die genannten Regierungen zu veranlassen, sich behufs Durchführung Ihres Befehles mit uns auf die mitgeteilte Art unmittelbar in Verbindung zu setzen, und vor allem auch ihrerseits jedes zwecklose Blutvergießen zu vermeiden, ihre Angriffe zu unterlassen, wodurch sie nur die Greuel des Krieges verlängern.

Béla Kun,
Volkskommissär für auswärtige Angelegenheiten der ungarischen Räterepublik.«

 

Am 16. Juni 1919 drei Uhr nachmittags wurde die Note abgesendet. Béla Kun gefiel sich sehr in der europäischen Berühmtheit, die er sich von der Korrespondenz mit Clémenceau versprach und er wollte den genußreichen Becher bis zum letzten Tropfen auskosten. Gleichzeitig mit der Radiodepesche an Clémenceau sandte er eine Weisung an seinen Wiener Gesandten Czóbel, in der er ihm die Bedeutung der Note besonders eindringlich ans Herz legte:

»Die beiliegende und tieferstehend folgende Note überreichen Sie in dem von mir noch besonders zu bezeichnenden Zeitpunkt dem Wiener französischen Vertreter, Herrn Allizé, dem englischen Militärattaché Oberst Cunningham, dem italienischen Vertreter General Segré und Otto Bauer. Urgieren Sie besonders bei den Italienern, sie mögen bei den Tschechoslowaken Schritte unternehmen, damit diese die Feindseligkeiten im Interesse der Durchführung der Aufforderung der Entente sofort einstellen mögen und legen Sie ihnen in meinem Namen die bereits angeregte Idee der Konferenz wiederholt nahe. Teilen Sie mit, daß mit Rücksicht auf Jugoslawien es unser höchster Wunsch wäre, daß gelegentlich der von uns inaugurierten Konferenz mit den Nachbarstaaten italienischerseits präsidiert werden möge und auch bei den Grenzberichtigungen italienische Offiziere intervenieren mögen. Suchen Sie Verbindungen zu den Herren Tusar und Isopescul Grecul. Berichten Sie über die Note sehr vertraulich auch Herrn Otto Bauer und erkundigen Sie sich nach seiner Meinung über diese Angelegenheit. Nach der Überreichung der Note übergeben Sie dieselbe zur Veröffentlichung der Wiener Presse und sorgen Sie dafür, daß sie auch in den ausländischen Blättern veröffentlicht werde. Kun.«

Mitte Juni, im dritten Monate seiner Herrlichkeit, stand Béla Kun auf der Höhe seiner Karriere. Er ahnte nicht, daß das diplomatische Spiel, welches er so siegesbewußt begann, ein allzu böses Ende nehmen werde. Er ahnte nicht, daß er schließlich durch seine eigenen Methoden fallen würde und daß er in dem Augenblick, als er sich in das diplomatische Ecarté mit Clémenceau einließ, die Partie unrettbar verloren hatte.


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