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XLII.

Bei der letzten Unterredung mit Romanelli, unmittelbar nach der Gegenrevolution, als Béla Kun noch versuchte, vom hohen Roß herab zu sprechen und ihn nur das Knallen der Reitpeitsche zur Vernunft brachte, hatte sich außer des Notenwechsels zwischen dem bolschewistischen Diktator und dem italienischen Missionsführer eine stumme, aber vielsagende Unterredung der Augen abgespielt. Béla Kun konnte sich jetzt, angesichts des unwiderruflichen Sturzes daran erinnern, daß der italienische Oberstleutnant es gewesen war, der ihn schon vor Wochen, anläßlich der Gegenrevolution auf die tragischen Möglichkeiten aufmerksam gemacht hatte, auch daran, daß er die Unterredung damals mit einem resignierten Geständnis geschlossen hatte: »Herr Oberst, Sie mögen Recht haben, die Zeit ist vielleicht für den Bolschewismus noch nicht reif.«

Am letzten Tage, dem grausamen 1. August, war die italienische Mission besonders eifrig. Das ganze Interesse des ganzen Landes konzentrierte sich auf die paar Zimmer im Donauhotel, in denen Romanelli mit seinen Offizieren residierte. Romanelli ging noch nachmittags ins Sowjethaus, er bemühte sich, einen blutlosen Übergang zur Ordnung zu erwirken. Nach den bösen Erfahrungen der wiederholten Krisentage wollte er diesmal darauf achten, daß es Béla Kun nicht mehr gelingen sollte, durch einen neuen »Dreh« seine Herrschaft weiter zu fristen. Angesichts der sich stündlich verschlechternden Situation wollte er ihn dazu bewegen, ruhig abzudanken und die usurpierte Macht endlich aus der Hand zu geben. Es war am Nachmittag; das erstemal, daß man ohne besondere Formalitäten in das Sowjethaus gelangen konnte. Keine drohenden Handgranaten-Soldaten standen mehr im Wege, in der größten Unordnung drängte sich alles in der Halle zusammen.

Béla Kun erblickte Romanelli und sprach zu ihm in seinem, jetzt in jeder Beziehung gebrochenem Deutsch, mit einer vor Erregung zitternden Stimme:

»Gewiß, Herr Oberstleutnant. Der rote Terror ist jetzt zu Ende, es kann der weiße beginnen.«

Dann verschwand er gleich wieder in der Menge seiner erschrockenen Genossen, kam aber plötzlich zurück:

»Herr Oberst …« sagte er tonlos, wie ein Sterbender.

Aus seinem Antlitz schien jeder Blutstropfen zu weichen.

»Ich habe Ihnen etwas besonders Bedeutungsvolles mitzuteilen.«

Romanelli war äußerst gespannt, obzwar er ahnte, worum es sich handeln konnte, stellte er sich wißbegierig und hörte aufmerksam zu. Doch es bewegten sich kaum die Lippen Béla Kuns, Tränen brachen aus seinen Augen, er zitterte am ganzen Körper und konnte kein Wort hervorbringen, inartikulierte Laute drangen aus seiner Kehle, dann machte er eine resignierte Geste, die vieles bedeuten konnte. In dieser Geste lag sein vollkommenes Verzagen, aber doch noch gemischt mit dem letzten Schimmer einer unausgesprochenen, flehenden, schwachen Hoffnung. Er sprach nichts mehr, er warf sich ins Auto und fuhr zur entscheidenden Sitzung ins neue Rathaus.

Nach der Sitzung und nach der letzten Rede ist das Spiel unwiderruflich beendet gewesen.

Im Hotelzimmer wurde eifrig gepackt, Frau und Vater, Schwester und Schwägerin und Kind, alle waren sie beschäftigt, für eine Reise einzupacken, die im Augenblick noch die fragwürdigste Fahrt ihres Lebens war. Keine Frage des Woher und des Wohin, der Ausgangsstation und der Endstation; nur packen, was noch möglich war, einzustecken: viel Geld und Banknoten, Valuten und Juwelen, aber auch die Zigaretten durften nicht vergessen werden, Papierstücke mußten verschwinden, vieles versteckt werden, viele Arbeit gab es für eine Vorbereitung, deren Zeit so lebensgefährlich kurz bemessen war.

Béla Kun sandte einen Boten an Romanelli ins Hotel Ritz. Er wollte jetzt seine Großmut bei der Begnadigung der Gegenrevolutionäre einkassieren, wollte Leben um Leben fordern. Der Raubmörder vergaß alle seine Verbrechen, dachte nur an die Tat, die er jetzt anerkannt haben wollte. Oberstleutnant Romanelli hatte diese Botschaft nicht überrascht, er wartete bereits auf diese Bitte. Béla Kun bat Romanelli, er möchte durch die Wiener Mission Italiens Hilfe für die flüchtenden Bolschewiken, für ihn, für seine Getreuen und dessen Familien erwirken. Italien möchte durch seine Autorität in Wien ein Asylrecht und die Durchreise, die ach, so gefährliche und die noch viel gefährlichere im eigenen Lande, durch italienische Eskorten ermöglichen.

Romanelli bemühte sich, die Rettung der gestürzten Machthaber durchzusetzen. Binnen kurzem kam bereits die Antwort: »Italien steht auf dem Standpunkt der Menschlichkeit. Italien versteht vollkommen die Bitte der abgedankten Bolschewiken«, bloß in der Nuance gab es ein erschütterndes Detail, eine katastrophale Differenz. »Italien ist bereit, die Frauen und Kinder, die Angehörigen der gestürzten Bolschewiken unter seinen Schutz zu nehmen, diese können mit dem fahrplanmäßigen Zug der italienischen Mission um elf Uhr nachts abreisen, für die Sicherheit der Frauen und Kinder wird gesorgt.« Béla Kun erhielt spät abends die niederschmetternde Mitteilung. Was schert ihn Weib, was schert ihn Kind, es handelte sich ja um sein eigenes Leben! Er zitterte, ob ihm noch das Telephon zur Verfügung stand, ob die neue, aus Gewerkschaftlern zusammengesetzte Regierung, die trotz der darin vergessenen paar Bolschewiken, sich des Unterschieds halber Ministerium nannte, – aus war es mit dem Volkskommissariat – ihm die interurbane Telephonverbindung unmöglich machen konnte. Er ließ Wien anrufen. Der Wiener bolschewistische Gesandte meldete sich. Béla Kun sprach, dann schrie, dann brüllte, dann weinte, dann schluchzte er ins Telephon. Zu Ende war es mit der Herrlichkeit, verschwunden waren alle Posen, finità la commedia, das so tragikomische ständige Komödienspiel war endgültig beendet. Ein minderwertiger Mensch schlotterte am Apparat.

»– Ich flehe Sie an, Genosse, um Gottes willen, helfen Sie mir, mein Leben ist in Gefahr, nur Sie können helfen, einzig die österreichische Regierung ist imstande, mir beizustehen. Verschaffen Sie die Einreisebewilligung auch für Landler und Pór, sonst bleiben wir alle hier. Nur für uns und unsere Familien!«

Die Wiener Gesandtschaft begann mit Hochdruck zu arbeiten, die von Béla Kun so oft verschmähte österreichische Regierung mußte jetzt helfen. Die Sache ging nicht so einfach, wie Béla Kun sie sich vorgestellt hatte. Es mußte die Entente befragt werden; zu seinem Glück trat der englische Vertreter Cunningham energisch für die Erteilung eines Asylrechtes ein und diese Stellungnahme entschied das Schicksal Béla Kuns. Es wurde aber auch der Vertreter der Szegeder ungarischen Gegenregierung befragt. Die von Béla Kun verfolgten, am Leben bedrohten Gegenrevolutionäre konnten jetzt seinen Kopf verlangen. Doch Graf Stephan Bethlen, der Wiener Vertreter der Szegeder Gegenregierung hatte nichts dagegen einzuwenden, daß im Interesse der Ruhe und Ordnung und des unblutigen Überganges das Asylrecht den Gestürzten gewährt werden sollte. Béla Kun und seine Kumpane sollten gerettet werden. Die Liste, in der die zur Flucht Bereiten aufgezählt waren, wurde immer länger, neue und immer neue Namen kamen hinzu, das interurbane Telefon war ständig besetzt, denn in der Budapester Station saß die Verzweiflung selbst am Apparat.

Furchtbare Stunden einer lähmenden Ungewißheit durchlebte Béla Kun. Seine Frau und seine Tochter, seine Schwester und seine Schwägerin waren bereits um elf Uhr nachts abgereist. Es kam die Nachricht, daß an der Peripherie der Stadt das Auto, in dem die Frauen Béla Kuns und Josef Poganys saßen, von wütenden Arbeitern aufgehalten worden war, die die Sowjetfürstinnen erschlagen wollten und nur infolge des energischen Auftretens der italienischen Offiziere den Weg freigaben. Vor Béla Kuns blutunterlaufenen Augen spiegelten sich furchtbare Bilder einer unbestimmten Furcht; wie würde es erst ihm ergehen, wenn schon die Frauen aufgehalten worden waren.

Endlich, spät nach Mitternacht kam die erlösende Antwort. In Wien war ein Abkommen zwischen der Gesandtschaft Béla Kuns und dem Auswärtigen Amt zustande gekommen, das Asylrecht wurde gewährt. In Vertretung des beurlaubten österreichischen Gesandten in Budapest, Knobloch, erschien Legationsrat Hornbostl mit der erlösenden Antwort, ein Zug mit Béla Kun und weiteren acht namentlich genannten Bolschewiken dürfe die österreichische Grenze passieren. Anstatt Pässen, die in der Eile nicht mehr auszustellen waren, überreichte der Legationsrat ein einziges Schriftstück, das Béla Kun den Grenzübertritt ermöglichen sollte. Doch dies genügte Béla Kun nicht; er jammerte und flehte den Legationsrat an, er möchte, da die italienische Mission die Frauen begleitet hatte, sie persönlich begleiten und ihnen wenigstens bis zur Grenze schützend zur Seite stehen. Hornbostl mußte noch Wien fragen, Wien gestattete es und der elegante Legationsrat aus der alten Schule, Baron Hammer-Purgstall – was alles ein Diplomat erleben mußte – erhielt den Auftrag, seitens der österreichischen Gesandtschaft die flüchtenden Volkskommissäre zu begleiten und sie an der Grenze den Vertretern der österreichischen Regierung zu übergeben.

Vor dem Hotel standen bereits die Autos angekurbelt, eigentlich schon seit dem Nachmittag zur Fahrt bereit. Ins erste Auto stieg Béla Kun, zu ihm der dicke, asthmatische, bebrillte Armeeoberkommandant, Rechtsanwalt Dr. Eugen Landler, gegenüber saß Ernst Pór, der gefährlichste Propagandist, derselbe, der in der Glückseligkeit des ersten Tages mit Béla Kun gemeinsam das stolze Telegramm von der Verkündigung der Diktatur an Lenin abgesandt hatte. Dann folgten die anderen, zum Schluß das Auto der österreichischen Gesandtschaft.

In der stillen späten Nacht raste der gespenstische Zug flüchtender Verbrecher über die Franz Josefsbrücke nach Ofen, entlang des Blocksbergs auf die Fehérvárer Chaussee, nach der Vorstadtstation von Budapest, Kelenföld, wo inzwischen der nur aus einer Lokomotive und einem einzigen Pullmannwaggon I. Klasse bestehende Zug bereits unter Dampf stand. Béla Kun befürchtete, das Personal könnte unverläßlich sein, mit dem Zug könnte etwas geschehen, in seiner namenlosen Feigheit bat er den Legationsrat, zum Lokomotivführer zu gehen, das Personal des Zuges sollte wissen, daß außer den Volkskommissaren auch noch ein Diplomat im Zuge war. Dann, endlich, in der Nacht zum 2. August, fuhr der Zug aus der Station. Ein Sonderzug mit gemeinen Verbrechern rollte in die Nacht hinaus.

Die Terrorbuben verstreuten sich in den herrenlos gebliebenen Automobilen, die dunkle Nacht schützte die fliehenden Mörder. Béla Kun sank auf seinem Sitz in sich zusammen. Ein verprügelter Hund, eigentlich gehörte er ins Hundekupee.


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