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XVI.

Die Weltgeschichte wollte es anders. Die Weltgeschichte schnitt neue Grimassen.

Die Zersetzung in der Regierung, in der unhaltbaren Koalition von unfähigen Bürgerlichen und parlamentarisch erfahrungslosen Sozialdemokraten, schreitet unaufhaltsam weiter. Verbrecherische Streber stürzen nacheinander die Kriegsminister, demoralisieren die noch übriggebliebene Armee, es mangelt an Kohle, es fehlen die Lebensmittel, es droht die Gegenrevolution von rechts und zu alldem wird das Land durch die täglich weiter vordringenden feindlichen Truppen beunruhigt. Die Entente beeilt sich nicht im geringsten, die Regierung anzuerkennen und Ungarn zu einer Friedenskonferenz einzuladen.

In Budapest sitzt ein subalterner französischer Oberstleutnant, Colonel Vix, falsch beraten, vollkommen unorientiert, aber auch unfähig, große Probleme zu lösen. Er, ein italienischer und ein englischer Hauptmann, die jedoch nicht viel zu reden haben, bilden die einzige Verbindung mit dem Auslande. Die Situation ist unhaltbar, als am 20. März Colonel Vix eine Note des in Belgrad kommandierenden französischen Generals de Lobit überreicht. Die Note ist nicht ärger und nicht besser als alle Handlungen der Entente seit dem Zusammenbruch, ja vom rein strategischen und diplomatischen Standpunkte aus aufgefaßt, sogar günstiger, als es die bisherigen Stellungnahmen waren, da sie in erster Linie die Beruhigung der bedrohten Gebiete bezweckt. Es sollen an den Grenzlinien zwischen Ungarn und der Tschechoslovakei, Jugoslavien und Rumänien neutrale Demarkationslinien bestimmt werden und die ungarische Regierung wird aufgefordert, ihre Truppen binnen vierundzwanzig Stunden auf die bezeichneten Linien zurückzuziehen. Diese Linien entsprechen ungefähr der Grenzmarkierung des Trianoner Friedensvertrages, sie sind vernichtend, sie sind empörend, unhaltbar und für keinen Ungarn akzeptabel. Colonel Vix soll bei der Überreichung der Note seine Machtvollkommenheit überschritten haben, indem er erklärte, daß der oberste Rat diese Grenzlinien als endgültige politische Grenzen von Ungarn betrachte. Die Erklärung hätte nichts anderes bedeutet, als daß Ungarn auf eine kontradiktorische Friedensverhandlung verzichtete und ein Diktat angenommen hätte, welches das Land um zwei Drittel seines Territoriums beraubte. Die mit vierundzwanzig Stunden befristete Ententenote war unannehmbar.

Inter duos litigantes mußte selbstverständlich Béla Kun siegen. Und diesmal handelte es sich obendrein nicht einmal um zwei miteinander Streitende, sondern um eine Anarchie. Jeder gegen alle, Bürgerliche und Sozialdemokraten stehen gegeneinander und dazu noch das Ultimatum der Entente! Dieses Ultimatum bereitete dann den Streitigkeiten, die, wenn auch durch wertlose Kompromisse, doch hinauszuziehen gewesen wären, ein jähes Ende. Bis zum 21. März mußte die Antwort an Colonel Vix überreicht, in vierundzwanzig Stunden mußte also die Lösung erfolgt sein. Béla Kun hatte freilich seine Fühler bereits ausgestreckt. Erschrockene Sozialdemokraten, in ihrer Haltung mehr als unsichere Parteiführer, dann all die, die immer auf zwei Satteln reiten wollen, die Rechner und jene, die sich verrechnet hatten, standen schon während der vier Wochen der Gefangenschaft Béla Kuns mit ihm ständig in Verbindung. Die Politik dieses Monats – wenn man eine solche Leitung der Staatsgeschäfte Politik nennen kann und diese dreißig stürmischen Tage die Bezeichnung Monat verdienen – hat Béla Kun aus der Zelle des Gefängnisses zur Freiheit verholfen.

Am Vormittag des 21. März sausten die Regierungsautos vor dessen Toren an. Ein ganzer Park ministerieller und sonstiger Fahrzeuge wartete, bis die Konferenzen der erschrockenen Sozialdemokraten mit Béla Kun im Gefängnis ihr Ende nahmen. Béla Kun fand sich bald in die Situation hinein, er streckte sich behäbig auf den kahlen Sesseln seiner Zelle und konnte sich beglückt sagen:

»Also jetzt ist der Tag gekommen, jetzt werde ich es zeigen!«

Er gab nicht leicht nach. Stunden der Überredung, schwere Argumente hat es gekostet, bis er das beglückende »Ja« aussprach. Um ein Uhr mittags war er hungrig und wollte sich sein gutes, aus der Stadt bestelltes Mittagessen nicht stören lassen, um ein Uhr mittags war er so weit, daß er sich zu einer Vereinbarung mit der sozialdemokratischen Partei bereit erklärte. Er, der Gefangene, diktierte die Bedingungen, die Zelle ward zum Thronsaal der Majestät Regierung, wie es einst das kleine Arbeitszimmer eines Kaisers gewesen. Aus der Zelle sollte die neue Regierung hervorgehen. Das Beste daran war, daß Béla Kun wie unbeteiligt über und neben den Ereignissen stand. Die Ereignisse waren stärker als er. Der schmutzige Ball wurde hin- und hergeworfen und zur höchsten Macht emporgeschleudert.

Die Autos sausten mit glücklichen Insassen in die Stadt zurück und brachten die groteske Nachricht, daß der verhaftete Kommunist bereit war, nachmittags um drei Uhr die Abgesandten der sozialdemokratischen Partei zu empfangen und eine Einigung zwischen den beiden Parteien herbeizuführen. Die Kommunisten diktierten, die Sozialdemokraten nahmen die Diktate an. Es sollte sich bloß darum handeln, die kampflustigen Kommunisten zu besänftigen und das Zustandekommen einer rein sozialdemokratischen, von Károlyi morgen zu ernennenden Regierung zu ermöglichen. Béla Kun lächelte schlau. Er wußte schon: war er nur erst aus dem Gefängnis draußen, hatte er nur erst die Macht in den Händen, dann handelte es sich schon um viel mehr!

Es wird ein Dokument aufgesetzt, das Dokument der Einheit und Einigkeit, unterfertigt von fünf Sozialdemokraten, die noch vor vier Wochen den einstimmigen Beschluß über die Verhaftung der Kommunisten verfaßt haben, und von acht verhafteten Kommunisten, vor allem von Béla Kun. Das Dokument, die Grabschrift einer sonst lebensfähigen Arbeiterbewegung und um ein Haar die Grabschrift eines ganzen Landes, lautete:

»Beschluß.

Die ungarische sozialdemokratische und kommunistische Partei haben am heutigen Tage in einer gemeinsamen Sitzung der Parteileitungen die vollständige Vereinigung beider Parteien beschlossen.

Der Name der vereinigten neuen Partei wird, insolange die revolutionäre Internationale hierüber nicht entscheidet, ›Ungarische Sozialistische Partei‹ lauten.

Die Vereinigung erfolgt auf der Grundlage, daß beide Parteien an der Leitung der neuen Partei und der Regierungsmacht gemeinsam teilnehmen.

Die Partei übernimmt im Namen des Proletariats unverzüglich die gesamte Macht. Die Diktatur des Proletariats werden die Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte ausüben. Infolgedessen wird selbstredend der Plan der Neuwahlen in die Nationalversammlung fallen gelassen.

Es ist unverzüglich aus dem Stande des Proletariats das neue Militär zu organisieren, welches den Händen der Bourgeoisie die Waffen entreißt.

Zur Sicherung der Herrschaft des Proletariats und gegen den Imperialismus der Entente ist mit der russischen Sowjetregierung das innigste und vollkommenste geistige und Waffenbündnis abzuschließen.«

 

Die Einigung zwischen den beiden Parteien, niedergelegt in einem Dokument, das – stilvoller Weise – in einem Gefängnis datiert wurde – die Kontrahenten verprügelte Häftlinge – diese Einigung war da. Es war höchste Zeit. Béla Kun bemerkte nur so nebenbei – ob er die Wahrheit sprach, bleibt unermittelt – daß seine Gegenaktion bereits vorbereitet gewesen sei. Kommunistische Soldaten hätten den Plan seiner Befreiung schon ausgearbeitet gehabt und ihn am selben Tage aus dem Gefängnis befreit. Geschütze wären auf der Zitadelle des Blocksberges aufgestellt worden, die, falls es anders gekommen wäre, abends das Palais des Ministerpräsidiums bombardiert hätten …, lauter unbeweisbare Behauptungen einer Phantasie, die sich, selbst im Rausche des Sieges, in Lügen ausleben mußte.

»Ich werde es schon zeigen!« und er meinte damit die Falschmeldungen, die fingierten Radiodepeschen, die von nicht aufgestellten Antennen des Sammelgefängnisses empfangen worden sind.

»Ich werde es schon zeigen!«

»Truppen der roten Armee sind schon in Galizien, sie haben bereits die Bukowina gesäubert!«

»Czernowitz schon in unserem Besitze!«

So log er wild herum, jauchzend im unerwarteten Sieg. War er allein, dann lachte er vielleicht selbst von Herzen über das Schicksal, über die Zufälle, die ihn auf so unerwartete Weise aus dem Gefängnis befreit hatten, und über die ganze Welt, die um jeden Preis betrogen werden will.

»Mundus vult decipi, bitte schön, darüber läßt sich reden!«

Die Einigung ist bereits unterschrieben, der Soldatenrat, der Arbeiterrat, der Ministerrat und wie alle diese ratlosen Räte heißen, konferieren weiter. Dann läutet im Palais des Ministerpräsidiums das Telephon, Béla Kun meldet sich und erklärt in ziemlich barschem Tone, man habe scheinbar ihn ganz vergessen. Wenn er binnen einer Stunde nicht in Freiheit gesetzt wird, dann werde er es schon zeigen!

Die Antwortnote wurde um sechs Uhr abends dem französischen Oberstleutnant überreicht, der von der Abweisung des Ultimatums mehr überrascht, von der Wirkung seines unglücklichen Auftretens mehr erschrocken war, als die Regierung, der er die Lektion erteilen wollte.

Auf Befehl des Ministerrates fuhr der Oberstaatsanwalt höchstpersönlich in das Sammelgefängnis, um Béla Kun und seine Konsorten in den späten Nachtstunden zu befreien, wiewohl sonst die Gepflogenheit Vorschrift ist, daß die Häftlinge nur in den ersten Morgenstunden entlassen werden können. Der Oberstaatsanwalt hatte auf der langen Fahrt zu dem außerhalb der Stadt liegenden Sammelgefängnis Zeit, sich etwas Schönes für die Begrüßung Béla Kuns zurechtzulegen, und als er in die Zelle eintrat, begann er mit der Phrase:

»Ich begrüße die aufgehende rote Sonne!«

Béla Kun aber unterbricht sofort die servile Ansprache:

»Haben Sie ein Auto unten? Ja? dann schauen Sie, daß Sie mit der Elektrischen zurückfahren. Das Auto brauche ich, ich muß sofort ins Parteibureau!«

Sprichts und verläßt das Gefängnis, welches wohl zum erstenmal in der Weltgeschichte zum Schauplatz lebensentscheidender politischer Ereignisse geworden ist.

Blaß von der Gefängnisluft, rot nur von der Freude des plötzlichen Sieges, bestieg er das Auto, das er, seine Theorien ins Praktische umsetzend, gleich kommunisierte und, gefolgt von ein paar Komplizen, sauste er in dem mit Verbrechern vollgestopften Wagen der Stadt zu. Béla Kun fuhr an diesem unvergeßlichen Freitag, am 21. März 1919, von welchem Tage eine neue Schicksalsperiode eines unglückseligen Landes datieren konnte, seinem eigenen Schicksal entgegen. Dieses Auto überfuhr ein ganzes Land.


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