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Der französische Tiger hatte mit der kleinen bolschewistischen Ratte gespielt, wie die Katze mit der Maus. Clémenceau hatte Béla Kun in die Tasche gesteckt. Der alte Herr mochte wohl andere Sorgen gehabt haben, als sich gerade um ihn zu kümmern. Mit seinem ganzen Interesse, das bei ihm mit Haß gleichbedeutend war, stürzte er sich auf das große deutsche Problem. Die zu jener Zeit in Versailles abgehaltenen Verhandlungen interessierten ihn viel mehr, als die für ihn so winzig erscheinende Frage des tragischen ungarischen Schicksals, Clemenceau hatte weder Zeit noch Grund, sich für das blutig-rote Wunder in Budapest zu interessieren. Die paar Minuten, die er – auch sehr widerwillig – an Béla Kun verwendet hatte, genügten ihm aber, um die historische Grimasse, als die das furchtbare Treiben des kleinen bolschewistischen Winkeljournalisten ihm erschienen sein mußte, richtig zu erkennen. Unter seiner Hand erstarrte diese Grimasse, die Béla Kun hieß; ein Blick des alten Tigers hatte die Ratte betäubt.
Vom 13. Juni, dem Tage an, an welchem das erste Telegramm Clemenceaus an Béla Kun gelangte, handelte dieser wie unter der Hypnose einer magnetischen Kraft, die für ihn das nie geahnte Glück bedeutete, mit Clemenceau verhandeln zu können. Béla Kun beging, er war wie betrunken, nur noch Dummheiten. Er ging auf den Leim, den ihm Clemenceau vor die Füße gestrichen hatte: er blieb kleben! Trotzdem er auf seine rabulistische Note weder von der Entente noch von Clemenceau eine Antwort erhalten hatte, befahl er die Räumung der zurückeroberten nordungarischen Gebiete und ließ die rote Armee auf die vorgeschriebene Demarkationslinie zurückziehen. Nur kleine Streiche erlaubte er sich noch bei der Durchführung des Rückzuges. In Preßburg traf sein Abgesandter mit dem Vertreter der Entente zusammen, mit General Mittelhauser, und es wurden dort die Durchführungsbestimmungen der Räumung der besetzten Gebiete vereinbart. Diese verabredeten Vorschriften hat Béla Kun nicht eingehalten, immerhin ließ er den Rückzug anordnen.
Von diesem Tage an – es war der 17. Juni – datierte sein Untergang. Die Offensive gegen die Tschechoslowakei hatte nicht unbedeutende Erfolge erzielt, daher hatte der Rückzug, die Preisgabe dieser Erfolge durch Béla Kun auf das erste Wort Clemenceaus selbstverständlich Rückwirkungen auf die Armee ausgeübt: die Offiziere, die die Truppen zum Siege geführt und durch die Befreiung des Landes vom Feinde die Verwirklichung unausgesprochener Hoffnungen erreicht hatten, überschritten einfach die Grenzen, die Soldaten wiederum wurden, als sie einsahen, daß sie nichts anderes als blind benutztes Werkzeug in der Hand einer teils feigen, teils unschlüssigen Regierung waren, des ganzen Kriegsspieles müde und begannen zu desertieren, den Gehorsam zu verweigern, mit einem Worte: die Armee aufzulösen.
Wie raffiniert Béla Kun sonst war, so kindisch-naiv zeigte er sich in seinem Verhalten Clemenceau gegenüber. Auf das Kommandowort des französischen Ministerpräsidenten ließ er sofort Oberungarn evakuieren, da er fest daran glaubte, daß sich nunmehr auch die Rumänen hinter die vorgeschriebene Theiß-Linie zurückziehen würden, daß alles zur Ordnung kommen, seine Regierung zu den Friedensverhandlungen eingeladen würde und er sich dann mit seinem Freunde Clemenceau in persönlicher Unterredung finden werde. Die Rumänen aber dachten nicht daran, sich von der Theiß-Linie fortzubewegen, das reiche, fruchtbare Theißgebiet zu räumen. Es vergingen Tage und Wochen und sie blieben weiter in ihren früheren Stellungen. Béla Kun mußte mit Entsetzen feststellen, – wie merkwürdig, daß die Methoden der großen Diplomatie sich hie und da auch seiner Kniffe bedienten –, daß die Selbstverständlichkeit, wenn er sich nördlich hinter die Demarkationslinie zurückzog, die Rumänen an der östlichen Linie dasselbe tun müßten, nicht eintreten wollte.
Béla Kun sah sich betrogen. Zu den stets steigenden gegenrevolutionären Gefahren kam noch die diplomatische Blamage hinzu, die er von seinem Partner Clemenceau zugezogen hatte. Das Maß war bald voll. Eine Intervention des roten Oberkommandos beim französischen General Pellé, der das Kommando über die tschechoslowakischen Streitkräfte führte, blieb ohne Antwort, Béla Kun sah sich daher veranlaßt, selbst einzuschreiten und sich an Clemenceau, zu dem er sich durch einen Telegrammwechsel bereits in diplomatischer Beziehung hingezogen fühlte, zuwenden. Als sehr dringendes staatliches Radiotelegramm sandte er am 11. Juli 9 Uhr 15 Minuten an Clemenceau folgende Depesche:
»An Herrn Clemenceau, Vorsitzender der Friedenskonferenz, Paris.
»Herr Vorsitzender! Sie hatten mich in Ihrer Depesche vom 13. Juni versichert, daß, sobald unsere Truppen die für die Tschechoslowakei bestimmten Gebiete evakuiert und sich hinter die für die ungarische sozialistische Räterepublik vorgeschriebenen Grenzlinien zurückgezogen hätten, die rumänischen Truppen die gleichen Evakuierungsbewegungen durchführen und sich hinter jene Grenzen zurückziehen werden, deren Linie in Ihrer erwähnten Note detailliert bezeichnet worden war. Sowohl in meiner damaligen Antwort als auch in meiner späteren Depesche habe ich erklärt, daß die verbündete ungarische sozialistische Räterepublik beweisen will, daß sie gegen jedes überflüssige Blutvergießen ist und Ihrem Wunsche nachkommt, und zwar, wie es die Ereignisse zeigten, in zufriedenstellender Weise. Ich habe mein Wort gehalten. Gleichzeitig war ich so frei, Sie, Herr Vorsitzender, zu bitten, uns die nötigen Sicherheiten dafür zu geben, daß die königlich rumänischen Truppen die Verfügungen der alliierten und assoziierten Mächte durchführen werden, dies um so mehr, als auch ich Ihre Ansicht, daß die durch Waffengewalt eroberten Grenzen nicht aufrechterhalten werden können, geteilt habe. Nachdem ich keine konkreten Sicherheiten erhielt, habe ich in meinem letzten Telegramm erklärt, daß ich als subjektive Sicherheit Ihr Wort akzeptiere, da Sie mir doch versicherten, daß die rumänischen Truppen die östlich der Theiß liegenden, ganz ausgeplünderten und vernichteten Gebiete räumen werden. Ihre Abgesandten haben Sie, Herr Vorsitzender, sicherlich davon verständigt, daß unsere Truppen den Angriff gegen die tschechoslowakische Republik, der uns aufgezwungen wurde, eingestellt haben. Am 24. Juni zogen sie sich auf jene Linie zurück, die die mit Hilfe des Generals Pellé festgesetzte neutrale Zone begrenzt. Die königlich rumänischen Truppen hätten sich also den Verordnungen der alliierten und assoziierten Mächte fügen und hinter die in Ihrer Depesche vom 13. Juni festgesetzten Grenzen zurückziehen müssen, um dadurch den offensichtlichen Beweis ihrer Friedensliebe zu liefern. Entgegen Ihres Versprechens und Ihres Befehles haben die königlich rumänischen Truppen nicht nur die Räumung nicht durchgeführt, sondern bereits am 24. Juni an mehreren Stellen, u. a. bei Tiszalucz, den Fluß überschritten und neuerliche wütende Angriffe gegen uns unternommen, die selbstverständlich die Einheiten der roten Armee blutig abgewiesen haben. So sehr wir auch das Blutvergießen bedauern, haben wir es als unsere uns auch durch Ihr Wort auferlegte Pflicht erachtet, die rumänischen Truppen daran zu hindern, entgegen der formellen Vorschrift der alliierten und assoziierten Mächte größere Schlachten zu liefern. Wir wollen nicht detailliert jene Missetaten anführen, welche die rumänischen Truppen tagtäglich ausüben; es genügt wohl, wenn wir mitteilen, daß jene Verwüstungen, die Hindenburg in den besetzten nördlichen Gebieten Frankreichs vollführte, Oasen gleichen gegenüber jener Situation, in die die barbarischen Taten der rumänischen Truppen unser Land versetzten. Gestatten Sie mir, Herr Vorsitzender, zu fragen, ob Ihr und das Wort der alliierten und assoziierten Mächte stark genug ist, um die rumänischen Truppen zu bewegen, sich hinter jene Grenzlinien zurückzuziehen, die sie in Ihrer Depesche vom 13. Juni bezeichnet haben? Wir glauben, daß Sie über Gewaltmittel verfügen, durch die Sie das überflüssige Blutvergießen verhindern könnten, um so mehr, als sie Ihren Befehl an jene richten könnten, deren Friedenssehnsucht sich nicht so offenbar erwiesen hat wie die der ungarischen sozialistischen Sowjet-Räterepublik. Wir bitten Sie, Herr Vorsitzender, Ihren Willen und den Willen der alliierten und assoziierten Mächte, der mit dem Verhalten der königlich rumänischen Truppen im Widerspruch steht, geltend zu machen, ebenso, wie die ungarische sozialistische Räterepublik Ihrem Willen entsprochen hat, als sie sich damit einverstanden erklärte, den gegen die tschechoslowakische Republik siegreich geführten Krieg, der ihr aufgezwungen wurde, zu beenden. Wir bitten Sie, Ihre Befehle vom 13. Juli zu wiederholen, damit Ihr Wille auch von den alliierten und assoziierten Mächten in Ehren gehalten werde. Die ungarische sozialistische Räterepublik kann nur auf diese Weise ihre Nachgiebigkeit vor ihren Richtern rechtfertigen. Ich hoffe, daß die alliierten und assoziierten Mächte ihrem Willen und ihrer Autorität bei den rumänischen Truppen Geltung verschaffen werden.
Budapest, am 11. Juli 1919.
Béla Kun,
Volkskommissär des Auswärtigen.«
Himmlische diplomatische Sprache des kleinen Defraudanten der Klausenburger Krankenkassa, der Clemenceau an die Einhaltung seines Wortes erinnert: »da er keine konkreten Garantien erhielt, hat er das Wort Clemenceaus als subjektive Sicherheit empfunden«, köstlich der Ton der komischen Note, in der er den Gentleman spielt, Clemenceau sein Versprechen in Erinnerung bringt und ihn auffordert, dafür zu sorgen, daß die rumänischen Truppen den Wunsch der Entente erfüllen.
Auf das sehr dringende staatliche Telegramm erhielt Béla Kun zwei Tage später, am 13. Juli, ohne Unterschrift folgendes Radiotelegramm aus Paris:
»S. S. Paris I 13/7. Sehr dringend.
Béla Kun, Budapest.
In Beantwortung Ihrer Depesche, die Sie an unseren Vorsitzenden am 11. Juli gerichtet haben, erklärt die Friedenskonferenz, daß sie mit Ihnen so lange nicht verhandeln kann, solange Sie nicht die Bedingungen des Waffenstillstandsabkommens erfüllt haben.«
Wieder kein Herr und keine nähere Bezeichnung in der Adresse, das Telegramm trug nicht einmal eine Unterschrift. Béla Kun, der geborene Fälscher, war darüber im Zweifel, ob das Telegramm auch echt ist, er befürchtete, es könnte sich um ein gegenrevolutionäres Manöver handeln und das Telegramm könnte apokryph sein. Alpári wurde zu Rate gezogen, der Kabinettschef blinzelte unter seiner Brille schlau zu seinem Gönner empor und die beiden großen Diplomaten erfanden in den nächsten vierundzwanzig Stunden folgende geistvolle Antwort:
»S. S. Budapest – 145 56 14/7 11 Uhr 30 Vormittag.
Friedenskonferenz Paris.
Ich erhielt heute eine mit dem gestrigen Tage datierte Depesche, welche die Antwort auf mein Telegramm vom 11. ds. beinhaltet. Das Telegramm trägt keine Unterschrift. Ich habe die Ehre anzufragen, ob das Telegramm tatsächlich von der Friedenskonferenz abgesendet wurde?«
Auf dieses Telegramm kam, wie vorauszusehen war, keine Antwort. Was sollte Béla Kun nun beginnen? Wie sollte er noch einmal, zum wiederholten Male, ein neues Leben anfangen? Wie könnte er sich mit einer demolierten Armee, mit der diplomatischen Schlappe auf der immer enger werdenden Insel in dem Ozean des Hasses und der Verachtung weiter erhalten? Nur ein Krieg konnte helfen, eine Offensive, die teils aus innerpolitischen Gründen notwendig erschien, teils von außenpolitischen Gesichtspunkten aus neue Möglichkeiten eröffnete, vor allem aber die immer mehr wachsende Hungersnot lindern mußte. Diese Offensive war denn eigentlich eine Hungeroffensive: die Befreiung der üppigen Gebiete hinter der Theiß bis zur östlichen Demarkationslinie. Dazu kam daß knapp nach der Ernte die Verpflegung der hungernden Bevölkerung, wenn auch nur provisorisch, so doch in vollem Maße gesichert erschien. Und mit einem vollen Magen ließ es sich auch leichter regieren! Die Offensive der Verzweiflung gegen die Rumänen begann, der frühere Oberkommandant wurde abgesetzt, an seiner Stelle der alte Intimus Dr. Landler zum Oberkommandanten ernannt und auch der Generalstabschef wurde ausgetauscht.
Sechs Tage der Verzweiflung und des bangen Wartens auf eine Antwortdepesche aus Paris hatte Béla Kun durchgemacht, und nach den schlaflosen Nächten fiel der katastrophale Beschluß: »Auf zum Krieg gegen Rumänien!«
Die demoralisierten Truppen mit schlechter Ausrüstung und bei stets sich verschlimmernder Verpflegung begannen am 20. Juli die große Offensive. Der erste Angriff war nicht ohne Erfolg. In dunkler Nacht, im Nebel hatten die roten Truppen die Theiß beinahe ohne Kampf überschreiten können, denn die überraschten und auf einen Angriff gar nicht vorbereiteten Rumänen leisteten eigentlich kaum Widerstand. Die Kriegsberichte des ersten Tages brachten von der ganzen Front nur zuversichtliche Meldungen. Es schien, wenn auch nur für einen kurzen Tag, daß die Offensive im Osten von demselben Erfolg gekrönt sein werde, wie die Mai-Offensive gegen die Tschechen. Béla Kun war von einer ganz unbändigen Freude erfüllt. Im Übermut eines kritiklosen Dilettanten, der eigentlich keine Ahnung von der Wissenschaft jener schlauen Künste hatte, die kurz Politik genannt wurde, sandte er an Clemenceau folgende telegraphische Note:
»S. S. Budapest 237 55 21/7 1 Uhr 30 nachmittags.
An Herrn Clemenceau, Präsident der Friedenskonferenz in Paris.
Mit Rücksicht auf die Haltung der Rumänen, die mit der Außerachtlassung des Willens der Entente eine angreifende geworden ist, waren wir genötigt, die Theiß zu überschreiten und zu versuchen, dem Willen der Entente bei den Rumänen Geltung zu verschaffen.
Béla Kun,
Volkskommissär des Auswärtigen.«
Großartig ist die unerschrockene Lüge, mit der Béla Kun seine Offensive als Angriff der Rumänen darzustellen versuchte, noch großartiger aber der apachenhafte Versuch – noch ein Jugendkomplex aus dem Spielzimmer des Klausenburger Kaffeehauses –, der Entente einreden zu wollen, daß er, der kleine Kun, schon durchsetzen werde, was der Entente nicht gelungen war. Wiederum diese »Ich werde schon zeigen«-Grimasse.
Diese berühmte Depesche an Clemenceau, ohne Antwort geblieben, repräsentiert, wenn sie noch in den Archiven des Quai d'Orsay vorhanden sein sollte, nicht nur das letzte diplomatische Aktenstück Béla Kuns, sondern sicherlich auch die größte Kuriosität, die in den Archiven aller französischen Regierungen aufzufinden ist. In diesem Telegramm hatte sich Béla Kun zum letztenmal als Diplomat aufgespielt bis zur Bewußtlosigkeit, dieses Telegramm sollte seine Grabschrift werden.