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III.

Der Ér: ein seltsam träger Graben,
ein Sumpf, den Rohr und Schilf umstellen;
doch Kraszna, Samosch, Theiß und Donau
tragen zum Meere seine Wellen.

Wenn selbst der Skythengott herabstürzt,
ins Blut mir hundert Flüche schleichen,
tausend Maulwürfe Dämme türmen,
so werd' ich doch das Meer erreichen.

Ich will es, weil es trauriger Mut ist,
ich will das Wunder stolz verkünden:
Jemand kommt vom sumpfigen Ér,
um in den Ozean zu münden! Aus dem Gedichtsbuch »Blut und Gold« von Andreas von Ady. In der Übersetzung von Zoltán von Franyó. Das Gedicht heißt: »Vom Ér bis zum Ozean«.

Der dieses wundervolle Lied schrieb, hieß Andreas von Ady, ist der größte Lyriker Ungarns seit Petöfi, der Dichter der Jahrhundertwende, ein Prophet, der mit einer erschütternden Divination das Schicksal seines Landes und sein eigenes voraussah und verkündete. Sein Geburtsort Ad, der Stammsitz der Familie von Ady, seine Wohnstätte, Csucsa, sind heute in rumänischem Besitz. Er starb nach der Revolution, es wurde ihm vergönnt, nicht alle Katastrophen seines Vaterlandes zu erleben. Jung und glücklich, wenn auch seelisch und körperlich zermürbt, konnte er sterben, bevor er mit ansehen mußte, daß er in allem recht hatte. Es ist ihm erspart geblieben, zu erleben, was der kleine Béla Kohn, der »Kun Béla«, – wie man es ungarisch sagt, den Familiennamen vor dem Eigennamen – aus seinem Vaterland gemacht hat, der Sohn des jüdischen Dorfnotars aus Szilágycsehi, dem er, als er noch jung war, sogar Privatstunden gegeben hatte. Ady stand vor dem Abiturium, als Béla Kun ins Gymnasium einzog. Ady brauchte Geld und mußte sich als Hauslehrer fortbringen.

Sein wundervolles Gedicht deckt sich mit dem Schicksal des Dichters, der wahrhaftig vom Sumpfe des Ér ausging und im Ozean der Unsterblichkeit mündete. Béla Kun, der seinen Hauslehrer, den späteren großen Dichter, vergötterte, schien das Gedicht auf sich zu beziehen und deuten zu wollen: er kam gleichfalls vom sumpfigen Ér, er »wollte« es zwar auch ohne »traurigen« Mut und mündete gleichfalls in einem Ozean, jedoch in einem Ozean von Sümpfen. Wie oft muß der Jüngling dieses Gedicht vor sich hingemurmelt haben, dieses Gedicht des großen Landsmanns, des erst verkannten, dann vergötterten Dichters, in dessen Nähe er durch unerforschliche Fügung des Schicksals, durch Zufall, gelangen konnte; wie oft muß er mit diesen schönen Worten, mit dieser Hymne der Karriere sich Ambition, Lebenslust, Kampfgeist eingeflößt haben, denn, wenn er schon an nichts glaubte, da er doch an nichts richtig glauben konnte: an die Wahrheit dieser Zeilen glaubte er bestimmt.

Kein Gott, kein Glauben, kein Heimatsgefühl, keine Liebe zum Land, eine egozentrische Liebe zu sich selbst führte den Jungen in die Schule und bald aus der Schule heraus. Der Weg aus dem Dorf zur Schule führte immer durch Csucsa, das Dorf, in dem der um sieben Jahre ältere Dichter lebte. Die Siebenbürger Ungarn halten zusammen. Der große Dichter zeigte auch später ziemliches Interesse für den kleinen Jungen, der mit Neid und Bewunderung die rapid aufsteigende Karriere des jungen Mannes verfolgte, des Mannes, der aus einer altadeligen Familie stammte und mit der ganzen Schwere des alten ungarischen Blutes, nur durch seine eigene Kraft und durch die erschütterndsten Kämpfe eines ganz großen Genies hochkam.

An der Schwelle des neuen Jahrhunderts stand ein junger Mann da, der eigentlich nichts gelernt hatte, aber alles konnte. Ein junger Mann, der sich selbst eine eigene Moral zurechtlegte, eine eigene Auffassung über Liebe, Glauben, Gesellschaft, ein junger Mann mit Hemmungen wegen seines Aussehens und mit den Lücken seines Wissens, mit der Spannkraft einer stürmischen Unintelligenz, die durch unkontrollierte Lektüre unversehens plötzlich da ist. Eine furchtbare Mischung von Begabung und Nichtskönnen, von Arroganz und Halbbildung. Acht Gymnasialjahre in einer glücklichen, reichen, bezaubernden Stadt, Bekanntschaft mit einem jungen Mann, aus dem einmal ein Heros der neuen Literatur wird, acht Jahre mitten in dem Fluch der Heimat mit ihrer elenden einen Straße und mit ihrem engbegrenzten Horizont, dem um fünfzig Kreuzer gekauften falschen Namen und mit dem Wunsch: »Ich werde es schon zeigen«, »ich werde was werden« und »muß was werden«, mit dem Wunsch, die Zeit als die störende Hürde einer Steeplechase, die das Leben ist, aus dem Wege zu räumen, mit dem Wunsch, emporzukommen, mit dem Doktorat des Lebens, dem Diplom des Strebertums, mit der Berechtigung des Ellbogens.

Was kann aus so einem fehlgeratenen Jungen werden? Rechtsanwalt, wie es sich der alte Kohn stolz in seiner Dorfwirtshausstube vorstellt, um den Bauern zu erzählen, daß sein Sohn nach der Matura auf die Universität kommt, dort noch fünf Jahre Student, dann Doktor der Rechtswissenschaften wird, dann noch drei Jahre in der Stadt als Praktikant bei einem Rechtsanwalt bleibt, um dann endlich selbst ein großer Verteidiger zu werden? So viel Zeit hatte Béla Kun nicht. Das wäre schon zu viel. Es genügt ja die Matura, um nicht drei Jahre beim Militär dienen zu müssen, um das Recht zum freiwilligen, einjährigen Dienst zu erreichen. Das Leben ist die richtige Schule, das Leben wird es schon bringen, die alten Trottel – alt ist für so einen schon ein Dreißigjähriger – wissen doch nichts, sie ahnen nicht, was in dem soeben übersetzten Buche Marx' oder Lasalles steht. Eine neue Weltordnung muß kommen. Ein paar Phrasen, einige Brocken einer unsystematisch zusammengewürfelten Lektüre, ein paar fremde Ausdrücke, drohende Schlagworte unbekannter Weisheiten, das genügt schon fürs große Rennen des Lebens, und man schreit selbst noch dazu, läßt sich nicht niederschreien, lieber man schreit die anderen nieder und schon steht man mitten drin in der großen Politik.

Aus so einem Konglomerat von Dorferinnerungen, humanistischer Schule, sozialistischen Broschüren, halbvergessenen Reimfetzen neuer Verse kann nur ein Journalist werden. Béla Kun wird Journalist.


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