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Zu dem größten Schlage seiner hundertdreiunddreißigtägigen Herrschaft holte Béla Kun am 2. Mai aus. An diesem Tage gelang ihm der größte und eigentlich einzige Sieg. Eine einzige Rede hat das Wunder vollbracht. Wenn keine anderen Merkmale es bewiesen hätten, daß Béla Kun eigentlich eine Grimasse der Weltgeschichte war, eine häßliche, unvergeßliche und unverzeihliche Grimasse, dann wäre dieser eine Triumph genug Beweis dafür. Er, der kein guter Redner war, der über die primitivsten Vorbedingungen des Demagogentums eines gemeinen Volkstribuns nicht verfügte, der keine äußeren Mittel zur unmittelbaren Wirkung auf die Zuhörer besaß, vermochte mit einer verschlagenen, gut inszenierten Rede, mit betrügerisch angewendeten Argumenten die Arbeiter zu bewegen, zu den Waffen zu greifen, um ihr Leben für seine Herrschaft zu opfern. Die Ereignisse spielten weiter mit dem beschmutzten Gummiball, der Béla Kun hieß. Nicht Béla Kun mit der schweren Eisenhantel der Ereignisse. Nicht er ist über die Verhältnisse Sieger geworden, sondern diese brachten es mit sich, daß in dem gegebenen Augenblick gerade er und immer nur er siegen mußte.
Im gotischen Palais des neuen Rathauses, in der Waitzner Straße, wo noch vor ein paar Monaten friedliche Gemeinderatssitzungen stattfanden, wurde die entscheidende Vollversammlung, die große Sitzung der Arbeiterschaft oder, wie man sie nannte, die Sitzung der Arbeiter- und Soldatenräte, abgehalten. Vollbesetzte Bänke, überfüllte Galerien und eine Totenstille im Saale, aber auch eine außerhalb desselben, eine im ganzen Lande. Das Herz eines Landes stand still.
In der Stille der Todesangst und mit dem Katzenjammer des roten Ersten Mai saß der Rat der Fünfhundert beisammen. Béla Kun wußte, daß seine Existenz, ja sein Leben – um das es sich bei ihm immer in erster Linie handelte – von dem Erfolg seines Auftretens abhing. Über die tragische Bedeutung des Anlasses war er sich im klaren. Er übertrieb noch die dramatische Wirkung seines Kriminalstückes. Schwarz gekleidet, im Jackett – für den ewigen Provinzjournalisten war dieses Kleidungsstück immer noch das Festgewand – sprang er auf die Tribüne, auf das lange, breite Podium, auf dem früher der Bürgermeister und die Stadträte saßen und das jetzt mit Volkskommissären vollgepfropft war. Béla Kun begnügte sich nicht mit dem Platz des Redners in der Mitte des Podiums. Bevor er zu reden begann, schob er seine Kumpane rechts und links zurück – er schuf sich Platz. Béla Kun bedurfte zu seiner Rede fünf bis sechs Meter Raum. Er blieb nicht bei seinem Tisch stehen, er trat diesmal, wo es um alles ging, als Kulissenreißer auf. Der Schmierenkomödiant spielte endlich die Hauptrolle. Die Titelrolle.
Keine Ansprache, wie sonst. Keine »Genossen!« oder »Kameraden!« oder »Brüder!«, kein schwungvoller Anfang … Er beginnt so, als würde er laut vor sich hindenken, als würde er bloß ein Selbstgespräch führen. Die Genossen bewundern das auf- und ablaufende Phänomen auf der Tribüne, den sonderbaren Kerl, der so ganz anders ist als die anderen und so gar nicht faszinieren will. Er beginnt, als würde er eifrig nachdenken, um genaue Daten zu rekapitulieren:
»Maxim Gorkij«, fängt er ganz leise an, »schrieb einmal einen mir unvergeßlichen Artikel. Er fuhr nach der ersten politischen Revolution in Rußland, im Jahre 1906, nach Paris, in das heilige Land der Revolutionen. Er wollte dort den Geist der großen Revolution suchen. Er fand dort aber nur eine in eine Straßendirne verwandelte Kurtisane. Diese Kurtisane hatte sich der Macht ergeben. Ich wollte – schrieb Gorkij – meinen blutigen, eitrigen Speichel in das Gesicht dieser Dirne spucken. So schrieb Maxim Gorkij.«
Béla Kun auf dem Podium, in Gedanken versunken, nervös, fortwährend auf- und ab- – auf die Nerven – gehend, begann seine Rede, als wollte er die Erinnerung an diesen Gorkij-Artikel auffrischen. Dann aber blieb er plötzlich stehen und schrie in die Menge:
»Genossen! Wenn ich all die Gegenden, wo jetzt die Truppen des tschechischen und rumänischen Imperialismus gegen das proletarische Budapest marschieren, überblicke, fällt mir der Artikel Maxim Gorkijs ein. Flüchtende, feig weichende Truppen, ganz verkommene Horden sehe ich, die bloß plündern können, den Ereignissen aber, ohne sich deren Tragweite bewußt zu sein, hilflos gegenüberstehen; die Truppen ergeben sich, nicht den Rumänen, sondern der Lethargie und wir sind so weit angelangt, daß unsere eigenen plündernden Truppen die Hauptstadt gefährden … Militärisch ist die Lage die, daß Szolnok wahrscheinlich schon im Besitze der Rumänen ist. Wir haben auch dort die Brücke hinter uns gesprengt, aber unsere Truppen haben einen gut befestigten Brückenkopf, gut befestigte Schützengräben, die Genieoffiziere, Reserveoffiziere, Ingenieure gebaut haben, am südlichen Flügel verlassen und auch jene Bataillone mit sich gerissen, die bisher tapfer durchhielten. Die 1. und 5. Division – wenn wir, Genossen, von Divisionen sprechen, sind darunter nicht etwa große Truppeneinheiten gemeint – weichen betrunken gegen Budapest zurück. Wir sind gezwungen, sie zu entwaffnen, um wenigstens die Waffen für das Proletariat zu retten. In der Gegend von Miskolcz zeigen unsere Truppen noch einen gewissen Widerstand, aber in Miskolcz selbst sind, aller Wahrscheinlichkeit nach, heute Nachmittag die Tschechen bereits einmarschiert. Hie und da gibt es noch Truppen, die, getragen von dem Geiste des Proletariats, Widerstand leisten würden, aber die Mehrheit würde Budapest einem rumänischen Angriff gegenüber schutzlos ausliefern. Die Soldaten eignen sich nicht einmal mehr für die Verteidigung, geschweige denn für den Angriff!«
Nach dieser erschütternden Darstellung der hoffnungslosen Situation erklärte Béla Kun:
»Ich habe die Wahrheit, nur die Wahrheit gesagt. Ich halte es für ehrlos, das Proletariat anzulügen.«
Sonst aber hält er Lügen für erlaubt! Als er dann davon spricht, daß dem Arbeiter- und Soldatenrat zwei Vorschläge unterbreitet werden sollen, der eine, der die Übergabe der Macht verlangt, der andere, der den Kampf bis zum letzten Blutstropfen fordert, da erschallt ein Beifallsorkan, dem stürmischer Applaus folgt. Béla Kun springt auf einen Tisch und mit der größten Anspannung seiner klanglosen, kreischenden Stimme brüllt er:
»Nicht applaudieren! Mit Applaus werden wir den Kommunismus nicht verwirklichen. Den Kommunismus können wir nur mit Waffen und ausschließlich mit Waffen zum Siege führen!«
Dann sagt er, wieder auf- und abgehend:
»Ich bin nicht abergläubisch, ich muß jedoch sagen, daß ich fast wie in einem abergläubischen Gefühl von der Überzeugung durchdrungen bin, daß, wenn die Diktatur jetzt vernichtet werden kann, dies nur deshalb geschieht, weil sie das Proletariat zu wenig Blut gekostet hat. Die Diktatur, sie war sehr billig, umsonst hat man sie dem Proletariat gegeben. Hätte man sie erkämpfen müssen, wären unsere Gegner nicht so ehrlos gewesen, hätte es auch bei uns Noskes und Scheidemanns gegeben, hätten wir einen höheren Preis für die Diktatur zahlen, größere Opfer bringen müssen, in diesem Falle hätte sich sicherlich nicht das ereignen können, was jetzt geschieht. Daß in manchen Fabriken die Diktatur betrachtet wird, als würde sie den Arbeitern nichts bedeuten. Genossen! Ich sage Euch, solange eine Möglichkeit besteht, muß mit allen Kräften für die Aufrechterhaltung der Diktatur gekämpft werden. Der Kampf aber besteht in dem Abdrücken der Gewehre, in dem Angriff der Bajonette, in der Organisation, und nicht, Genossen! im Deklamieren und Applaudieren, in Beifallrufen und Beteuerungen! Jetzt will ich Euch, Genossen, in konkreter Form die außenpolitische Lage erklären: Nachdem der Rat der revolutionären Regierung erkannt hat, daß es keine Möglichkeit gibt, militärisch einen kräftigen und erfolgreichen Widerstand zu leisten, versuchte er, ein Gebiet zu retten, auf dem unsere Idee festen Fuß fassen könnte. Viel Gutes kann ich nicht prophezeien. Wenn die Entente uns vernichten will, wie es wahrscheinlich ihre Absicht ist – hier, wo sie leichteres Spiel hat als in Rußland –, soll sie es tun. In mir lebt noch immer die Hoffnung, daß es möglich ist, daß es gelingen wird, Frieden zu schließen; daß es sich ereignen kann, daß der Imperialismus, schwach und zerrüttet, mit uns Frieden schließt.«
Als er sieht, daß seine Worte auf fruchtbaren Boden fallen, fängt er an, die Defaitisten zu beschimpfen. Er vergißt dabei, daß er als größter Defaitist noch vorgestern um ein Asylrecht erregte Telefondebatten mit Wien führte. Aber er kritisiert mit strengen Worten die Feiglinge, die keine weiteren Opfer bringen wollen. Dagegen lobt er seine Anhänger, die »alten Marxisten«, die Budapest um jeden Preis verteidigen und die Diktatur, selbst wenn die Hauptstadt fällt, weiter aufrechterhalten wollen. Er erklärt sich bereit, sich auch in den Bakonyer Wald mit der Regierung zurückzuziehen und wenn sie selbst von dort vertrieben werde, bis nach Wiener Neustadt zu weichen, um nur nichts von der Macht zu opfern, nichts von der Diktatur des Proletariats preiszugeben.
»Auf die Macht dürfen wir nicht verzichten. Dieser Verzicht wäre eine Schmach, wäre ehrlos. Selbstmord wäre es nicht, denn das Proletariat kann sich niemals selbst ermorden. Ich sage Ihnen das eine: Budapest muß verteidigt werden, um jeden Preis, was immer es auch koste, weil auch die Arbeiterbewegung Ungarns, dieses ruhmreiche Blatt der internationalen Revolution des Proletariates, verteidigt werden muß. Die Frage ist nur, wie wir diese ungarische Arbeiterbewegung verteidigen sollen. Was ist Ihre Meinung und was könnten wir in dieser Beziehung tun? Was ist die Meinung des Budapester Arbeiterrates darüber, wie die Hauptstadt in der von mir skizzierten militärischen und außenpolitischen Lage für Sowjetungarn gerettet werden könnte?«
Der schlaue Diktator wollte erst die Stimmung der Arbeiterschaft auskundschaften. Er befürchtete die Möglichkeit eines Widerspruches von seiten der Arbeiterschaft. Er befürchtete, daß die Arbeiter auf einen Aufruf zum Sterben, auf eine Aufforderung, die Waffen zu ergreifen, ihm antworten könnten, daß auch er seine Haut auf den Markt tragen solle. Er rechnete damit, daß die Arbeiter nicht mehr mittun wollten. Seine Rede schloß er nun mit keinem flammenden Aufruf, sondern mit der bescheidenen Frage, wie in der verlorenen Situation die Diktatur des Proletariats zu retten wäre? Er, der so wenig mit dem Blute der anderen sparte, er, dem das Leben anderer so unsagbar billig war, war selbst zu feig dazu, zum Kampfe zu blasen. Die enflammierte Rede, die ganze kraß abgespielte Komödie, klang in der überraschend bescheidenen Frage aus, wie und auf welche Weise eine Rettung möglich wäre. Er dachte sich dabei, mögen nur die anderen das Blutopfer bringen, wenn alles gut geht, werde doch er triumphieren. Geht es aber schief – »dann werde man schon sehn!«
Der Armeeoberkommandant, der der Vertrauensmann der Gewerkschaften war, sagte klipp und klar, daß die Situation nur dann zu retten sei, wenn die organisierte Arbeiterschaft von Budapest sich binnen 24 Stunden ohne weitere Verhandlungen der Armee zur Verfügung stellen würde. Sonst sei alles verloren. Niemand getraute sich zu widersprechen, im Gegenteil, jeder überbot sich in der ernsten Beurteilung der ernsten Lage und in der aufopfernden Bereitwilligkeit, Blut und Leben dem bedrohten Regime zur Verfügung zu stellen.
Der Vertreter der Budapester Arbeiterbataillone verkündete, während die Spannung wie beim zweiten Aktschluß eines erschütternden Dramas aufs höchste stieg, das Resultat:
»Während Sie hier gesprochen haben, habe ich bereits gehandelt. Ich habe für morgen früh achtzehn Arbeiterbataillone mobilisiert. Alle anwesenden Mitglieder dieser Bataillone fordere ich auf, sofort in die Kasernen zu gehen, sich an die Spitze der Truppen zu stellen und an die Front zu marschieren.«
Ein besonders blutrünstiger Kommunist, Béla Kuns Genosse, Surek, forderte, mitten in der Debatte, die Ermordung sämtlicher Bourgeois, die als Geiseln in den Gefängnissen saßen.
Béla Kun hatte das Schlußwort:
»Ich frage, ob es notwendig ist, daß wir jetzt die Geiseln, alle unsere politischen Gefangenen, ermorden. Ich antworte mit einem Nein auf diese Frage, weil derjenige, der jetzt im Inneren des Landes einen Massenmord begehen will, anstatt ihn an der Front zu besorgen, damit verrät, daß er bereits auf die Macht der Diktatur verzichtet hat. Ich aber, ich kann und ich will nicht verzichten. Ich will auf keinen Fall darauf verzichten, Budapest, dieses Sowjet-Budapest, zu schützen. Nur dann könnte man sprechen, wie es Genosse Surek tat, wenn wir uns sagen müßten: Hinter uns die Sündflut. Genossen! Ich bitte Sie nochmals, folgendes zu berücksichtigen. Es sind genug Lebensmittel vorhanden, die rumänische Armee besteht aus einem Gesindel. Daß wir ihm keinen Widerstand leisten könnten, ist eine infame Lüge. Wir müssen und können gegen das rumänische Heer kämpfen. Wir können Sowjet-Ungarn verteidigen, wir können uns auch einen anständigen, einen von unserem Gesichtspunkte aus anständigen Frieden sichern. Ich schließe meinen Aufruf mit den Worten: Auf zu den Waffen! Jedermann kann morgen früh aus den Zeitungen ersehen, was er zu tun hat. Alle waffenfähigen Männer zu den Waffen, zum Schutze Budapests und Sowjet-Ungarns!«
Der Applaus, der den Schlußworten Béla Kuns folgte, hatte das momentane Schicksal Béla Kuns entschieden. Die Komplizen auf der Rednertribüne, alle schon zur Flucht bereit, gestern noch Selbstmord- oder Galgenkandidaten, beglückwünschten ihn zu dem entscheidenden Sieg. Er warf sich in sein Auto und fuhr ins Sowjethaus. Es gelang ihm, die Sozialdemokraten, die nichts mehr von ihm wissen wollten, wieder zu gewinnen, es gelang ihm, seine Macht nicht mehr auf die Bajonette einer unzuverläßlichen Truppe, sondern auf die immerhin imponierende Kraft der gesamten Arbeiterschaft zu stellen. »Béla, das hast du gut gemacht«, sagte sich der Abenteurer und wandte sich vergnügt der Diplomatie zu, die er in den Aufregungen der letzten Tage ganz außer acht gelassen hatte. Er war nämlich, außer der Betrüger der Arbeiterschaft, Minister des Äußeren.