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XLV.

Die schöne Nacht in der ruhigen Zelle war vorüber. Béla Kun, in einer Situation, in der er nichts unmittelbar drohendes zu fürchten hatte, wurde wieder froh. In seiner Minderwertigkeit besaß er doch ein gewisses Talent dazu, sich seine Lage so zurechtzulegen, wie sie ihm am angenehmsten war und am aussichtsreichsten erschien. Aus den Kleinigkeiten der betonten Höflichkeit der Polizei, aus der Freiheit, die ihm gewährt wurde, aus dem Ton seiner Behandlung folgerte er, und nicht mit Unrecht, die Schwäche der österreichischen Regierung, die er denn auch majestätisch ausnützte. Verschiedene Vorschläge bezüglich seiner Internierung, die eigentlich zwischen seiner Gesandtschaft und dem Auswärtigen Amt protokollarisch festgelegt waren, wies er entrüstet zurück. Er wollte – der Dummkopf – am liebsten auf die ungarische Gesandtschaft. Er hoffte noch … Er mußte aber so rasch als möglich fort aus Wien. Er kam zunächst in das Waldviertel in die Heidlmühle bei Raabs. Unter starker Bewachung von Kriminalbeamten und Polizei sollte er dort die endgültige Festsetzung des Internierungsortes abwarten.

Es wurden sozusagen »Verhandlungen« mit ihm geführt, Regierung, Polizeidirektion und Béla Kun waren in ständigem Kontakt, es wurde energisch debattiert, bis der Zufluchtsort endlich bestimmt war. Béla Kun erkundigte sich sorgfältig nach der Lage des Asyls, nach den Vorsichtsmaßnahmen, selbst die politische Einstellung der Bevölkerung interessierte ihn. Alles wollte er wissen, bevor er seine Zustimmung erteilte. Nach langem Hin und Her einigte man sich auf das Schloß des Grafen van der Straaten in Oberösterreich, unweit von der tschechoslovakischen Grenze, auf Karlstein bei Waidhofen an der Thaya. Es war ein ziemlich großes Schloß, verhältnismäßig gut eingerichtet. Während des Krieges diente es zur Unterbringung höherer russischer Offiziere, als besseres Gefangenenlager also. Béla Kun besprach detailliert die Art und Weise, wie wenn möglich per Auto und wenn es nur irgend ging, unter dem Schutze der Dunkelheit – der Abtransport erfolgen sollte. Die Familienangehörigen durften auf Wunsch die Reise ins Ausland antreten, das damalige Italien, ziemlich links orientiert, erteilte einigen von ihnen das Asylrecht. Béla Kuns Gattin Irene brachte in Bologna den Stammhalter des großen Mannes, den jungen Kun, zur Welt, der Miklos genannt wurde. In Karlstein erhielt Béla Kun die beglückende Mitteilung, daß der Bedarf der Welt an weiteren Kuns für die nächste Zeit gedeckt war.

Panische Furcht bemächtigte sich der ganzen Gesellschaft, als sie erfuhr, daß in Budapest die gewerkschaftlich-sozialdemokratische Regierung gestürzt wurde und die Verfolgung der Bolschewiken mit voller Schärfe eingesetzt hatte. Sie befürchtete ein Auslieferungsverfahren, sie bangte vor Angriffen, sie zitterte um ihr Leben. Der Berichterstatter einer Budapester Zeitung, der sich nach Karlstein wagte, um die Volkskommissäre zu besuchen und zu interviewen, fand einen aufgewühlten Ameisenhaufen, vor Zukunftssorgen kopflos gewordene rote Ameisen einer entfesselten politischen Welt liefen verstört umher. Der Journalist wurde mehr ausgefragt, als ihm erzählt wurde. Béla Kun brach nach den aufregenden Ereignissen zusammen, wurde ganz still. Nur der Napoleon seiner Armee, Josef Pogány, stand noch immer auf einem Hügel des Karlsteiner Parks, noch immer in Generalsuniform und verbarg drei Finger seiner Rechten zwischen den Knöpfen des Soldatenrocks, oder posierte mit auf der Brust verschränkten Armen den abgesetzten Feldmarschall.

Sie lungerten im Park umher, es entstanden bereits Affären, einige, die weniger Geld mitgebracht hatten, schimpften über Béla Kun, der mehr als sie bei sich versteckt hatte; das enge Zusammensein der einander immer übler erscheinenden Freunde wurde immer unerträglicher. Die meiste Zeit verbrachten sie im Garten, wie durch die Ausguckposten der Kriegsschiffe, starrten sie immer wieder ins Weite, fürchteten sich vor Aeroplanen, die mit Bomben beladen aus Ungarn kommen konnten, um sie zu vernichten. Das schlechte Gewissen, das eigene Schuldbewußtsein malte in ihrer Phantasie furchtbare Möglichkeiten aus. Sie wurden täglich kleinmütiger, vor allem verließ Béla Kun seine Zuversicht. Es paßte ihm die allzu große Nähe Ungarns nicht und auch das merkwürdige Verhalten Rußlands, der Umstand, daß seine Auslieferung dorthin noch immer nicht erledigt war, machte ihm große Sorgen, er befürchtete, er habe es sich am Ende mit Rußland ganz verscherzt und er könnte nicht als Triumphator nach der immerhin bedeutungsvollen bolschewistischen Leistung ins rote Himmelreich einziehen.

Béla Kun fand nirgends Ruhe. In Karlstein blieb er nur bis Februar. Er beschwerte sich wiederholt über den ungesunden Aufenthalt im Schloßgebäude. Eine kommissionelle Besichtigung Karlsteins mußte vorgenommen werden. Das Ergebnis: Béla Kun wurde »wegen seines angegriffenen Gesundheitszustandes« in das öffentliche Krankenhaus in Stockerau bei Wien abgegeben. Hier wollten ihn Kommunisten befreien. Er mußte aus dem Spital fort und noch bevor er nach elf Monaten Internierung in Österreich, am 15. Juli 1920 nach Rußland abreisen konnte, wechselte er noch einmal seinen Aufenthaltsort. Eines Tages, schon im Frühjahr 1920, wurden Bonbons für Béla Kun abgegeben. Angeblich hatten Wiener Gesinnungsgenossen Béla Kun mit diesem Geschenk überraschen wollen. Béla Kun stürzte sich auf die lang entbehrte Näscherei, stopfte sich mit Schokoladeplätzchen voll. Das große Problem blieb ungelöst, ob die Bonbons vergiftet waren und tatsächlich von Feinden der Bolschewiken zu ihm geschmuggelt worden waren, oder ob sich Béla Kun einfach überfressen hatte. Wie unangenehm diese Lücke in der pragmatischen Geschichtsforschung auch erscheinen mag, sie bleibt ewig offen. Tatsache ist, daß Béla Kun sich in erschrockenen Eingaben an die österreichische Regierung für krank erklärte, die Schutzmaßnahmen für seine Sicherheit für zu gering erachtete und sich wegen ständiger Bedrohung seines Lebens beklagte. Er stellte sich krank, das arme Opfer war vergiftet worden. Er wurde untersucht, der ärztliche Befund stellte wieder gewisse Verstimmungen des Magens unzweifelhaft fest. Béla Kuns Aufenthalt in Österreich verursachte den Behörden immer mehr Kopfzerbrechen, Verhandlungen, ein ewiges Hin und Her, die russische Antwort läßt lange auf sich warten. Zum Schluß mußte für Béla Kun ein dritter Aufenthaltsort ausfindig gemacht werden: die Irrenanstalt am Steinhof. Ein gar nicht geistloser Polizeibeamter kam auf die Idee, es war die einzige Lösung. Wenn Karlstein Béla Kun nicht entsprach, wenn Stockerau nicht sicher genug war, und ein Gefängnis dem früheren Herrn Volkskommissär nicht zugemutet werden konnte, blieb eben nichts anderes übrig, als zwischen Spital und Gefängnis die Irrenanstalt zu wählen.

Das Steinhofer Irrenhaus, eine kleine Stadt für sich, mit weitausgedehnten Gebäudekomplexen auf hügeligem, schattigem Gelände, hatte ein ziemlich großes Personal und auch gewisse Pavillons, die unter polizeilicher Aufsicht standen, da zwischen ihren Wänden eigentlich Sträflinge, die durch irgendeinen psychischen Defekt der strafrechtlichen Verfolgung entgangen waren, beherbergt wurden. Béla Kun, der Ehrengast der Gefängnisse, kam unter die Paralytiker, die Maniaker, stille und tobsüchtige Irre, unter solche, die die verschiedensten Wahnideen hatten und wo es auch solche gab, die sich einbildeten, sie wären der Kaiser von China. Jetzt war Béla Kun eigentlich noch viel mehr, als früher im Gefängnis, am richtigen Ort. Der richtige Irre der Weltrevolution – endlich! – am richtigsten Platz.


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