Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
An der Ecke der Wesselényiutca und Széputca, einer versteckten kleinen Gasse hinter den großen Straßen Klausenburgs, still, vielmehr öde, lag das Papiergeschäft Ujhelyi & Co. Der Eingang in die Papierhandlung mit schöner Auslage voll grellfarbiger Öldrucke lag einige Stufen hoch. Wenn ein vereinzelter Käufer eintreten wollte, klingelte eine über der Tür angebrachte Glocke. Sie mußte schon scharfe Töne von sich geben, da Herr Ujhelyi, so ein Pflasterjude, Besitzer des Ladens, viel weniger Interesse für das Papiergeschäft als Leidenschaft für seine Zeitung aufbrachte, die »Kolozsv ári Friss Ujság«, das streng oppositionelle Einkreuzerorgan, das in seinem Verlag erschien und im rückwärtigen Trakt des Hauses redigiert und gedruckt wurde. Zu jener Zeit durften wohl in Kolozsvár, heute rumänisch Cluj genannt, etwa fünfzigtausend Einwohner ansässig gewesen sein, echte Ungarn, nur in der Umgebung lebten Rumänen. Das Blatt erschien in der immensen Auflage von 10-12 000 Exemplaren, mit einer unerhörten Primitivität geschrieben und gedruckt für das ungarische Landvolk, welches a priori auf die Fahne des in Turin lebenden großen Patrioten Kossuth schwor und auf die Partei, die sich unter dem Namen des großen Emigranten als Opposition gegen die zentralistischen Wiener Absichten bildete.
Glückliche Zeiten sumpfigen, tiefsten Friedens, alle Kämpfe, unblutig, jedoch bis zur Erschöpfung, werden in den Spalten der kleinen Kreuzer-Provinzblätter ausgefochten. Tief ins Herz wird gezielt, aber keiner verletzt, die Kämpfer können kein Blut sehen. Keine Rotationsmaschine donnert am Hof, bloß eine einzige bescheidene Flachpresse, auf welcher auch die Drucksorten für die Geschäfte, für die spärlichen Fabrikbetriebe und die landwirtschaftlichen Büros verfertigt werden, druckt in den Nachtstunden die Zeitung. Eine ökonomische Notwendigkeit eigentlich, um die Setzer und die Maschinen, die sonst in der Nacht nichts zu tun hätten, nutzbringend zu beschäftigen.
Aus der kleinen Nebengasse führt das große Tor, die Wageneinfahrt, in den Hof, wo das Zeitungspapier aufgestapelt herumliegt. Große Akazienbäume werfen ihre Schatten auf die Papierballen und mischen in den Papier- und Farbenduft ihr süßes Parfüm …
Die »Times« riechen bestimmt schlechter, als die »Kolozsvári Friss Ujság«, denn Akazienbäume stehen vor den Fenstern der Druckerei der »Times« bestimmt nicht. So süßes Aroma haben nur kleine Provinzzeitungen.
Ein gedrungener junger Mann, früh verfettet, in fleckigem blauen Anzug, mit roter Lavallière-Krawatte, vernachlässigt, verschmutzt, mit großem Schlapphut, ewig mit Zeitungen unter dem Arm, mit Büchern und Pamphlets vollbeladen, auch die Taschen vollgestopft, verschwindet täglich unter dem großen Haustor, welches zur Redaktion führt. Die Redaktion besteht nur aus wenigen Mitarbeitern. Der Chefredakteur Herr Jacoby ist ein großer Herr, er dürfte hundert Gulden Monatsgage haben, er ist verliebt in die Primadonna des Theaters, hat einen Stammsitz im Kaffeehaus, trägt nur in Budapest gemachte Anzüge und einen ewigen Zylinder. Das ganze Blatt macht eigentlich Herr Müller, der Angesehenste von allen, er spricht auch deutsch, kann daher die »Neue Freie Presse« und, da er auch etwas französisch versteht, hie und da die französischen Blätter übersetzen, um die Nachrichten dann als Originaltelegramme zu präsentieren. Es sind auch junge Volontäre da, mit dem Riesengehalt von zehn bis zwanzig Gulden im Monat, lauter junge Leute, die ihren Beruf verfehlt haben; alle mit einem Tick in irgendeinem Organ, meistens ist es das Hirn, seltener das Herz; eine kleine Liebe zu irgendeinem Chorstar, ein Gedicht in der Schulbank, eine mißratene Prüfung in der Schule, ein Schulaufsatz, der eher einem Feuilleton gleichsah – es genügte, um diese jungen Leute aus ihrer Bahn zu schleudern und für immer hier stranden zu lassen. Eine Glaswand trennt die zwei Zimmer. Achtung genießt eigentlich nur der Herr Chefredakteur; dem schuldet der Herausgeber – ihn ärgern sie mit dem Spitznamen »Maike« – einige tausend Gulden, ein Vermögen, das genügt, um den Herrn Chefredakteur ewig in seiner Stellung zu belassen. Es wird mehr politisiert als gearbeitet, es wird mehr »geschmust« als gehandelt, die Schere ist der beste Mitarbeiter – und das Blatt will ja eigentlich auch keine Aufregungen bringen.
In so eine Redaktion tritt man nicht ein, in ein solches Unternehmen wird man nicht aufgenommen, bei so einem Blatt ist man auf einmal da. Niemand ruft einen, es gibt auch keinen, der einen abweist. Man kommt, setzt sich, wenn ein Sessel frei wird, man ist da, nimmt sich Manuskriptpapier, spitzt einen Bleistift und beginnt zu schreiben. Was und worüber, ist ganz gleichgültig, gezahlt wird ohnehin nicht, und wenn auch, so höchstens ein Gehalt, das nicht einmal fürs Kaffeehaus reicht, fürs gesellige Zusammensein im Kaffee New-York am großen Marktplatz, aus dessen Fenstern man den großen Dom, die schöne Statue des Königs Matthias Corvinus und das Barockpalais der Grafen Bánffy sehen kann, – wo das ganze Leben sich abspielt.
Béla Kun befreundet sich im Kaffeehaus mit Redakteur Müller und kommt als Besuch des nächtlichen Kaffeehausgenossen schon um fünf Uhr nachmittags ins Bureau. Er wird gerne gesehen. Er erzählt Soldatengeschichten aus einem unerschöpflichen Anekdotenmagazin der einstigen k. u. k. Armee, aus der Dienstzeit beim 21. kön. ung. Honvéd-Regiment, erzählt tapfere Manövererinnerungen, gebärdet sich als strategische Autorität, ein Tauglicher unter den Untauglichen, ein Soldat unter den Zivilisten. Er ist stolz – auf was soll er sonst stolz sein? – auf sein Judentum, denn es bleibt ihm ja auch nichts anderes übrig. »Unsere sechstausendjährige Kultur«, schreit er Herrn v. Szász an, der als Enkel eines kalvinistischen Bischofs sich als leidenschaftlicher Antisemit kundgibt. Der Antisemitismus in der Debatte bringt ihm die Jahre des »kleinen Kohn« in Erinnerung, die Atmosphäre der Schule, die Debatten provozieren einen Widerstand, und den leistet Béla Kun heftig und energisch, der Ungläubige, der niemals Fromme, der, seit er das Elternhaus verließ, auch mit allen Traditionen der frommen Juden gebrochen hat, wird lieber offensiv Jude, nur um in der Debatte nicht zu unterliegen.
Herr Redakteur Müller sieht ihn gerne im Bureau, fragt nicht, woher er kommt, ist auf sein Vorleben nicht neugierig, was kümmert ihn seine Befähigung, was geht es ihn an, ob Kun etwas gelernt hat oder nicht. Er soll nebenbei Universitätshörer sein … Es gefällt ihm der laute Junge, der ihm im Kaffeehaus beim Spiel kiebitzt, ihn in der Nacht nach Hause begleitet, der mit ihm, vor dem verschlossenen Haustor auf- und abgehend, den Sonnenaufgang erwartet, es macht ihm Spaß, er hat einen Sekretär, es ist ein junger Mann, der ganz geschickt schreibt, der hie und da Ideen hat, und wenn er auch keine hat, so schreibt er doch einen Artikel im Handumdrehen, so daß es sich Herr Müller erlauben kann, öfters ins Theater, früher ins Kaffeehaus zu gehen und später von seiner Kartenpartie zu kommen. Der ambitionierte Junge geht auch in die Druckerei, hilft beim Umbruch, bringt Nachrichten von der Konkurrenz, mit einem Wort, er würde fehlen, wenn er nicht da wäre.
»Wer ist dieser Fremde bei uns?« fragt tief besorgt, denn er fürchtet um die Bilanz seines Unternehmens, der Herausgeber Maike. »Schreibt er für uns? Ich zahle ihm nichts!«
»Kusch, Maike!« wird der Herausgeber angebrüllt, »er ist mein Freund, und das genügt.«
Der Herr Chefredakteur kommt auch dazu. Der unerhörte Umstand, daß Herr Maike sich wieder in die internsten Angelegenheiten der Redaktion mischen will, wird heftig besprochen. Er will diesen brauchbaren jungen Mann verscheuchen, er ist doch so nett, bringt sogar Nachrichten, kennt genau die Auflagenziffer der Konkurrenzblätter, hat einen Vertrag mit fixem Gehalt zum »Ujság«, könnte auch zum »Ellenzék« gehen, wäre auch bei »Elõre« gerne gesehen – und arbeitet aus purer Freundschaft als Volontär bei der »Friss Ujság«, da kommt Maike und verfolgt ihn. Maike, der Herr Herausgeber, fliegt aus seinem eigenen Zimmer, Béla Kun triumphiert, kann weiter bleiben und schreibt eine sogenannte »farbige Notiz« über die Gesetzvorlage, die soeben im Parlament eingereicht wurde, daß die Asche des großen ungarischen Fürsten Rákóczi festlich heimgebracht und in Kaschau beigesetzt werde.
Er hat eine schlechte, unleserliche Handschrift, doch was tut das, die Setzer kennen schon die Schrift des unbekannten Freundes unseres Blattes, sie können das prachtvoll setzen. Der Abzug wird zum Chefredakteur gebracht. Herr Jacoby stürzt hinter seiner Verglasung hervor. »Wer hat diesen reizenden Artikel geschrieben?« fragt er den Hilfsredakteur Müller, der stolz auf sein Protegé verweist.
Dann kommen stille Stunden des Abendbrotes, der Herr Chefredakteur geht ins Theater, um vor dem kleinen Bühnenausgang seine Freundin abzuholen – offenes Geheimnis in der kleinen Stadt – sie setzen sich zum reservierten Tisch im Kaffee New York. Inzwischen bleiben der Müller und sein Redaktionskind im stillen Bureau zurück. Dem braven Müller schickt seine Frau im Eßkorb ein wohlriechendes Nachtmahl, echt siebenbürgisch-ungarisch zubereitet, genug für drei, nicht für einen. Es gibt nur ein Besteck; Béla Kun, der Gast, ißt zuerst und läßt viel weniger zurück, als wenn der brave, feine Müller die Portion in zwei präzise Hälften geteilt hätte, um dem armen Jungen, der nichts verdient, für seine Arbeit vom herzlosen Maike nichts bekommt, wenigstens auf diese Weise einen Lebensunterhalt zu sichern. Béla Kun frißt sich an. Er ist bereits ziemlich dick, dauert diese Karriere noch einige Jahre, wird sie mit einem großen Bauch schließen.
In der Stille der Nachtredaktion enthüllt er sich, seine unauslöschliche Ambition, ein richtiger Journalist zu werden, aber keiner, wie Kollege Müller, bei einem bürgerlichen Blatt! Nicht unter der Knute eines Maike leiden, sein eigener Herr bei seinem eigenen Blatt zu sein, ein Blatt zu gründen, welches die Wahrheit und nur die Wahrheit und die ganze Wahrheit schreibt, wie es der französische Zeugeneid vorschreibt, für die unterdrückte Klasse der Arbeiter. Der Chauvinist Müller macht große Augen, als er erfährt, daß sein Lehrling, der Vierundzwanzigjährige, der sich in Redaktionsdebatten als strammer Soldat, heftiger Jude und leidenschaftlicher Journalist zeigte und nationalistische Artikel schreibt – erst gestern hat er noch um fünf Kronen einen von Nationalismus glühenden Aufruf gedichtet, für eine neue Zeitung, allerdings Konkurrenz – daß dieser Bursche sich mit umstürzlerischen Ideen beschäftigt! Dieser Bursche, der aus lauter Gegensätzen besteht! Und der fängt an, ihm unerhört zu imponieren.
»Ja, lieber Kollege,« gibt Béla Kun zu, »es kommt eine andere Welt! Die Welt wird umgestürzt, die Ungerechtigkeit zwischen den Klassen kann sich nicht länger halten. Ich habe einen Freund, den Spengler Klein, der kam aus Budapest, ist auf das sozialdemokratische Blatt abonniert. Das müssen Sie auch lesen, wie ich es täglich lese, dann werden Sie die Welt anders beurteilen. Ich verdanke eigentlich alles dem Spengler Klein. Bei ihm wohnte ich als Gymnasiast, er hat mich noch als Schulbuben in die Partei aufgenommen. Wollen Sie sehen?« – und zeigt stolz seine Parteikarte, die bezeugt, daß er seit 1904 Mitglied der Kolozsvárer sozialdemokratischen Organisation ist.
Der brave Müller macht immer größere Augen, der brave Müller will nicht glauben, daß der junge Bursche Vorträge in der Organisation der Spengler und Schneider hält, daß die vielen Bücher in der Tasche und im Mantel voll umstürzlerischen, sozialdemokratischen Inhaltes sind, er will das alles nicht glauben, aber es interessiert ihn immer mehr und mehr. Die Stellung des jungen Mannes in der Partei verleiht ihm eine gewisse Autorität, ihm, der seine richtige Ambition, endlich auch engagierter Journalist zu sein, nicht erreichen kann, dann auch schon nicht mehr erreichen will. Er begnügt sich mit der Bekanntschaft aller Journalisten, von Rang und Namen. Seine Ambition ist gestillt, da er das Recht hat, auch mitzuschreiben.
Seine Wohnung beim Spengler Klein, dem Sekretär der Gewerkschaft, zahlt er ohnedies nicht, im Kaffeehaus wird schon jemand für ihn bezahlen und das Essen mit Müller in der Redaktion genügt oft auch für zwei Tage. Wenn er auch das, was er erreichen wollte, nicht erreichen konnte, irgendwie arriviert ist er bereits, er ist eine Spezialität geworden, es gibt bereits gewisse Elemente, hauptsächlich bei den konservativen Regierungszeitungen, die ihn fürchten, er hat schon Affären gehabt, er wird ernst genommen. Je unsoignierter, je unkonsolidierter, je desolater er erscheint, um so besser, er gefällt sich in der Rolle des kleinen Revolutionärs, des Umstürzlers im Wasserglas, die rote Krawatte bekommt immer mehr Bedeutung.
Sollte Maike seine Engherzigkeit aufgeben, sollten die zwei jungen Männer, die dort noch im Bureau sitzen, aus irgendeinem Grund austreten, könnte man noch von einer Abänderung der Richtung sprechen, man könnte sich noch auf die bürgerliche Kossuthpartei umstellen; höchstens müßte man vom Parteisekretär Spengler Klein ausziehen und zu Arthur Richtzeit, dem Dandy der einheimischen Journalisten, übersiedeln, der eine Zweizimmerwohnung hat und mit dem er sich schon verständigen würde. Die Karriere des richtigen Journalisten will aber gar nicht vorwärts gehen, also bleiben wir bei der Sozialdemokratie. Die Vorträge in der Organisation der Schneider bieten doch Zerstreuung, der Parteisekretär Klein zahlt auch hie und da ein paar Kronen aus den Gewerkschaftsgeldern. Kein schönes und sicheres Brot – aber wenn alle Stricke reißen, kann man davon leben.
Nach der Redaktion geht man ins Orpheum, der große Star ist Rica Giza, eine »blendende« Schönheit, eine Bestie, wie die Stürmer im Kaffeehaus ihre Qualitäten als Circe bezeichnen. Béla Kun verliebt sich maßlos, erscheint öfters im Orpheum und hält immer seltener Vorträge in der Gewerkschaftsschule. Aber Glück hat er wenig. Ein Konkurrent, ein eleganter Journalist, der eine Monatsgage und infolgedessen auch Kredit hat, der gepflegt und sauber aussieht, dem der Oberkellner im Kaffeehaus mal auch eine Flasche Champagner kreditiert, sticht ihn aus und kommt doch viel leichter zum Ziel. Die Episode mit dem Orpheum hätte ebenso entscheidend sein können für sein Leben. So bleibt es immer wieder bei Spengler Klein, bei den Vorträgen in der Gewerkschaft, beim halben Nachtmahl in der Redaktion des »Friss Ujság«.
Aber so kann es nicht weitergehen. Man muß sich nach etwas umsehen. Die Portionen in der Redaktion könnten auch kleiner werden, man wird älter, die Erfolglosigkeit an allen Ecken und Enden wird allmählich zu dumm. Es ist Zeit, um etwas zu werden. Und die Parole lautet doch, immer erbitterter und mit immer mehr Grund zur Erbitterung: »Ich werde es schon zeigen!«