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XLI.

Der Juli, der letzte Monat der Herrschaft Béla Kuns, flog in einem dramatisch gesteigerten Tempo, wie es sich übrigens zu einem richtiggehenden letzten Akt einer so erschütternden Tragikomödie gehörte. In den ersten drei Tagen dauerte noch die Offensive der roten Truppen an, dann aber hatten sich die Rumänen gesammelt – denn anstatt einer Antwort aus Paris auf das Croquis-Telegramm kam an die Rumänen die Weisung, nicht nur, sich nicht hinter die Demarkationslinie zurückzuziehen, sondern mit voller Kraft vorwärts zu marschieren. In einer Woche nach der Absendung des unverschämten Telegrammes war die gesamte rote Armee geschlagen und sie strömte, den Kopf verlierend, in voller Auflösung über die Theiß zurück. Am 29. Juli überschritten die Rumänen den Fluß, schon war Czegléd, der Schlüssel zu Budapest, in rumänischem Besitz. Dann führte nur noch eine offene Ebene zur Hauptstadt. Die große Schlacht, begonnen aus Verzweiflung und aus Verbrechertum, war vollkommen verloren.

Am 31. Juli, in der Nacht, faßte Béla Kun einen letzten Entschluß: Hinaus zur Armee, um die Worte »Deboulez morts!« à la Napoleon der krepierten Armee ins Gesicht zu schreien. Er erschrak, er erbleichte angesichts der Anarchie, die er an der Front vorfand, wie vor einem Spiegel, in dem er sein entsetztes Gesicht erblickte. Béla Kun stieg nicht mehr aus dem Auto und aus dem Sonderzug; das Rattern des Motors, das Sausen der Räder war für ihn noch die einzige Musik, die imstande war, ihn in dem Wahn seiner abenteuerlichen Existenz zu betäuben.

»Alles verloren!« konnte er nun zu seinem Vater sagen, dem alten Kohn bácsi, der von den Rumänen erlöst, sich bloß ein paar Wochen lang in dem Sowjethaus aufgehalten hatte, dann aber, da er nicht recht ohne Arbeit leben konnte, sich in einer Ortschaft in der Nähe von Budapest zum Dorfnotar ernennen ließ und eifrig bemüht war, gegenrevolutionäre Handlungen seinem geliebten Sohne zu denunzieren. Bei dem Geruch des Todes kehrte der Alte schleunigst nach Budapest zurück. Die Mischpoche war also wieder beisammen, wie einst im Mai, als der Feind, wenn auch nicht derart gefährlich, ebenfalls schon ante portas war. Der alte Kohn, die Frau und die Schwester konnten wieder zu packen beginnen.

Béla Kun mußte in den letzten Stunden noch vieles erledigen. Noch immer, auch noch im letzten Augenblick hätte er gern mit dem Leben der noch am Leben gebliebenen Arbeiter hasardiert, zu gern noch die letzten Arbeitergruppen mobilisiert und an die Front geschickt, aber die Sozialdemokraten wollten nicht weiter mittun.

»Wenn dies das Ende sein soll« schrie Szamuely, »dann überlebe ich es nicht, ich erschieße mich!«

»Wenn schon?!« sagten die Genossen und eskomptierten gern das über sich selbst verhängte Todesurteil des Massenmörders.

Hastig griff Béla Kun nach jedem Strohhalm. Er war gestern noch, bevor er an die Front fuhr, an der österreichischen Grenze gewesen, war dort mit seinem Wiener Gesandten zusammengetroffen, hatte stolz und siegesbewußt einen ganz vernünftigen Vorschlag, abzudanken und zu verschwinden zurückgewiesen. Nun keine Lüge mehr. Jede Viertelstunde wechselte er Farbe und Entschluß, aus jauchzendem Triumphgefühl und drohender Entschlossenheit verfiel er in die Lethargie der ohnmächtigen Hilfslosigkeit. Dann wieder hatte er noch eine letzte Rettungsidee: er sandte ein Radiotelegramm an Lenin – in der Not glaubte er wieder an seine eigene Lüge – und vergaß, daß die vorwärts marschierenden russischen Truppen eigentlich nur in seiner Phantasie existierten. Er vergaß alles, er dachte nur an Hilfe. Er forderte Lenin auf, Rußland möge schleunigst eine gewaltige Offensive gegen die Rumänen eröffnen, um dadurch die Diktatur des ungarischen Proletariats zu retten. Entfernungen von Tausenden von Kilometern, Wochen, die zu einer Mobilisierung und dem Aufmarsch erforderlich gewesen wären, spielten in der jämmerlich ängstlichen Phantasie des Bedrohten keine Rolle. Der letzte Tag im Juli präsentiert ihn als einen kompletten Narren, der nach jeder Richtung seine Arme ausstreckt und um Hilfe fleht.

Am 1. August ist er erledigt. Eine schlaflose Nacht, aufgeregte Beratungen mit den ganz intimen Komplizen, mit der Familie, der Anblick der weinenden Frau, des hin- und hergeschobenen Kindes, die Aussichtslosigkeit, die ihm immer zwingender zum Bewußtsein kommt, der Haß, der von allen Seiten gegen ihn strömt, stimmen den verwegenen Verbrecher um. Selbst Szamuely rät ihm zum Abdanken. Niemand erfährt etwas von den geheimen Verhandlungen. Die offiziöse rote Zeitung erscheint noch immer mit einem fulminanten Leitartikel, der zum Widerstand aneifert, wiewohl sich alle bereits mit dem Gedanken des Umsturzes befreundet haben. Bloß Alpári versucht noch, Béla Kun zu weiterem Widerstand aufzumuntern. Die Rumänen aber nähern sich und die Gerüchte vom Herannahen der feindlichen Truppen sind bedrohliche Vorposten des vorwärts marschierenden Gegners. Vormittags findet im Sowjethaus die entscheidende Konferenz statt. Béla Kun sitzt in Lethargie versunken inmitten einer Regierung, die noch vor einer Woche seinem Kommando widerspruchslos gehorchte. Er läßt jetzt alles wortlos über sich ergehen, mögen nur die anderen entscheiden.

Die Konferenz beschließt, für Nachmittag in das neue Rathaus einen Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte einzuberufen, den großen Sowjetkongreß, um die Macht einer Regierung, die sich aus den Gewerkschaften bilden solle, zu übergeben. Das Interesse für diesen Kongreß ist enorm. Den Journalisten, die sonst fern gehalten wurden, wird ohne Ausnahme, ob sie Ausländer oder Inländer, ob sie bürgerlich oder kommunistisch, ob sie verläßlich oder verdächtig sind, Einlaß gewährt. Béla Kun trifft um drei Uhr, noch immer von seiner Leibgarde begleitet, ein; die Handgranaten der Leninbuben sind noch intakt – die einzige Waffe, über die Kun noch ein paar Stunden lang kommandieren kann. Sein Leibjournalist, die Seele der offiziösen kommunistischen Presse, macht ihn aufmerksam, daß auch Fremde, auch Journalisten, die sonst keinen Einlaß finden, im Sitzungssaale anwesend sind.

»Lassen Sie mich in Ruh'!« brüllt ihn Béla Kun an.

Ein anderer Vertrauensmann fragt ihn: »Was gibt es Neues, Genosse, was wird geschehen?«

»Ich weiß es selber nicht« antwortet er. »Es wird sich jetzt alles entscheiden. So wie ich die Situation beurteile, müssen wir, da wir bei Szolnok geschlagen wurden und der Vormarsch der Rumänen nicht mehr aufzuhalten ist, abdanken. Eine Regierung der Gewerkschaften wird die Macht übernehmen.«

Dann bleibt er wortlos stehen. Er kann den Anblick der aufgeregten Gesichter der Masse nicht ertragen und er bleibt auch nach Eröffnung der entscheidenden Sitzung noch im Vorraum des Saales.

Genosse Biermann eröffnet den Kongreß und bittet in der schicksalschweren Stunde vor allem um Ruhe und Aufmerksamkeit.

Der Volkskommissar für Justiz, ein früherer Rechtsanwalt, Dr. Rónai, ist der Referent, denn Referenten muß es auch in dieser Sitzung noch geben, auf Formen wird auch in dieser schrecklichen Situation noch geachtet.

»Das Proletariat ist in einer entsetzlichen Lage. Die Diktatur des Proletariates wäre zu halten – gewesen! …«

Die Grammatik der ungarischen Sprache setzt das entscheidende Wörtchen des Konjunktivfalles zum Schlüsse des Satzes, so daß der Beginn des Satzes noch hätte bedeuten können, daß die Diktatur des Proletariates unter allen Umständen aufrecht bleibt, aber durch das letzte, nach einer kleinen Pause nachhinkende Hilfszeitwörtchen ist der Konjunktivfall eingetreten: die Diktatur wäre zu halten gewesen.

Die Rede des Vortragenden kann nicht so ergreifend sein, daß die Zuhörer mitgerissen werden können, im Gegenteil es geht durch die Menge das allgemeine Gefühl der Erleichterung, sobald der Sturz endlich unverblümt verkündet wird.

Nachdem der Moment genügend dramatisch vorbereitet ist, erscheint Béla Kun, der selbst in diesem Augenblicke noch ein paar Stunden vor seiner Flucht auf Äußerlichkeiten Wert legt, auf der Tribüne.

»Genossen!« brüllt er die Menge an.

Eine lange Pause.

Aber das erste, nur mit größter Anstrengung kraftvoll klingende, aus der Tiefe der Lunge hervorgeholte Wort geht sogleich in Tränen unter. Der Beherrscher eines Landes durch hundertdreiunddreißig Tage, der Außenminister und Kriegsminister, der Diktator, der Divisionskommandant von Moskau, der Mörder und Anstifter, der Verkünder einer neuen Welt, steht krampfhaft schluchzend da: er vermag sich selbst nicht mehr zu beherrschen. »Das Proletariat hat nicht seine Führer, sondern sich selbst im Stich gelassen« so fängt er an. »Ich habe gründlich überlegt und erwogen, was ich eigentlich tun soll. Kaltblütig und ruhig stelle ich fest: die Diktatur des Proletariats ist gestürzt worden, gestürzt wirtschaftlich, politisch und militärisch.«

Flinke Stenographen schreiben noch die letzte Rede Béla Kuns nieder, aber sie erscheint nicht mehr in der Roten Zeitung. Ihre letzte Nummer, da sie ein Abendblatt ist, hat diese Stunden nicht mehr überlebt. Ihre Mitarbeiter sind nach allen Windrichtungen geflohen. Die Rede erscheint nur noch als historisches Dokument, als Béla Kun längst nicht mehr in Budapest weilt. Dieser, sein letzter Schwanengesang weist komprimiert das üble Extrakt seiner ganzen verlogenen Verbrechernatur auf. Er hat noch die Stirne, zu behaupten, er habe ein anderes Schicksal, ein anderes Ende gewünscht. Er sagt:

»Ich hätte ein anderes Ende gewünscht. Ich hätte gewünscht, daß das Proletariat auf den Barrikaden kämpfe daß es erkläre: lieber zu sterben, als die Macht aus der Hand zu geben. Aber ich dachte mir: sollen wir uns allein auf die Barrikaden stellen, ohne die Massen hinter uns? Wir hätten uns gerne geopfert, aber es ist die Frage, ob dieses Opfer vom Gesichtspunkte der internationalen Revolution des Proletariats einen Sinn hat, ob es nicht nützlicher ist, wenn wir verhindern, daß binnen kurzem hier ein neues Finnland entsteht. Was mich dazu veranlaßt hat, auf die Änderung einzugehen, auf diese Änderung, die ich nur für ein provisorisches Übergangsstadium halte, was mich bewogen hat, keinen bewaffneten Widerstand zu leisten, hat seinen Grund darin, daß ich auf diese Weise die Produktionsmöglichkeiten gesichert sehe, daß ich es für möglich halte, daß die Produktionsmittel nicht verschleppt werden. Meiner Ansicht nach, kann hier keine politische Gestaltung von Dauer sein, alles kann nur einen sehr provisorischen Charakter haben. Hier wird niemand regieren können. Das Proletariat, das mit unserer Regierung unzufrieden war, das trotz aller Agitation in den Fabriken bereits laut geschrien hat: »Nieder mit der Diktatur des Proletariats!« wird einer jeden anderen Regierung gegenüber noch mehr Unzufriedenheit zeigen. Es wird ein sehr bitterer, dauernder Revolutionszustand folgen. Ich habe oft genug verkündet, daß der Aufbau des Sozialismus nicht von außenher erlernt werden kann. Jetzt sehe ich ein, daß unser Versuch, das Proletariat dieses Landes zu selbstbewußten Revolutionären zu erziehen, ein vergeblicher war. Dieses Proletariat braucht, um revolutionär zu werden, die unerbittlichste, grausamste Diktatur der Bourgeoisie. Auf jene Genossen, die diesen provisorischen Zustand mitzumachen bereit sind, wartet eine harte Arbeit. Ich glaube, daß die Diktatur der Bourgeoisie sich ihnen gegenüber nicht schonungsvoller erweisen wird als uns gegenüber, aber sie sind in diesem Augenblick die Werkzeuge einer geschichtlichen Notwendigkeit, die man nur mit Anständigkeit erledigen kann. Während dieser Übergangszeit treten wir beiseite, werden, wenn es möglich ist, die Klassenzusammengehörigkeit aufrecht erhalten, wenn es nicht möglich ist, auf andere Weise kämpfen, um mit neuen Kräften und Erfahrungen bereichert und unter objektiveren, realeren Umständen mit einem reiferen Proletariat einen neuen Kampf für dieses Proletariat zu beginnen, um in eine neue Phase der internationalen Revolution des Proletariats zu treten.«

Nach Beendigung seiner Rede ist er auf seine Wirkung nicht mehr neugierig. Es erschallt kein Applaus, er ist auch auf eine Ovation gar nicht gefaßt, er denkt nur noch an seine Flucht und daran, zu retten, was noch zu retten ist.

»Armer Narr« sagt über ihm einer seiner Genossen von gestern, »er war ein Narr, aber ein anständiger.«

Ein anderer, der ihn besser kennt, korrigiert diese Meinung:

»Er war gewiß ein Narr, aber ein unanständiger.«

Seine Leibgardisten, – wilde Gesichter, sinnlos vor sich hinstarrend, – sitzen hilflos auf den Bänken im Vorraum des Sitzungssaales und mit den eigenen Sorgen beschäftigt, haben sie keine Ahnung davon, was im Saale vorgeht. Als ihr Führer erscheint, springen sie auf und begleiten ihn ehrfurchtsvoll zu seinem Auto.

In einer endlosen Kolonne wird der gestürzte Diktator von den Genossen begleitet, die mit ihm zusammen gestürzt sind. Der Weg führt sie ein letztes Mal ins Sowjethaus, wo eine letzte intime Beratung stattfinden soll. Jetzt handelt es sich nicht mehr um Politik, es handelt sich um die Rettung des eigenen Lebens. Diplomatie und Politik spielen keine Rolle mehr. Die Regierung Béla Kuns ist nicht gestürzt worden. Sie ist verendet.


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