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XXII.

Budapest, die witzige Stadt, macht sich erst über das ganze System lustig. Das Publikum, – das nicht wissen konnte, daß Béla Kun die ganze Weisheit einer utopistischen und unmöglichen Staatsbildung eigentlich in seiner unsauberen Aktentasche aus der russischen Gefangenschaft mitgebracht hatte, daß die Kodifizierung der gesamten Staatsverfassung der, wie er sie nannte, »ungarischen Räterepublik« eigentlich eine Arbeit der russischen Übersetzer und nicht seine gesetzgeberische Genialität war, – ganz Budapest und ganz Ungarn standen verblüfft vor dem Phänomen da, vor dem genialen Lenin-Ersatz, der in drei Tagen die alte, tiefverwurzelte Staatsverfassung umgeworfen und durch eine neue ersetzt hatte.

»Gott hat die Welt in sechs Tagen erschaffen, Béla Kun hat sie in drei Tagen umgeändert« sagen sich die Leute und lächeln über den Witz.

Im sozialisierten Orpheum macht der organisierte Komiker einen unerlaubten Jargonscherz:

»Wat zach nicht halten!«

»Es wird sich nicht halten!« – sagt der kleine Rott seinem Partner und greift an dessen Schulter, an der eine Blume befestigt ist. Das Publikum lacht und applaudiert, denn jeder weiß, daß damit das Regime Béla Kuns gemeint wird und man wiederholt sich dann gerne: »Wat zach halten?! Wat zach nix halten!«

Der Komiker und alle übrigen, die die Witze verbreiten – Witze sind genau dieselben Alarmnachrichten, wie die Nachrichten aus dem Auslande über die Beurteilung des unhaltbaren Regimes – kommen vor das Revolutionstribunal. Denn das Revolutionstribunal war das erste, was Béla Kun, dessen Leitsatz »Revolutionsterror« hieß, geschaffen hatte, nur l'art pour l'art, Terror für Terror.

In kurzer Zeit wurden in Budapest vier, in der Provinz vierundzwanzig Todesurteile vollzogen, alle an sogenannten politischen Verbrechern. Als Vorsitzende der Revolutionstribunale fungierten Analphabeten, Matrosen, die statt der Glocke des Präsidenten schrille Pfeifen benützten und die Gerichtsverhandlungen mit der Auffassung eines Fußballschiedsrichters führten. Sie pfiffen in die Anklage ebenso hinein wie in die Verteidigung. Wurde die Verhandlung dem Vorsitzenden zu langweilig, so fällte er kurzerhand das Todesurteil und blies mit einem Pfiff – wie der Schiedsrichter ein Footballmatch – die ganze Verhandlung ab.

Béla Kun war ein Feigling und aus seiner Feigheit entstand die Terrorgruppe der »Leninbuben«. Auf dem verkehrsreichen Theresien-Ring hatten sie sich ihr Lager aufgeschlagen. Die fürstlich Batthyány-Strattmannsche Familie wurde einfach auf die Straße gesetzt und Josef Cserny, ein früherer Matrose, ein Berufsrevolutionär, bezog das Haus mit einer ziemlich großen, aus ungefähr zweihundert Männern bestehenden Truppe. An dem Hause wurde eine lange, rote Aufschrift »Lenin-Buben« angebracht, vor dem friedlichen Palais auf der Ringstraße wurden Minenwerfer, Geschütze aufgestellt. Die Terrorbuben trugen schwarze, mit Leder überzogene Pelze und gebärdeten sich nicht nur im Benehmen sehr gefährlich, sondern sie handelten auch danach. Ausplünderung privater Wohnungen, herzlose Ermordung unschuldiger Geiseln, in den Kasernen verübte Schandtaten waren an der Tagesordnung. Die Bestialitäten, die sie unter Szamuellys Leitung in der Provinz begingen, übersteigen jede Phantasie sadistischer Verbrecher. Sie besaßen einen Panzerzug, mit dem sie durch das Land fuhren. Unter dem Vorwande, sie müßten irgendwo »Gegenrevolution« unterdrücken, richteten sie Hunderte von unschuldigen Menschen hin.

Diese Horde war Béla Kuns Leibgarde. Der aus dem Gefängnis zur höchsten Regierungsmacht gelangte Diktator hatte anfangs keine Wohnung. Am Abend des 21. März konnte er seine Familie – Frau und Kind – noch nicht aufstöbern. Sie hielten sich bei Bekannten verborgen und ahnten nicht, daß Béla inzwischen befreit und Außenminister geworden war. Die Wirklichkeit hätte ihre kühnste Phantasie sich niemals träumen lassen. Dann kam ein Bote, und Frau und Kind übersiedelten in ein Appartement des »Hotel Astoria«. Dieses Hotel, das Haus der ersten Oktoberrevolution war nicht ganz nach dem Geschmack Béla Kuns und seiner Genossen, vor allem der Lage wegen. Das Haus steht, auf drei Seiten frei, inmitten der Stadt und ist nicht leicht zu bewachen, während es doch Béla Kuns größte Sorge war, sich gut bewachen zu lassen.

Das schönste Hotel der Stadt, das Hotel Hungaria am Donaukai, wurde in das Sowjethaus umgewandelt. Große Ministerien, ein überdimensioniertes Parlamentsgebäude, prachtvolle Ämter für die Verwaltung eines großen Staates, der besseren Hälfte einer einstigen Großmacht standen ihm zur Verfügung, doch Béla Kun liebte diese Amtsatmosphäre nicht. Der ewige Aftermieter, der Bettgeher, der vom Kabinett des Spenglers höchstens in die versteckte, geheimgehaltene Untermieterwohnung an der Peripherie übersiedelt war, lebte sich in den prachtvollen Räumen des Fürstenappartements des ruhigen Hotels aus. Béla Kun wollte eben gut leben und dabei in Sicherheit leben.

Das Hotel am Donaukai ließ sich gut bewachen. Zum Schutze des großen Mannes wurde die Lenin-Horde bestellt und das ganze Hotel artilleristisch befestigt. Eine Festung an der italienisch-österreichischen Grenze war vor dem Kriege nicht zweckmäßiger ausgerüstet als das Hotel, das von den verwegenen Banditen, die sich Lenin-Buben nannten, beschirmt wurde. Béla Kuns Auto hatte man mit den ausgesuchtesten Trabanten der Leningarde besetzt, vor und hinter seinem Wagen fuhren Panzerautomobile. Vor dem Hotel, auf der Treppe, vor seinem und dem Zimmer seiner Frau und kleinen Tochter gab es Bajonette, Revolver, Handgranaten – die Handgranaten spielten überhaupt eine große Rolle – in Hülle und Fülle.

Eines Tages lief er die Treppe hinauf – er nahm immer zwei Stufen auf einmal, er hatte es stets sehr eilig! – und sah, daß vor seinem Zimmer sein kleines Töchterchen mit einer Handgranate des dort postierten Soldatenterroristen spielte. In seiner Seele kämpften zwei Gefühle miteinander: der Stolz über das prachtvolle Kind und die Angst, daß die Bombe platzen könnte. Die kleine Ágnes, siebenjährig, ganz hübsch, mit roter Masche in den blonden Haaren, mit süßem Lächeln und mit einer Bombe in den kleinen Händen, charakterisierte so recht das ganze System. Die Bombe als Symbol des Terrors neben dem familiär-behaglichen Leben, denn für sich selbst wurden die eigenen Gesetze wenig in Anwendung gebracht. Im Sowjethaus gab es kein Alkoholverbot; ganz im Gegenteil: die prachtvollen Keller des großen Hotels wurden erbrochen, denn Béla Kuns Leidenschaft für ein bestimmtes Frühstück – noch ein Kindheitskomplex – und zwar ein Stück Paprikaspeck mit Weißbrot, dazu ein Glas Schnaps, mußte auch da befriedigt werden.

Das Sowjethaus, unter dem Schutze der Mitrailleusen und in einer ewigen Bereitschaft der zu allem bereiten Terroristen, war das richtige Reich für ihn, wo er uneingeschränkt nach seiner Fasson regieren konnte. Die Regierung war gebildet, verwegene Tschekatruppen standen zur Verfügung, der Bourgeoisie wurden die Waffen weggenommen, die Verfassung ist aus dem Russischen übertragen worden, das Hotel als Sowjethaus eingerichtet, der Traum ist vollkommen: Béla Kun hat vor nichts mehr Respekt. Nicht einmal vor dem Tode. Besonders nicht vor dem Tode – anderer …


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