Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XVII.

Es war ein Samstag, aber die Stadt sah aus, als ob es Sonntag gewesen wäre. Krieg und Revolution sind sicher nicht spurlos an Budapest vorübergegangen aber selbst in den bittersten Kriegstagen gab es keine wirklichen Entbehrungen, allerdings auch kein wirkliches Leben. Aber in der Ungewißheit, welche der bereits sechs Monate währende Revolutionszustand mit sich brachte, konnte sich die junge Stadt, zu deren hervorstechendsten Eigenschaften Frische und pulsierende Lebenslust gehörten, noch weniger auf sich besinnen und zurecht finden.

Es war ein Samstag, es schien aber, als ob es Sonntag sei, an jenem schrecklichen zweiundzwanzigsten März, an dem Béla Kun und Konsorten die Herrschaft übernahmen. Übernehmen, die Herrschaft übernehmen – klingt wohl etwas feierlich. Man denkt dabei womöglich an festlich gekleidete Männer, an Formalitäten und Zeremonien, ja vielleicht sogar an das Ausrücken eines Galaregiments mit Militärmusik. Wird ja doch selbst bei der Vorstellung eines fremdstaatlichen Gesandten beim Staatsoberhaupt, bei dem er akkreditiert wird, der Generalmarsch geblasen, das Galaregiment zieht vorüber, laute Kommandorufe erschallen und in einem Festsaale spielen sich zu einer im voraus festgesetzten Stunde, unter Formalitäten, die im vorhinein bestimmt sind, programmgemäße Szenen ab. Reden erklingen, die schon fix und fertig sind, Formeln werden eingehalten, von denen nicht um eine Haaresbreite abgewichen werden darf und all dies nur, weil ein ausländischer Gesandter die Meldung erstattet, daß er, von den besten Absichten geleitet, alles daran setzen will, um das gut-freundschaftliche Einvernehmen zwischen den zwei Staaten, dem Lande, dessen Gastfreundschaft er nunmehr genießt und dem eigenen, zu pflegen und noch wirksamer zu vertiefen.

Hier gab es niemanden, der die Herrschaft übergeben sollte, aber um so größer war die Anzahl jener, die sie übernahmen. Was heißt, übernehmen? Sie rissen die Herrschaft an sich, zerrten an ihr hin und her, um sie schließlich erschrocken und kompromittiert loszulassen.

Niemand wußte, was über Nacht geschehen war. Wie hätte man es auch wissen können! Die Blätter, die nach zweitägigem Setzerstreik zum erstenmal wieder erschienen, brachten, als hätten sie sich in eine Uniform gekleidet, mit gleichförmiger und gleichlautender Begeisterung, die immer verdächtig erscheinen muß, einstimmig die Nachricht, die Diktatur des Proletariats sei angebrochen, die Herrschaft über das Land habe die Diktatur des Proletariats übernommen und der Präsident der Republik wie auch die Regierung hätten demissioniert. Weil die Entente Ungarn zugrunde richten, das Land, ohne seinem Volke Gehör zu verleihen, zerstückeln wolle, hätten sich die Sozialisten mit den Kommunisten vereinigt und aus dieser Vereinigung sei jener Machtfaktor entstanden, dessen genaue Bezeichnung in der ungarischen Sprache nur zwei Fremdwörter wiederzugeben vermochten, zwei Wörter, deren genauen Sinn man kaum so recht begriffen haben mag. Proletariat? Wer wußte es in der Tat, was dieses Wort bedeutet, hier in diesem Lande, wo selbst das Wort »Sozialist« falsche Vorstellungen hervorgerufen hatte. Diktatur? Da dachte jeder an Görgey, an den großen General der Revolution vom Jahre 1848, den die Regierung beim Herannahen der russischen Truppen mit den Machtbefugnissen eines Diktators ausgestattet hatte. Diktatur des Proletariates, schmetterten die bereits kommunisierten Zeitungen und so schrie es von den Plakaten. Auch das Argot, das abseits der Gesellschaft und der Literaten auf dem Boden jeder Großstadt erblüht, war schon am ersten Tage da: »Prolityi dityi« hieß es in dieser süßen Sprache, voll von Galgenhumor.

Einen Tag bloß, aber nicht einmal so lange, vielleicht nur so lange, bis die ersten Nachrichten verhallten und die ersten Plakate sich von den Anschlagsäulen abblätterten, besaß die Räterepublik einen Präsidenten, einen Riesen von Gestalt, einen Maurer und sozialistischen Agitator von Berufs wegen, der noch irgendwie maßhalten konnte, der die Herrschaft, die Übernahme der Herrschaft noch ernst nahm, der sich auf eine zwanzigjährige politische Vergangenheit stützen konnte und der vielleicht den Eindruck und die Meinung hätte hervorbringen können: So wäre es nun recht und auch ganz in Ordnung! Von nun an werden eben jene Klassen regieren, die bisher nur regiert wurden! Die Regierung hieß nicht mehr Regierung, auch nicht mehr Ministerium; »Rat der revolutionären Regierung« nannten sie sich ganz bescheiden.

Ein hochgewachsener, strammer Mann, mit trotzigem Blick in den feuersprühenden Augen, mit revolutionär-stolzer Haltung, aber im Grunde genommen ein stiller Parteibürokrat – das war Alexander Garbai, der den Präsidentenstuhl einnehmen sollte.

Es geschah aber nur zum Scheine. Der wirkliche Anführer, Herr über Leben und Tod, war ein anderer geworden. Alles andere blieb nur Staffage, Werkzeug in seinen Händen, Formalität oder Statisterie, der wahre Herr ist Béla Kun gewesen, der für die Übernahme der Herrschaft wahrhaftig schon reif genug war: es waren doch schon mehr als 18 Stunden vergangen, daß er aus dem Gefängnis entlassen wurde!

In dem unwahrscheinlich schönen Palais des Ministerpräsidenten herrschte Totenstille. Der Regierungschef, Dyonisius Berinkey, ein Bürokrat von altem Schlage, und seine Familie hatten sich in ihre Privatappartements zurückgezogen. Die eleganten Beamten mit ihren aalglatten Manieren, gewöhnt, daß sich auch Regierungskrisen ebenso glatt als geräuschlos abwickeln, blickten verständnislos drein, denn sie wußten nicht, was hier nun vorgehen sollte. Die Optimisten und die Berechnenden trösteten sich mit nationalen Phrasen. Schließlich erfüllte der Umstand, daß die öffentliche Meinung gar nichts Näheres wußte und auch aus den Zeitungsnachrichten nicht klüger werden konnte, auch sie mit Resignation und so dachten sie, daß es eben so und nicht anders sein mußte. So wie auch im ersten Momente das große Ereignis als ein Trick des ungarischen Chauvinismus, als ein letztes Aufflammen der nationalen Leidenschaft angesehen und in der Diktatur des Proletariates die einzige Lösung und Rettung aus der schrecklichen Lage erblickt wurde.

Es ertönt das Telephon. Der Vorsitzende des »Rates der revolutionären Regierung« ersucht, das Auto des Ministerpräsidenten zum Sekretariat der Sozialistischen Partei zu schicken.

Das Auto ist der wirkliche Motor der Revolution, das symbolische Fahrzeug der Karriere, ohne Auto gibt es keine Revolution, erst das Auto bedeutet die Ernennung und die wirkliche Macht. Das Auto ist alles. Auf den Lastautomobilen jagen Revolutionäre mit Handgranaten ausgestattet – die Artillerie der Revolution – durch die Stadt, während die Personenautos für den Generalstab der Revolution reserviert sind.

Durch menschenleere Straßen saust der Wagen bis zur Mitte der Stadt vor das Sekretariat der Sozialistischen Partei. Der neue Präsident und sein Stab warten schon ungeduldig vor dem Tor. Der Chauffeur grüßt mit tiefer Verbeugung, der Herr Präsident samt Gefolge besteigen den Wagen: Auf zur Burg, ins Ministerpräsidium! Es wird in dieser Sekunde zum letztenmal noch so genannt.

Der Wagen wird manchmal von umherstreifenden Matrosen, betrunkenen Soldaten – ewige Statisten sowohl echter Umstürze wie auch von Scheinrevolutionen – angehalten, erreicht aber endlich, in rasendem Tempo auf dem zur Burg führenden Serpentinenweg fahrend, das Gebäude des Ministerpräsidenten und bleibt stehen.

Der Portier, der an Stefan Tisza und Wekerle und an die anderen Koryphäen der alten Zeit gewöhnt ist, der aber als echter Politiker sich die politische Maxime zurechtgelegt hat, »es wird schon gehen, irgendwie wird es schon gehen, es war immer so, warum sollte es jetzt anders werden«, stürzt zur großen Glocke, die im Hausflur untergebracht ist, und läutet – dreimal. Die Vorschrift ist: Man läutet einmal, wenn ein Minister, zweimal, wenn die Gattin des Ministerpräsidenten und dreimal, wenn der Ministerpräsident selber kommt. Durch dieses dreimalige Läuten des Portiers ist eigentlich immer erst der neue Ministerpräsident ernannt worden. Was früher im Amtsblatt kundgegeben wurde, bestätigten diese Glockenschläge, was früher in dem kleinen Arbeitszimmer des alten Kaisers in Schönbrunn erst zur Wirklichkeit wurde, wurde jetzt hier im Hausflur des weißgestrichenen, einstöckigen Barockpalais durch das dreimalige Klingeln des Portiers sanktioniert.

Der Wagen rollt hinein und (siehe, wieso, und woher weiß der Kuckuck), als würde er plötzlich aus der Erde emporsprießen, ist auch schon der erste Bittsteller da, in den Händen krampfhaft ein Gesuch haltend, das er dem Präsidenten überreicht, der in diesem Momente weniger Macht noch besitzt, als jener phantastische Bittsteller, der schon etwas auf dem Herzen hat.

Aber auch der Portier hat eine Meldung zu erstatten. Er lüftet tief seine Mütze, stellt sich in militärisch strammer Haltung vor den Präsidenten hin und sagt: »Die Post, Euer Exzellenz« und übergibt einige Briefe der neuen Exzellenz, der Exzellenz, der er diesen Rang verliehen hat und die es gar nicht versucht – es wäre auch vergeblich – diese Titulierung zurückzuweisen. Denn so, wie auch der Sonne nicht verwehrt werden kann, daß sie scheine und, weil man ihr nicht befehlen kann, statt gelber Strahlen über das weiße Palais des Ministerpräsidiums rotes Licht auszugießen, so kann man es auch vom Portier des Herrn Ministerpräsidenten nicht erwarten, daß er seinen Herrn anders als Exzellenz tituliert.

Der neugebackene Revolutionspräsident hat das Zimmer des Ministerpräsidenten in Besitz genommen. Unten wogt majestätisch die Donau und unter den Fenstern des Palais bietet sich den Blicken ein Panorama dar, das wie eine lebendig gewordene Ansichtskarte anmutet. Der scheidende Ministerpräsident wechselt mit seinem Nachfolger, den er jetzt zum erstenmal sieht, ein paar verlegene Worte – die Alten haben es nicht so gemacht –, hier aber gibt es keine Formalitäten, keine Geheimnisse und Akten, die man einander übergeben müßte, denn es beginnt ja ein neues Leben, ein ganz, ganz neues Leben.

… Zu Mittag öffnen sich auf einmal die Schleusen und es erscheint der Pöbel. Was an Schmutz, Mist und Abschaum des Volkes in zehn Automobilen Platz hatte, drängt sich in das Palais, das stumm und ergebungsvoll seines Schicksals harrt. Lauter neue Gesichter, lauter arg mitgenommene, ausgehungerte, verdächtige Gestalten, Lärm und Schmierigkeit, in den Sälen der Soigniertheit lauter unsoignierte und unappetitliche Erscheinungen, ungewaschene Hände, verwahrloste, in durchwachten Nächten durch Tabakrauch verpestete Kleider. So wie eine liederliche Gesellschaft aus einem Nachtlokal in das andere strömt, so stürzten sie – die Häftlinge von gestern – mit lautem Geschrei plump und ungeschlacht hinein in die glanzvollen Säle zum ersten Ministerrat. Von den Wänden blickten die ehemaligen Ministerpräsidenten in der ungarischen Galauniform, mit Orden geschmückt, feierlich herab; ein Wunder, daß sie nicht aus den Bilderrahmen springen, um aus der schmuckbeladenen Scheide die kurzen krummen Säbel zu ziehen. Diese paar Säbel hätten genügt, um die ganze Gesellschaft zu verjagen.

Der neue Ton, der wurde nun wirklich der neue Ton. Lärmende und heisere, fast luetische, jedenfalls aber übernächtig-müde, vom Brüllen abgenutzte Stimmen, die zusammen und auf einmal ertönend wie ein schreckliches Stimmenkonglomerat wirkten, aus dem fremdartig und unverständlich, aber um so bedeutungsvoller und erschreckender abgerissene russische Worte zu vernehmen waren.

Die Journalisten, diese ewigen Kiebitze der politischen Krisen, unter ihnen auch solche der älteren Generation, die schon bei so manchen schwierigen »Partien« gekiebitzt hatten, standen wie erstarrt unter der Menge, aus der einer, der Schmutzigste, der Heiserste, der Unrasierteste, der den meisten Tabakqualm Speiende, der Unsympathischste und Häßlichste: Béla Kun, hervorstach.

»Servus,« sagte er einem jungen Manne, der den Gruß verlegen erwiderte, »kennst Du mich nicht mehr? Bist Du noch immer bei Deinem alten Blatte?«

»Und wie geht es Ihnen, Sie alter Strick?«, so beehrt er einen anderen.

Er zündet eine Zigarette nach der anderen an. Auf seiner kahlgeschorenen Stirne sind noch die Spuren der Gewehrkolbenhiebe der Wachleute zu sehen, sein Hemd ist ausgefranst, der Kragen schmierig, die Kravatte hängt ihm schief aus der Weste hervor, unsicher geht er auf und ab, die Worte »Genosse« und »Towarischtsch« schwirren nur so in der Luft umher, er setzt sich gar nicht, wechselt nur hin und wieder mit dem einen oder anderen Häftlingskollegen ein paar Worte. Daß der Präsident sich drinnen im Saale vor den großen Schreibtisch des Ministerpräsidenten setzt, berührt ihn gar nicht. Es interessiert ihn, den alten Winkeljournalisten, bei weitem mehr, was wohl die Journalisten sagen! Plötzlich erblickt er unter ihnen einen sogenannten »Berühmten«.

»Hm, lieber Genosse, die alten schönen Zeiten sind vorbei, aus ist es mit den Sensationen, großen Interviews, den farbenreichen Feuilletons, aus!«

Der tief in seinem Unterbewußtsein verankerte Schmerz des untalentierten, erfolglosen Journalisten, spricht aus diesen Worten. Alles konnte er erreichen, nur kein wirklicher Journalist vermochte er zu werden; er hat die sogenannte Macht an sich gerissen, er spielt Minister, wechselt Noten mit Großmächten, allein einen wirklichen Zeitungsartikel in ein wirkliches Blatt hat er niemals schreiben können.

Ein wahrhaftig wertvoller Pfeiler der Sozialdemokratischen Partei, der ernste und maßhaltende Ernst Garami erkennt in weiser Voraussicht die drohenden Gefahren, er ist der erste, der das Komödienspiel nicht mitmachen will und daher von seinem Amte als Handelsminister zurücktritt – aus der Partei ausscheidet, ja sogar das Land verlassen will. Béla Kun regt dieses Verhalten Garamis mehr auf als die Lage des Landes, mehr als jene Lüge, der er seinen Sieg verdankte, jenes Gerücht, daß die russischen Sowjettruppen Czernowitz eingenommen haben und nach dem Westen marschieren, ja selbst mehr, als diese ganze weltgeschichtliche Wendung.

Er stand nun seinem einstigen Chef, besser gesagt, jenem Manne gegenüber, den er so gerne als Chef über sich hätte haben wollen, und dachte an die Erfüllung oder Nichterfüllung seines Traumes, als er Garami vor sich sah.

»Sehen Sie, lieber Garami«, sagte der Staatsmann, der neue Diktator, der mit seiner erschütternden Aufrichtigkeit gleichzeitig für die Haltlosigkeit seiner Absichten und seines ganzen Lebens Zeugenschaft ablegte:

»Sie hätten zu mir gar nicht so streng sein sollen. Erinnern Sie sich noch – lang ist es her –, vor vielen Jahren, als ich noch ein junger Mann war, war es meine höchste Ambition, in die Redaktion des »Népszava« aufgenommen zu werden. Sie haben es damals verhindert, und ich war in meiner Verbitterung genötigt, in einem stinkigen Provinznest irgendein kleines Amt anzunehmen. Von dem Tage datiert meine Erbitterung, seit dieser Zeit bin ich der Zentralparteileitung feindlich gesinnt und deshalb bin ich heute – Bolschewist. Wenn Sie mich damals in die Redaktion des Népszava aufgenommen hätten, stünden wir heute nicht in dieser Situation einander gegenüber.«

Dieses aufrichtige Selbstbekenntnis wirft ein helles Licht auf das Wesen des Diktators, der vielleicht noch immer und auch jetzt noch gerne die Macht, die er in den Händen hielt, mit einem bescheidenen Schreibtisch in irgendeiner Redaktion vertauscht hätte, ganz egal, bei welcher Zeitung, aber natürlich am liebsten bei dem mächtigen Parteiorgan »Népszava«. Damit hat er gleichzeitig auch verraten, daß alles, was er machen will, machen kann und machen wird, eigentlich nichts anderes ist als billige Journalistik, und daß es ihm im Endresultat ganz gleichgültig erscheint, ob sie für einen Tag oder für hundertdreiunddreißig Tage berechnet ist.


 << zurück weiter >>