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Béla Kun war wie ausgewechselt. Er drohte mit noch nie dagewesener Rache, er raffte sich zu einem Vergeltungsfeldzug auf, in dem keiner Gnade finden sollte. Számuely machte ihm bittere Vorwürfe, daß er sich immer von den sogenannten besonneneren Elementen überreden ließe. Der Führer der Leninbuben legte ihm eine Liste von zweitausend Bourgeois vor, die alle zu verhaften und womöglich zu dezimieren gewesen wären. Den Führer der Kadetten, den Artilleriehauptmann Franz Mildner, ließ er noch am selben Tag ermorden, ohne ihn vor das Revolutionstribunal gestellt zu haben. Béla Kun hatte Blut geleckt: er biß sich so lange aus Furcht und Wut in die Lippen, bis er auf den Geschmack des Blutvergießens gekommen war. Er hatte Blut gerochen und wollte jetzt mehr Blut sehen. Er wollte ein noch nie dagewesenes Exempel statuieren.
Auf der Andrássy-Straße, wo der große Ring die schöne lange Straße kreuzt, gibt es einen der verkehrsreichsten Punkte der ungarischen Hauptstadt, den Oktogon-Platz. Béla Kuns Kolportagephantasie hatte sich das furchtbare Exempel so vorgestellt, daß alle Verhafteten vom 24. Juni, die Führer der Artilleristen, der Kadettenschüler und auch die Zöglinge selbst in aller Öffentlichkeit auf den Kandelabern dieses Platzes erhängt werden und die Leichen der Erhängten vierundzwanzig Stunden lang als abschreckendes Beispiel in der Luft baumeln sollten. In den Zeitungen waren Leitartikel unter dem Titel »Oktogonplatz« erschienen. Die bereits bis zum äußersten gemarterte Stadt hatte auch diesen Streich über sich ergehen lassen müssen. Die Nerven waren bereits überspannt worden, daher wurde auch für die mit dem Tode bedrohten Märtyrer wenig Mitleid empfunden, erschien doch der Tod als die denkbar schönste Lösung, als die Erlösung aus einer Hölle, deren Zerberus Béla Kun war.
Auch Béla Kun hatte allen Grund zur Aufregung. Während der Sowjet-Kongreß im großen Parlamentsgebäude tagte, wurden in den Sitzungssälen und in den Couloirs des Parlaments hektographierte Aufrufe verteilt, die zu einem Pogrom gegen die bolschewistischen Führer aufforderten. Es brannte bereits an allen Ecken und Enden.
»Selbst in unserer Mitte wird gehetzt! Wir kennen aber die Urheber dieser Agitation und wir werden sie alle hängen lassen! Ich habe gar keinen Grund zu leugnen, daß mein Vater Jude war, ich aber, ich bin ein Kommunist!«
Es wurde auf jede Weise versucht, die Räterepublik zu stürzen. Budapest hungerte, denn die Provinz sabotierte die Versorgung der Hauptstadt.
»Wir werden uns schon zu verteidigen wissen und wenn es nicht anders geht, werden wir uns mit Geschützen in den Dörfern Autorität und Lebensmittel verschaffen!«
Indessen tagte permanent das Revolutionstribunal. In Verhandlungen, die nicht mehr als 5 Minuten dauerten, fielen die Todesurteile. Ganz schematisch, hintereinander, so wie ein kleiner Bezirksrichter Bagatellprozesse erledigte. Und die Todesurteile sollten nachmittags am Oktogonplatz vollzogen werden. Wer half da? Niemand. Die einzige ausländische Gesandtschaft, die österreichische, stand machtlos und ohne Autorität da, der englische Marinekapitän kümmerte sich vor allem um die Internationalität der Donau, der amerikanische Bevollmächtigte wollte sich nicht in die internen Angelegenheiten eines fremden Staates einmengen.
Die Rettung erschien jedoch in der Person des italienischen Oberstleutnants Romanelli. Er hatte keine Zeit gehabt, Weisungen einzuholen, er hatte auch keine Möglichkeit, sich Hilfe aus Italien oder von der Entente zu verschaffen. Drei Offiziere und zehn Karabinieri hatte er und – eine Reitpeitsche. Die Reitpeitsche hatte genügt. Romanelli ging ins Hotel Hungaria und er erfuhr dort, daß Béla Kun noch im Parlament wäre. Romanelli blieb, wartete, mit einem kleinen Stück Papier in der Manteltasche, das als Note gedacht, aber doch keine war, sondern nur ein einfacher, strenger Brief eines entschlossenen Mannes sein sollte, der die Handlungen eines verwegenen Banditen, den er rechtzeitig durchschaut hatte, nicht länger mit ansehen wollte. Die Statuten des Maria-Theresia-Ordens enthalten die Bestimmung, daß ein Soldat, der in bedrohter Lage ohne oder gegen den Befehl handelt und dessen Handlung von Erfolg gekrönt ist, die höchste militärische Auszeichnung erhalte. Romanelli hatte sich mit seiner durch niemanden unterstützten und von niemandem vorher anbefohlenen Handlung solch einen Maria-Theresia-Orden der Menschlichkeit verdient. Der Colonello hatte nicht viel diplomatisches Spiel getrieben, nicht viel überlegt, was er in seine Note schreiben, wodurch er Béla Kun zur Zurückziehung der Todesurteile verhalten sollte, er überlegte auch nicht viel, auf welches Recht er seine Forderung stützte: in seiner kurzgefaßten Note hatte er mit der Entschlossenheit, die der richtige Moment ihm als eine Eingebung geschenkt hatte, das richtige Wort gefunden:
»Ich mache Sie mit Ihrer eigenen Person für jedes Todesurteil verantwortlich.«
Das war das Losungswort, das wurde Schicksal. Das wahre Wesen des feigen und um sein Leben zitternden Abenteurers zu erkennen, ist Romanelli geglückt. Seine Note war kurz und bündig. Er erklärte darin mit der Bestimmtheit einer Tat, die ihm im furchtbaren Augenblick als einzig richtig erschien, daß sämtliche Beteiligte der gestrigen Gegenrevolution, die sich mit der Waffe in der Hand gegen das heutige Regime aufgelehnt hatten, eigentlich politische Gegner seien, die wohl besiegt wurden, die aber nicht wie Verbrecher, sondern wie besiegte Gegner zu behandeln waren. Darauf folgte als Reim die auf nichts gestützte Drohung, die, hätte Béla Kun etwas von Diplomatie verstanden, er wie eine leere Seifenblase hätte zerstäuben können.
Béla Kun spielte den Entrüsteten, er schrie und wies die Zumutung einer Einmischung energisch zurück. Er ließ eine strenge Note verfertigen, in der er mitteilte, daß er die Einmengung des italienischen Missionschefs in die interne Angelegenheit der Räterepublik zurückweise und daß die Regierung dem Gesetze freie Bahn lasse.
Dies alles war nur Theater, das war der andere Béla Kun. Der richtige Béla Kun, der ewige kleine Kohn aus Szilagycsehi, dachte und handelte anders.
Romanelli, der dieses Theaterspiel in der drängenden Situation nicht recht goutierte, erhielt die Note Béla Kuns nach einer Stunde in seinem Hotel. Wütend fuhr er ins Sowjethaus zurück, stürzte zu Béla Kun und blieb mit ihm unter vier Augen. Er kam mit seiner Reitpeitsche, die sich wahrscheinlich damals zum ersten Male als diplomatisches Hilfsmittel bewährt hatte. Er schlug auf den Tisch und schrie Béla Kun an:
»Schreiben Sie mir keine Antwortnoten und spielen wir nicht länger Diplomatie! Merken Sie sich: Ihr Regime wird sich nicht ewig halten und Sie werden, falls Sie die Todesurteile tatsächlich vollziehen lassen, für sie mit Ihrem Leben büßen!«
Béla Kun war nicht der Mann, der nicht mit sich reden ließ. Eine Reitpeitsche, die schneidend knallte, ein energisches Wort, eine Andeutung der eigenen Verantwortlichkeit hatten ihre Wirkung getan. Béla Kun blinzelte den Colonel an, als wollte er sagen:
,,Aber mein lieber, guter Herr Oberstleutnant, regen Sie sich doch nicht auf, mit mir kann man ja reden« – er glich dem kleinen Händler, der den Bauer, der entsetzt den geforderten Preis zurückweist, nicht aus dem Laden lassen will –, »aber beruhigen Sie sich, mit mir kann man doch reden!«
Und während er Romanelli zu beschwichtigen versuchte, gab er ungarisch – das der italienische Offizier nicht verstand – die Weisung, den Hauptanführer der Gegenrevolution auf keinen Fall vor das Revolutionstribunal zu stellen, sondern ihn ohne jede weitere Verhandlung diskret »in ›Gajdes‹ zu schicken«, – der bolschewistische Apachenausdruck für den raschen und geräuschlosen Mord. Dann fing er an, dem italienischen Oberstleutnant gegenüber einen anderen Ton anzuschlagen und versprach, trotz des Widerstandes seiner Komplizen, trotz der Rachegelübde, der scharfen Note, die er vorher abgesandt hatte, die Vollziehung der Todesurteile zu verhindern. Die Matrosen mit den Monitoren seien sowieso durchgegangen, sie wurden am serbischen Ufer der Donau interniert, die Offiziere und Führer der Gegenrevolution sollten höchstens lebenslänglich – was in diesem Falle Sowjet-länglich oder Béla Kuns-Lebens-länglich bedeuten sollte – verurteilt und die armen, irregeführten Kadetten, wie er sich ausdrückte, zur richtigen Lebensauffassung erzogen und in sozialistischen Erziehungsanstalten untergebracht werden.
Mit der Ausnahme eines einzigen unglücklichen Opfers, das den blutigen Händen Béla Kuns nicht mehr entgehen konnte, wurde das Leben aller verhafteten Gegenrevolutionäre gerettet. Und all dieser unerklärliche Großmut allein infolge des richtigen Auftretens Romanellis, infolge einer Reitpeitsche, der Angst um die eigene Haut.
Nachmittags um fünf Uhr hatte sich eine unübersehbare Menschenmenge am Oktogonplatz versammelt. Eine große Abteilung berittener roter Wachleute mußte die Neugierigen zurückdrängen. Béla Kun ließ sich wenigstens die Freude an der Inszenierung seiner blutigen Freilichtaufführung nicht nehmen. Die großen Kandelaber wurden zu Galgen umgewandelt, durch die Andrássystraße fuhr ein offenes Lastauto, in dem aneinandergekettet die Gegenrevolutionäre saßen. Ein Priester stand neben ihnen, die ganze Szenerie einer Hinrichtung sollte wie ein furchtbarer Film auf der Straße abrollen. Die Neugierde der Menge, besser gesagt, ihre Furcht und Verzweiflung, stieg bis zum Siedepunkt der stummen Empörung. Das offene Lastauto fuhr daraufhin mit den zum Tode Verurteilten ins Gefängnis zurück, die berittene rote Wache zerstreute die Menge: die angekündigte Galavorstellung Béla Kuns, die entsetzlichste, die der rachelustige Feigling in seinem Schrecken so detailliert ausgearbeitet hatte, wurde »wegen unvorhergesehener Zwischenfälle« abgesagt.