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Die Arbeiterkrankenkasse war vor dem Kriege die Stätte aller nur denkbaren Kompromisse. Die Regierung ließ sie zu ansehnlicher Bedeutung anwachsen und eine große Rolle spielen, um dadurch die immer drohender werdende Bedeutung der sozialdemokratischen Partei mit den Mitteln kapitalistischer Machenschaften zu bannen. Die Krankenkassen wurden sogar unter staatlicher Aufsicht gefördert und von den Vertretern der Arbeiterschaft, also eigentlich von den Arbeitern selbst geführt. Aus dem Peterspfennig der armen und ärmsten Arbeiter und aus den ziemlich hohen Beiträgen der Arbeitgeber entstand immerhin ein ansehnliches Kapital, große Summen, Einnahmen und Ausgaben, Investitionen und Bauarbeiten, mit einem Wort: Möglichkeiten, um zwischen den Labyrinthen des Soll und Haben sich leicht verwirren, kurz, um sich ein bißchen Geld machen zu können. Die Stellungen waren selbstverständlich mit der Notwendigkeit von Defraudationen nicht gleichbedeutend. Die Arbeiterschaft hing mit großer Liebe an der Einrichtung und konnte nicht dafür, wenn hie und da die üblen Erscheinungen bourgeoiser Sitten auch bei der Krankenkasse Fuß faßten. Daß die Beamten der Krankenkassen besonders gut bezahlt wurden, daß die Positionen dort richtige Sinekuren bedeuteten, darüber setzte sich die Arbeiterschaft hinweg.
Die Korruption tobte. In der Krankenkasse saßen die Freunde und die Freundinnen, und die Freunde der Freundinnen, die Schwäger und die Onkel der Schwäger und die Schwäger der Onkel. Manus manum lavat, eine Hand wäscht die andere, – eine Handlung, welche in diesem Falle, da es sich meist um schmutzige Hände handelte, auch richtig am Platz gewesen ist.
Durch seine Opposition gegen die Zentrale der Parteileitung gelang es Béla Kun, einen Chefarzt in die Krankenkasse zu protegieren. Der Chefarzt protegierte den früher bürgerlichen Redakteur eines Kolozsvárer Blattes zum Direktor, der Direktor revanchierte sich bei dem Protektor des Chefarztes Béla Kun, Béla Kun wurde Direktor-Stellvertreter der Kolozsvárer Krankenkassa. Eine schöne Stellung mit einem festen Gehalt von ungefähr dreihundert Kronen im Monat, wenig Arbeit, ein schönes Bureau und viel Ansehen. Die Seele der örtlichen Parteibewegung, der Spengler Klein tat auch das Seinige für Béla Kun. Aus dem oppositionellen, linksstehenden Sozialisten, aus dem schonungslosen Kritiker aller Parteiübelstände, wurde der allergemäßigteste Parteibonze, dessen Stimme sanft, fast kleinlaut, dessen Sprache nun eigentlich fast schon das Schweigen wurde.
Der Widerstand des alten Krämers schmolz dahin. Der erste Frühlingswind, die schöne Stellung, und – mein Gott – die Pensionsberechtigung besiegten das harte Herz des unerbittlichen Vaters, er gab seinen Segen zur Ehe. Béla und Irene vereinten selig in einer Liebe, die die harte Probe des langen Wartens mit Erfolg bestand. In einem Jahr ist Béla Kun glücklicher Vater. Das erste Kind, ein kleines Mädchen, wird Ágnes genannt. Das Glück ist nicht vollständig, es fehlt noch der Stammhalter, eigentlich müßte es ein Sohn sein, der den Namen des Vaters stolz weiterführt. Béla Kun liebt und vergöttert dennoch das kleine Mädchen, gleich Molnárs »Liliom« würde er für seine Frau und sein Kind selbst die Sterne vom Himmel stehlen. Doch viel profaner, wie er schon ist, viel weniger romantisch, als Molnárs Liliom, greift er, der Händelfänger der welterlösenden Sozialdemokratie, der Taschendieb der progressiven Bewegung der Menschheit, nicht nach den Sternen, sondern begnügt sich mit viel bescheideneren Effekten und sucht auch keine erschütternden Motive dafür. Auch er wird zum Dieb; greift ein wenig zu tief in die Kasse und defraudiert – sehr unromantisch – bescheidene Briefmarken und etwas bares Geld dazu. Nach anderthalbjähriger Herrlichkeit verspielt Béla Kun seine schöne Position.
Die Defraudation wird entdeckt. Er müßte – die Weltgeschichte schneidet ihre zweite Grimasse, die erste machte sie, als sie Béla Kun nicht in einer ruhigen bürgerlichen Redaktion landen ließ – eigentlich ins Gefängnis. Eine Karriere wäre abgeschnitten, weitere Komplikationen wären nicht zu befürchten, der wegen Diebstahls und Defraudation abgestrafte junge Mann wäre ganz erledigt. Die Weltgeschichte, diese alte Kupplerin mit höhnischem Lächeln in den tiefen Furchen ihres alten Gesichts, läßt nicht locker, schneidet weiter Grimassen, läßt Béla Kun nicht ins Gefängnis wandern. Die Parteihierarchie tritt in Aktion, die Unannehmlichkeit muß auf gut bürgerliche Art vertuscht werden. Der sonst so heftig herbeigesehnte Apparat der Justiz darf nicht in Bewegung gesetzt, Béla Kun muß begnadigt werden. Er wird seiner Stellung verlustig, wird diskret entfernt und erhält, wie in solchen Fällen schon üblich, sogar eine ansehnliche Abfindung.