Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Polygnot

Der Maler, der Aischylos entspricht, ist Polygnot. Sein Hauptwerk war die »bunte Halle« zu Athen, die, um 450 entstanden, die Höhepunkte der hellenischen Geschichte schilderte: den Kampf des Theseus mit den Amazonen, die Eroberung Trojas und die Schlacht bei Marathon; doch schuf er noch viele andere Fresken. Dinge wie Modellierung, Helldunkel, Perspektive kannte er noch nicht, und seine Palette umfaßte nur vier Farben: Weiß, Rot, Ockergelb und Blauschwarz; seine Gestalten waren wie die aischyleischen gigantische kolorierte Zeichnungen. Er huldigte auch noch bis zu einem gewissen Grade dem Prinzip der »unechten Durchsichten«: man erblickte durch die Flüsse den Boden, durch die Gewänder den Körper. Gruppen, die sich hintereinander befinden, setzte er in Streifen übereinander, die Goethe »Stockwerke« nennt; doch gelang es ihm bereits, durch kupiertes Terrain und Überschneidungen eine Ahnung von Tiefenwirkung zu geben. Ebenso wie auf der tragischen Bühne war das Milieu bloß markiert: durch einen Baum oder Fels, ein Grasbüschel oder Röhrichtbündel, ein Stück Stadtmauer, das Ilion, ein Schiff, das die ganze griechische Flotte darstellte. Diese Versatzstücke waren reine Embleme, die bloße Mitteilung, daß hier eine Umwelt, eine Räumlichkeit vorliegt, fast vom Range einer Inschrift, eine gemalte Hieroglyphe. Umgekehrt hat die Barockmalerei das Tiefenerlebnis so stark empfunden, daß sie Gegenstände des nahen Vordergrunds im Gegensatz zu denen der Fernsicht sogar übermäßig vergrößerte, um den Blick zum perspektivischen Sehen und zur Empfindung der Landschaft geradezu zu zwingen.

Alles, was wir über Polygnot vermuten können, sind dürftige und unsichere Schlüsse aus den Schilderungen der Kunstschriftsteller und aus seiner Wirkung auf andere Künste. Die 838 Parthenonskulpturen atmen seine Technik und seinen Geist. Am stärksten aber war sein Einfluß auf die Vasenmalerei, die ihm fast ihr ganzes Repertoire an Figurenmustern und Gewandmotiven, Mienen und Gesten, Stellungen und Beziehungen und alle neuen Feinheiten der Komposition und der seelischen Schattierung verdankte. Man hat gesagt: die Vasen seien nur bleiche Mondstrahlen neben der einstigen Sonne der griechischen Malerei. Aber wenn diese Sonne auch für uns untergegangen ist, so ist diese Luna doch die Tochter ihres Lichts. Es ist dasselbe Licht und läßt noch im Abglanz die Größe und Pracht des Tagesgestirns ahnen. An Umfang und Reichtum der Konzeption müssen Polygnots Gemälde wahre Wunder gewesen sein. In ihrem Bau ähnelten sie einer aischyleischen Trilogie: ansteigend, gipfelnd, abklingend; die Schlacht von Marathon zum Beispiel zeigte den Beginn des Kampfes, die Entscheidung, die Flucht zu den Schiffen. Auch Polygnot war ein Meister der Stimmung, die er mit ebenso einfachen Mitteln erzielte wie Aischylos: durch ein Senken des Hauptes, ein Heben der Hand. Von seiner Polyxena hieß es, sie trage den ganzen Trojanischen Krieg in den Augen. Das Vasenbild Orpheus und die Thraker, das um die Mitte des fünften Jahrhunderts entstand, gibt von diesen Dingen einen gewissen Begriff. Orpheus, ganz entrückt, bezwingt durch die Macht seiner Leier vier Barbaren. Der eine blickt in tiefem Sinnen auf den Sänger, als grüble er über das Geheimnis der Musik, der zweite hat sich in leidenschaftlicher Anteilnahme vorgeneigt, der dritte lehnt sich völlig hingeschmolzen an den vierten, der in höchster Ergriffenheit die Augen schließt: vier Stufen der Reaktion und vier typische Formen der Gefühlsäußerung. Man begreift, daß Aristoteles in seiner Poetik sagen konnte: »Polygnot ist ein guter Ethograph, die Malerei des Zeuxis aber hat kein Ethos.« Das griechische Wort ethos läßt sich annähernd mit »Charakter, Temperament, Seelengehalt« übersetzen, doch 839 spielt auch schon unsere heutige moralische Bedeutung hinein. In der Kunst, dies alles wiederzugeben, scheint also Polygnot nicht wieder erreicht worden zu sein.

Hier ist der Augenblick, sich wieder einmal zum Bewußtsein zu bringen, wie verwittert, zerstückt und ruinenhaft unser Bild von der hellenischen Kultur ist. Kein Pinselstrich ist von der großen griechischen Malerei erhalten, obgleich sie offenbar die führende bildende Kunst war: bei den Autoren ist viel mehr von ihr die Rede als von der Plastik oder gar der Architektur, und überhaupt ist dies das normale Verhältnis: auch an den großen Wendepunkten der modernen Kunstgeschichte dominiert die Malerei. Wir führen zwar Namen wie Zeuxis oder Apelles gern und oft im Munde, aber sie sind für uns ebenso erlauchte wie leere Begriffe, von nicht mehr Realität als Garrick und Talma: bloße Gerüchte, Zitate, Anekdoten. Und nun muß man noch hinzunehmen, daß die Zentralkunst, die alles durchdrang und beseelte: Malerei und Plastik, Poesie und Leben, die Musik war. Erst an dem, was nicht da ist, kann man die Höhe und Fülle der griechischen Kultur ermessen. Man stelle sich vor, daß kein Ton von Mozart, Beethoven, Weber erhalten wäre: die ganze Tiefendimension des Rokoko, des Empire, des Biedermeier würde fehlen, sie würden uns wie auf eine Fläche projiziert erscheinen.


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