Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Die ionische Stadt

Der kulturelle Schwerpunkt lag aber während der ganzen Kolonialzeit noch im Osten, bei den Ioniern. Das Leben und Treiben einer solchen kleinasiatischen Griechenstadt war in mancher Hinsicht bunter und prächtiger als das der späteren »klassischen« Zeit. Da sah man durch die staubigen Straßen, die mit ihren Gehöften, Fruchtgärten, offenen Handwerkerbuden und leichten Lehmhäusern noch recht ländlich anmuteten, alle Welt nach der Agora drängen, dem »Sammelplatz«, wo alles 687 Gute und Böse geschah, oder nach dem Hafen, wo es stets zu gaffen gab: die Männer mit geflochtenem stilisiertem Bart, die Oberlippe rasiert, die Zöpfe mit goldenen Zikaden festgesteckt, in grün und rot gestickte, starr ausgesteifte Gewänder gehüllt, mit Armbändern, Halsketten und Orden geschmückt (denn diese Bedeutung hatten die verschiedenartigen Kränze); die Stutzer mit salbenduftenden Korkzieherlocken, langen, schwer nachschleifenden Schleppen, mannshohen blumenumwundenen Spazierstöcken und Ohrringen; die Frauen mit Fußspangen und vergoldeten Schnabelschuhen, mächtigem Chignon und Diadem oder bebänderter Kegelhaube, Ärmeljäckchen und zierlich gerafftem Rock, Schleier und Sonnenschirm (denn das Schönheitsideal war die schneeweiße Haut), am Gürtel den eiförmigen gestielten Federfächer und den metallenen Handspiegel mit der elfenbeinernen Aphrodite am Griff, das Antlitz mit Bleiweiß und Mennig gemalt; dazwischen bronzebraune Ägypter und kupferrote Phoiniker, Phrygier in Hosen und Zipfelmützen, Handwerker in Pelzkappe und ärmellosem grobem Wollgewand, Epheben in Reih und Glied, den Sturmhut am Riemen, Knaben mit Buchrollen im Henkelkorb, vom Pädagogen zur Schule geleitet, Kinder, mit Tonpferden und Lederschiffchen, Reifen und Kreiseln umhertollend, reiche Protzen in prunkvollen Sänften, von Schmarotzern umsummt, gazellenschlanke Herrenreiter in flatternder weißer Chlamys und modischen hohen Stiefeln auf blonden, kunstvoll frisierten Pferden aus Kyrene, weihrauchumdampfte Opferprozessionen mit riesigen Dreifüßen, Lorbeerbäumen, Götterbildern und bekränzten goldgehörnten Stieren, flötenumrauschte Leichenzüge schwarzgekleideter Trauergäste auf Kriegswagen, den hochaufgebahrten rotverhüllten Toten mit Grabspenden und Gedächtnisamphoren zur Beerdigung oder Einäscherung geleitend. Nimmt man dazu noch die an allen Ecken lungernden Schwärme der Gaukler und Wahrsager, Bettler und Wasserträger, 688 Krämer und Kuppler, so wird man sich das Bild in noch ziemlich stark orientalischen Farben vorstellen müssen.


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