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Indes hat es die ganze gnostische Bewegung nirgends zu mehr gebracht als zu verstreuten unterirdischen Gedankenkeimen, halben Ahnungen und widerstreitenden Aperçus. Zu Licht und Frucht sind sie erst im Geiste Marcions gelangt, eines religiösen Genies von großartiger Einfachheit, profunder Frömmigkeit und rasanter Denkschärfe, der aber seit vielen Jahrhunderten für die Nachwelt kaum einen Namen bedeutet. Marcion ist für das religiöse Bewußtsein der Gegenwart verschollen. Für die meisten Historiker der christlichen Kirche ist er »ein Gnostiker«. Er war aber weder dieses, vielmehr ein abgesagter Gegner der gnostischen Sekten: ihres buntgewürfelten Synkretismus, ihrer geheimniskrämerischen Esoterik, ihrer gewalttätigen allegorischen Methoden, noch war er überhaupt einer unter anderen, sondern eine einmalige Erscheinung von unwiederholbarer Prägnanz, die hart bis an die Grenze der Bizarrerie und Monomanie streift. Alle Mysterienweisheit, ja alle Philosophie gilt ihm als »leerer Betrug«, und er verhält sich zu den Gnostikern ähnlich wie Sokrates zu den Sophisten, dem ja auch das paradoxe Schicksal widerfuhr, daß er von seinen Zeitgenossen gerade jener 22 Schule zugerechnet wurde, die er sein Leben lang aufs heftigste bekämpfte. Er war, um es mit einem Worte zu sagen, der größte Ketzer, der jemals aus dem Christentum hervorgegangen ist. Adolf von Harnack erklärt, keine zweite religiöse Persönlichkeit nach Paulus und vor Augustin könne an Bedeutung mit Marcion rivalisieren, und in der Tat bezeichnen diese drei die gewichtigsten Marksteine in der Entwicklung der katholischen Kirche: der größte Apostel, der größte Kirchenvater und der größte Häretiker. Bei Polykarp heißt er der Erstgeborene des Satans, bei Tertullian »antichristus Marcion«, Origenes hingegen rühmt ihm feurigen Geist und göttliche Gaben nach, ohne die er eine solche Häresie nie hätte stiften können, und Clemens Alexandrinus nennt ihn einen Giganten und Theomachen.
Er wurde um das Jahr 85 in Sinope am Pontus geboren, als Sohn des dortigen Bischofs, der ihn wegen der Irrlehren, mit denen er schon früh hervortrat, selbst exkommunizierte: ein Geist von diesem diamantenen Ernst und Diogenes, der Buffo der griechischen Philosophie, in dem diese wie in einem Satyrspiel sich selbst den Epilog spricht, waren Söhne derselben Stadt. Marcion begab sich zunächst nach Kleinasien, wo seine Doktrin zurückgewiesen wurde; dasselbe widerfuhr ihm in Rom: die dortige Gemeinde verdammte seine Thesen und schloß ihn aus. Damals war Marcion schon fast sechzig Jahre alt; der Tag seines Bruchs mit Rom wurde von der marcionitischen Kirche als Stiftungsfest gefeiert, ähnlich wie der Wittenberger Thesenanschlag von der lutherischen; er fiel in den Juli des Jahres 144. Ort und Zeit seines Todes sind unbekannt.